Ulf Stolterfoht: Wurlitzer Jukebox Lyric FL
Michael Braun
Sprache in einem unwahrscheinlichen Zustand
Ulf Stolterfohts Münchner Rede zur Poesie
Unser Glück, wenn es sich sekundenweise noch einstellt, kommt aus Tonspuren. Die Kindheit und Jugend der, sagen wir, zwischen 1945 und 1965 Geborenen ist von Aufzeichnungsmedien und Tonapparaturen geprägt, in denen die Gefühlsströme dieser Generationen gespeichert sind. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Jukebox, eine Ton-Maschine, die unglaubliche Euphorien zu mobilisieren vermochte. Es gehört zum Wesen der Jukebox, so beschrieb es einst Peter Handke, dass nach den verheißungsvollen Geräuschen des „Suchsurrens“, dem „Schnappen“, „Einrasten“ und „Knistern“ ein Urgeräusch erklingt, „aus der Tiefe“ wird eine Musik vernehmbar, die uns Erfahrungen der Entgrenzung und ekstatischen Weltberührung ermöglicht.
Von solchen Erfahrungen mit den Urgeräuschen der Dichtung, die sich wie die Tonspuren der Pop-Musik in den Körper einschreiben, handelte die Münchner Rede zur Poesie, die Ulf Stolterfoht am 11. November 2015 im Lyrik-Kabinett gehalten hat. In seiner für ihn typischen Rhetorik des charmanten Understatements gab Stolterfoht vor, auf eine Systematisierung seines poetologischen Wissens zu verzichten und stellte sich stattdessen als „Experte für Euphorie“ vor, der seine Glückserfahrungen beim Lesen schwieriger, ja sehr schwieriger Gedichte in enthusiasmierten Kommentaren preisgibt. Seit vielen Jahren ist Stolterfoht der kundigste Prophet und Exeget der experimentellen Lyrik, einer Form der Dichtung, die mit großer Leidenschaft alle nur erdenklichen Spielarten der Kultivierung binnensprachlicher Abenteuer und Evidenzen durchprobiert. „Experimentelle Lyrik“, so hat es Stolterfoht in seinem wegweisenden Essay in der Zeitschrift „Bella triste“ (Heft 17, 2007) formuliert, ist „eine Form >realisierter Freiheit< (Ernst Jandl), die aus sich selbst heraus jeden methodischen Zwang zurückweisen muss….nur darf man dabei nicht in den Fehler verfallen, den meta-sprachlichen Anteil eines Gedichtes für das eigentliche Sprechen zu halten, ein Sprechen höherer Ordnung, für das die referentielle und semantische Problematik aufgehoben wäre.“ Dieses Mantra der Experimentalpoesie hat der Dichter in seinen diversen Rollen als Dozent (am Literaturinstitut in Leipzig), als Verleger („Brueterich Press“), als Initiator der „Lyrikknappschaft Schöneberg“ und als Diskurs-Anstifter auf diversen Portalen und Foren („Timber. Eine kollektive Poetologie“) immer weiter verfeinert. Und es fehlt auch nicht an einer genuin musikalischen Initiationsszene, die Stolterfoht in einer seiner Selbstbeschreibungen (für die Zeitschrift „Lose Blätter“) einem dankbaren Publikum vorgetragen hat. So hat er als Schlüsselszene ein Jazzfestival am Niederrhein beschrieben. An den Pfingsttagen des Jahres 1983, so will es die so schöne wie wahre Legende, pilgerte der junge Ulf Stolterfoht aus Stuttgart mit vielen anderen Jazzbegeisterten nach Moers, in das Mekka der improvisierten Musik und hatte dort eine Art Offenbarungserlebnis. Im Auftritt einer Jazz-Combo, der Skeleton Crew, entdeckte er dort das Modell einer unerhörten Freiheit. Denn in der entfesselten Tonkunst dieses Duos erspürte er die Möglichkeit künstlerischer Autonomie. Von den anarchischen Kompositionen der Tonkünstler nahm er dann die Lizenz für eine eigene poetische Freiheit – die Freiheit der spielerischen Wort- und Satz-bildung. Als musikalischen Spiritus rector in seiner Münchner Rede hat Stolterfoht den Pop-Archäologen Diedrich Diederichsen und dessen 2014 erschienenes opus magnum „Über Pop-Musik“ (Kiepenheuer & Witsch) adoptiert. Diverse Szenen der Euphorisierung und Beglückung, die Diederichsen am Beispiel des entfesselten Gitarristen Johnny Winter ausführt, überträgt Stolterfoht auf seine Erfahrungen bei der Lektüre seiner dichterischen Schlüsselwerke. Als experimentelle Urszene darf dabei seine Begegnung mit Oskar Pastiors Gedichtband „Wechselbalg“ gelten; eine Leseerfahrung, die offenbar das Leben des damals 18jährigen Stolterfoht von Grund auf änderte. Die Begegnung mit Pastiors „Wechselbälgern“ wurde zu jenem Akt der Befreiung, der am Anfang jeder künstlerischen Existenz steht: „Die Sensation dieser Texte, ihre unerhörte Freiheit, lag natürlich in ihrer Unverständlichkeit. Denn Unverständlichkeit ist etwas ganz anderes als Schwerverständlichkeit …. Wenn das schwer verständliche Gedicht das aristokratische, elitäre und hierarchische Gedicht ist, denn genau so hatte ich diese Gedichte im Deutschunterricht erlebt – der nebenbei ein sehr guter war -, dann waren diese Gedichte demokratisch und unhierarchisch. Dass ich sie tatsächlich auch für nicht elitär halte, genau darum geht es ja in dieser Rede.“ Und dann folgt eine Reihe von in diesem Sinne vorbildhaft unverständlichen Gedichten aus seiner privaten Text-Jukebox, die Stolterfoht als seine Lieblings-Evergreens zitiert und kommentiert. Als seine fantastischsten Beispiele einer „grenzenlosen Freiheit“ des Gedichts können hierbei die Texte von Ernst Herbeck, Dieter Roth, Gunter Falk und Helmut Heißenbüttel gelten, die von unterschiedlichsten Voraussetzungen her geschrieben sind und in unterschiedlichste Richtungen führen. Aber über eine gemeinsames Fundament verfügen und von einer sehr ähnlichen poetischen Motorik angetrieben werden: Ihre Handlung und ihr Thema ist die Sprache. In diversen Verfahren der Reihung, Häufung und Wiederholung, der Permutation und eigensinnigen Kombinatorik der Wörter zelebrieren sie alle „Sprache in einem unwahrscheinlichen Zustand“ (das Lieblingszitat Ulf Stolterfohts), wie sie Max Bense der Literatur zugeschrieben hat. Zu den aufregendsten Passagen in Stolterfohts Rede gehören sicher die Ausführungen zu den Gedichten der absoluten Grenzgänger Ernst Herbeck und Gunter Falk. Ernst Herbeck war viele Jahre ein schizophrener Patient der niederösterreichischen Heil- und Pflegeanstalt Gugging und schrieb unter dem Pseudonym Alexander Herbrich Gedichte, zu denen ihn sein Arzt Leo Navratil ermuntert hatte. Wenn allerdings ein als schizophren diagnostizierter Mensch ohne literarische Vorbildung ganz eigenständige „experimentelle Gedichte“ zu schreiben vermag, dann müssen nicht nur die herkömmlichen Geniebegriffe, sondern auch die traditionellen Produktionsästhetiken auf ihre Gültigkeit befragt werden. In Stolterfohts Münchner Rede findet man dazu hilfreiche Argumente und schöne Beispiele eines unerhörten lyrischen Extremismus. Gänzlich den Boden unter den Traditions-Füßen verliert man bei der Lektüre des Gedichts von Gunter Falk:
Alle Rübe
(der Text ist ein Geschenk von W. Bauer)
Dort liegen drei Rüben. Schau. Dort liegen drei Rüben.
Die eine Rübe heißt Falk [Bauer]. Rechts um. Wir gehen ins
Rübenkino. Was spielt man im Rübenkino? Einen Rübenfilm.
Mit Rübenschauspielern und Rübenstarlets. Die Damen im
Rübenbikini und die Herren in der bekannten Rübenbadehose.
Falks [Bauers] Rübenfilme kommen immer mehr in Rübe.
Dort liegen drei Rüben. Schau. Liegen dort nicht drei Rüben?
Und wo?
Mitten auf dem Rübenasphalt liegen drei Rübenzettel.
Was steht auf diesen sogenannten Rübenzetteln? Nichts.
Hüben und Rüben.
Hallo. Hier Rübe Wer dort?
Dieses herrlich wortnärrische Gedicht des Grazer Soziologen, Avantgardisten und Wirtshausanarchisten Gunter Falk (1942-1983) ist wohl der großartigste Fund in Stolterfohts Rede. Gemeinsam mit dem Dramatiker Wolfgang Bauer (1941-2005), mit dem er zahllose Nächte durchzechte, gründete Falk 1965 die Bewegung „Happy Art & Attitude“ und entwickelte das sogenannte „Free Schach“, eine improvisierte Variante des klassischen Schachspiels, das auf überfüllten Cafétischen mit Gläsern, Zigarettenpackungen und anderen Alltagsobjekten ausgetragen wurde. Die Maxime dieses Spiels war wie bei allen literarischen Aktionen Falks: Konsequentes Dekonstruieren aller Regelwerke. Im „Rübe“-Gedicht, eine poetische Kollaboration mit Wolfgang Bauer, gelingt Falk nun die schöne Verwandlung der Welt durch die Totaltransformation alles Realen in eine Rübe. Durch die massive Aufladung und Koppelung aller Wörter mit dem Nomen „Rübe“ vollzieht sich gleichzeitig dessen semantische Entleerung. Die von Ulf Stolterfoht skeptisch befragte Pointe, warum auf den „Rübenzetteln“ ausgerechnet „Nichts“ steht, (wobei unklar bleibt, ob hier ein ontologisches oder ein rein buchstaben-physisches „Nichts“ gemeint sein könnte) führt noch in eine andere, überraschende Richtung. Nämlich zu den „schlechten Wörtern“ Ilse Aichingers, diesem 1976 veröffentlichten grandiosen Band mit Prosagedichten. Stolterfohts Münchner Rede ist in diesem Sinne auch als Aufforderung zu verstehen, diese Suchbewegung nach weiteren poetischen Realisationen grenzenloser poetischer Freiheit fortzusetzen. Und Querverbindungen auch zwischen poetischen Traditionen zu erkennen, die nach gängiger literaturhistorischer Auffassung unvereinbar scheinen. Wie Gunter Falk mobilisierte nämlich auch die unter ganz anderen Voraussetzungen schreibende Ilse Aichinger ihren Aufstand („Insurrektion“) gegen die herrschende Sprachordnung mithilfe eines „Rübe“-Kompositums: „Da flog das Wort auf, sinnlos in den Rübenhimmel.“
Ulf Stolterfoht: Wurlitzer Jukebox Lyric FL. Über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte. Stiftung Lyrik Kabinett, München 2015. 40 Seiten, 12 Euro.