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Tschurilins Wüste

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Tschurilins Wüste



Ein Gedicht aus dem Jahre 1918. Es stammt aus der Feder des russischen Schauspielers und Dichters Tichon Tschurilin. Er gehört zu den halbvergessenen Dichtern, die während der Sowjetzeit fast für immer verschwunden sind, und jetzt langsam wiederentdeckt werden. Den Begriff „halbvergessen“ entnahm ich einem Artikel von Nikolai Titow über den Dichter, der am 20. Oktober 2012 auf der Seite http://zarya-efremov.ru erschienen ist.

Die Petersburger Dichter Oleg Jurjew und Igor Bulatovsky hatten mich vorher unabhängig voneinander auf Tschurilin aufmerksam gemacht, wahrscheinlich deshalb habe ich ihn eine Zeitlang für einen Petersburger gehalten. So etwas passiert mir ständig – zum Beispiel war ich mehrere Monate der festen Überzeugung, Elke Erb, die im Hunsrück geboren wurde, stamme aus Chemnitz. Tschurilins Gedichte sind kurioserweise in einem spanischen Verlag neu auf Russisch erschienen.

Die halbvergessenen russischen Dichter, sind Künstlerinnen und Künstler, die (wie es scheint) einen unerschöpflichen Fundus darstellen; ein Ausdruck der überreichen Dichtung Russlands zu Beginn des letzten Jahrhunderts.

Tichon Wassiljewitsch Tschurilin (1885-1946) wurde als Sohn eines jüdischen Apothekers in der russischen Stadt Lebedjan geboren. Mit 19 Jahren begann er Gedichte zu schreiben. Er arbeitete als Schauspieler am Kammer Theater Moskau,¹ lebte in Moskau, Charkow, und auf der Krim (wo er sich kommunistisch-anarchistischen Untergrund anschloss). Als Dichter debütierte er im Jahre 1908. 1910 bis 1912 wurde er zum ersten Mal in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt. Tschrilin war an Schizophrenie erkrankt und litt an Depressionen.

Im Jahr 1915 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband unter dem Titel Весна после смерти (Frühling nach dem Tod). Das Buch, das  mit Lithografien Natalja Gontscharowas ausgestattet war, wurde von Marina Zwetajewa euphorisch begrüßt. Gontscharowa hat es geschafft, wie natürlich auch Zwetajewa, im kulturellen Gedächtnis verankert und auch sichtbar zu bleiben. Arbeiten von ihr zierten auch die Cover der Zwetajewa-Bücher, die in den Neunzigerjahren beim Leipziger Reclamverlag erschienen. Aber wahrscheinlich waren das schon Wiederentdeckungen, die mit der Perestroika in Verbindung zu bringen sind.


Im Kontext der futuristischen Vereinigung Liren veröffentlichte Tichon Tschurilin 1919/20 einen zweiten Gedichtband und einen Roman. In den zwanziger und dreißiger Jahren hielten ihn seine Krankheiten in Schach und er verbrachte lange Zeiten in verschiedenen Kliniken. Dennoch entstand unter dem Einfluss Majakowskis ein dritter Gedichtband (Gedichte Tichon Tschurilins) der vor der eigentlichen Veröffentlichung (1940) beschlagnahmt wurde.

Am folgenden Gedicht Die Wüste interessierte mich vor allem die klangliche Gestalt. Und natürlich der futuristische Gestus. Ich habe mehrere Übersetzungsvarianten angefertigt, um ihr auf die Schliche zu kommen. Die letzte ist eine lautliche, die aber nicht auf wissenschaftliche Transkriptionsregeln zurückgreift.

Des Weiteren denke ich, dass man die Varianten weiter treiben könnte, fast bis ins Unendliche hinein, und in diesem Wald aus Übersetzungen würde das ermutigende Original hindurch klingen.


Тихон Чурилин

Пустыня

Монах да мох да холм да хомут.
Тому да в омут ут_о_мой,
Утонуть, - а то ну ото смут -
Уд _о_ морь!
Тому тонуть в песке вблизке.
И с кем говорить? с рыбой?
Вино иное йнеить в виске -
А гол с голубой глыбой ?
Обол лобовой, Бог с тобой,
   –   Волной вольну голубой!
   –   
1918



Die Wüste


Mönch ja Moos ja Höhe ja Humus
(darum) ja herunter und her.
Sinken, – bis hier die Zuordnung ruht
Ruh_ort_o_mor.
Dahin treibe auf Treibsand.
Und mit wem du auch sprichst? Mit Fisch?
Wein weint weiter im Whisky -
und das Tor mit blauendem Knödel?
Gnade mir vor, Gott vertrau.
Welle wallendes Blau.

Variante A
eine Transkripton, denn die klangliche Qualität ist nicht zu übersetzen

Pustuinja

monach da moch da cholm da chomut
tomu da f omut ut moi
utnutch, - a to nu oto smut -
Ud _o_mor!
Tomu tonutch f peskje bliskje.
I s kjem goworitch? S ruiboi?
Vino inoe ineitch f wiskje -
A gol s goloboi gluiboi ?
Obol lobowoi, bog s toboi,
- Wolnoi wolny goluboi!

Variante:


Wüste


Mönch ja Moos und Höhe und Humus
Darum, ja herunter und her.
Sinken, – bis hier die Zuordnung ruht
Ruh_ort_o_meer!
Darum trifte auf Treibsand.
Und mit wem du auch sprichst? Mit dem Fisch?
Wein weint weiter die Stirn -
gegen das Tor mit blauendem Kehlkopf?
Gnade mir vor, Gott vertrau.
Welle wallendes Blau


¹
Das Moskauer Kammertheater war jene legendäre Bühne, über die der nicht minder legendäre Theatermann Alexander Tairow schrieb: Wer zählt die schlaflosen Nächte, die Tage voller Hoffnung und Verzweiflung, die unerwarteten Schwierigkeiten, die fast wahnwitzigen Projekte, die gleich phantastischen Luftschlössern entstanden und in der bestäubenden Frühlingsluft der teilnahmslosen Stadt versanken. (Alexander Tairow: Das entfesselte Theater. Leipzig 1923/1980)

Jan Kuhlbrodt


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