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Tristan Marquardt: Zur prekären Lage der Lyrikkritik

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Tristan Marquardt

Zur prekären Lage der Lyrikkritik



Vor wenigen Wochen startete der S. Fischer Verlag sein Projekt „Hundertvierzehn Gedichte“, eine Online-Anthologie, bei der die Texte von einigen Kritiker*innen und den Beitragenden selbst kommentiert werden können. Diese Gelegenheit wurde von Beginn an rege genutzt. Es haben sich zu mehreren Gedichten produktive und teils kontroverse Diskussionen ergeben, die ausgehend vom Text wichtige Fragen heutiger Lyrikproduktion berühren. Sie sind versprengt in der Unübersichtlichkeit des Blogs. Sich mit viel Geduld dennoch einen Weg zu ihnen zu bahnen, lohnt sich, weil hier mitunter ein kritisches Bemühen um Texte sichtbar wird, das nicht selbstverständlich ist. Kaum jemand, der sich nicht ohnehin schon brennend für Gedichte interessiert, wird indes genug Interessensvorschuss mitbringen, um das zu tun. Die Zugänge, die hier gelegt werden, werden höchstwahrscheinlich in erster Linie von Kolleg*innen produziert und rezipiert.

Diese Misslage ist typisch für den öffentlichen kritischen Umgang mit Gedichten. Wer ihn aufmerksam verfolgt, wird unschwer feststellen können, dass sich die Lyrikkritik in einem beklagenswerten Zustand befindet. Ihre Verstreutheit, thematische Kontingenz und Qualität stehen in krassem Widerspruch zur kaum zu verkennenden Produktivität und Vielfalt der Gegenwartslyrik selbst. Weder kann sie abbilden, was sich in der Lyriklandschaft zurzeit alles tut, noch bewegt sie sich – bis auf einige Ausnahmen – inhaltlich auf ihrem Niveau. Ich sehe folgende Hauptprobleme:

- mit Blick auf das Feuilleton: Zwar steigt die Anzahl an Rezensionen zu Lyrikbänden in den Feuilletons zurzeit erfreulicherweise wieder, doch ist sie noch immer so überschaubar, dass das Besprochene weder repräsentativ wäre, noch gefeit vor Willkür in der Auswahl. Dass etwa mein Debüt in der FAZ besprochen wurde, die Debüts vieler Kolleg*innen aber nicht, ist Zufall. Prinzipiell gilt, dass kaum eine Hand voll aktiver Rezensent*innen sich mit der neuen Lyrik so gut auskennt wie die Mehrzahl der Lyriker*innen selbst. Das erklärt auch die zurzeit regelmäßig erscheinenden Gesamtübersichten, in denen die Zeitungen sich und den Leser*innen die ‚Lage der Lyrik’ zu erschließen suchen.
¹ So sehr ich mich über diese Artikel als Anerkennung der Umtriebigkeit der Lyrik grundsätzlich freue, so kritisch sehe ich sie auf lange Sicht: Solange immer nur in toto über die Lyrik geredet wird, bleibt der fatale Eindruck einer beschaulichen Subgattung bestehen, die schon dankbar zu sein hat, wenn sie überhaupt einmal Aufmerksamkeit bekommt. Zudem können solche Übersichtsdarstellungen die auffällige Heterogenität der Gegenwartslyrik nur verkennen. Das, was zurzeit und schon seit Jahren alles passiert, ist nicht mehr übersichtlich, und deshalb ist die differenzierte Betrachtung einzelner Positionen und Publikationen alternativlos. Nur so kann auch dem Mythos von der ‚Unzugänglichkeit der Gedichte’ effektiv entgegen gewirkt werden: Während in Besprechungen bildender Kunst nie die Rede davon wäre, dass sie ‚schwer verständlich’ oder ‚zu abstrakt’ sei, geistert diese Warnung nach wie vor regelmäßig durch Gedichtband-Rezensionen.² Lyrik ist Sprach-Kunst, Arbeit am Wort, und es steht dem Umstand sachlich nichts im Wege, ihr als solcher mit derselben Ernsthaftigkeit und vor allem Selbstverständlichkeit zu begegnen wie der bildenden Kunst.

- mit Blick auf das Internet: Ebenso wie mit der Gründung der Indie-Verlage wichtige alternative Publikationsorte für Gedichte entstanden sind, gibt es im Netz längst verdienstvolle Orte für Lyrikkritik.
³ Dort schreiben zumeist Lyriker*innen über Lyriker*innen. Ohne in Abrede stellen zu wollen, dass unter ihnen gute Rezensent*innen sind, halte ich diesen Umstand für problematisch. Erstens bleibt die ernüchternde Erkenntnis, dass es auch in der freien Szene kaum mehr unabhängige Rezensent*innen gibt als im Feuilleton. Zweitens widerspricht dieser Umstand deshalb zurecht der Ethik jeder Journalismusschule, weil die Art der Bewertung allzu häufig dem Bekanntheitsgrad von Rezensent*in und Autor*in entspricht. Zwei aktuelle Beispiele: 1. Wenn mein sehr geschätzter Münchner Kollege Armin Steigenberger über seinen guten Freund Dominik Dombrowski schreibt, überrascht es nicht, dass die Kritik positiv ausfällt. Das ist kein Vorwurf an Steigenberger, der in sachlicher und sympathischer Weise geschrieben hat, was er vom Buch hält. Das Problematische ist, dass nach den null bis zwei weiteren zu erwartenden Rezensionen zu Dombrowskis Buch 33 bis 100 Prozent der öffentlichen Kritik aus seinem eigenen Freundeskreis stammen wird. 2. Konstantin Ames’ Verriss von „Lyrik von Jetzt 3“ ist verdienstvoll, weil er als erster Rezensent ausführlich und kritisch auf einzelne Positionen eingegangen ist. Seine positiven Gegenbeispiele führt er aus einer dezidiert nicht als subjektiv markierten Perspektive an. Gerade deshalb werden sie den Beigeschmack nicht los, dass sich darunter – unvermeidbar – mehrere Freund*innen des Rezensenten befinden. Die besonders hervorgehobene Dagmara Kraus etwa schrieb ihren wundervollen Text „die sie-ameise“ als Hochzeitsgedicht auf Konstantin Ames.  Auch, dass Ames als interessanteres Buch den unbedingt lesenswerten Sammelband „Metonymie“ empfiehlt, den sein Ex-Kommilitone und Freund Norbert Lange herausgegeben hat, ist strukturanalog dazu, dass Michael Krüger als Jurymitglied gern Hanser-Autoren bepreist.

Zu solchen Verflechtungen kommt hinzu, dass ein gewichtiger Teil der im Internet Rezensierenden keine journalistische Ausbildung oder Erfahrung hat, und das Niveau auf den Online-Portalen entsprechend labil ist. Das Angebot an zu rezensierenden Büchern ist auch hier größer als die Nachfrage, eine Kritik zu schreiben. Man muss dankbar sein für erfahrene Rezensenten wie Jan Kuhlbrodt, die unermüdlich Besprechung nach Besprechung verfassen. Doch ersetzt auch dieser markierte Subjektivismus eines weiteren Kollegen mein Bedürfnis nach unabhängigerer Kritik nicht.

Während in den Feuilletons in der Regel fehlender Sachverstand und/oder fehlendes Interesse vorherrschen, leidet die Lyrikkritik im Internet auf der einen Seite unter mangelnder journalistischer Kompetenz und auf der anderen unter einer zu großen Nähe von Kritiker*innen und Kritisierten. In Zeitschriften, die in anderen Bereichen der wichtigste Ort für Kritik sind, findet sie nahezu gar nicht statt. Das Resultat ist nicht nur ein Mangel an erhellenden Rezensionen. Es ist, noch schlimmer, auch ein Mangel an Information. Die Kritik als der genuine Ort, um sich über Neuerscheinungen einen Überblick zu verschaffen, informiert über vieles unzureichend bis gar nicht; tolle Bücher bleiben nicht selten unentdeckt, da sie weder im Buchladen stehen, noch angemessene öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Das ist angesichts der steigenden allgemeinen Resonanz für Lyrik, durch Preise, bei Lesungen und Festivals, ein unhaltbarer Zustand. Ihm entgegen zu wirken, muss vermehrt zum zentralen Anliegen der institutionellen und unabhängigen Lyrikvermittlung werden.

Es gilt, Veränderungen in zwei Bereichen herbeizuführen: bei Art und Fokus von Lyrik-Rezensionen sowie im Hinblick auf eine Förderung der Kritikproduktion.

Zu Erstem: Was wir brauchen, ist, so glaube ich, eine Kritik, die sich als anspruchsvolle Dienstleistung im Wortsinn versteht. In den verschiedenen mir bekannten privaten Kreisen, in denen über Texte diskutiert wird, ist es erprobte Methode, als Basis jeder Kritik ein Bemühen darum voranzustellen, textnah zu ermitteln, was die Ansprüche sind, die ein Gedicht oder eine Gedichtsammlung an sich selbst stellt: welcher Poetologie sie sich verpflichten, was sie über ihre Notwendigkeit sagen, da zu sein.
Ein solches Bemühen findet sich etwa auf hundertvierzehn.de, zwangsweise unsystematisch, immer wieder. Es ist gleichsam Kontextualisierung und Lektüre-Hilfe, ohne schon Bewertung sein zu müssen. Die Kritik selbst kann in der Folge induktiv aus der Beobachtung hervorgehen, ob die Texte ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden. Die zweifelsohne zentrale Frage, welche ‚Relevanz’ sie haben, stellt sich meiner Ansicht nach erst darauf aufbauend. Sie hängt am meisten von subjektiven Standpunkten ab, und ihre Beantwortung geht nach wie vor zu häufig mit einer Normativität einher, die verkennt, dass die Pluralität der gegenwärtigen Lyrik in einer immer pluraleren Gesellschaft auch von Eigenwert ist. Besprechungen, die sich genauso als Vermittlung wie als Kritik verstünden, wären ein großer Dienst an der Leser*innenschaft, weil sie das Interesse an Gedichten nicht schon voraussetzen, sondern zuallererst fördern.

Zu Zweitem: Das sicherlich größte Desiderat sind neue, professionellere Orte für Lyrikkritik sowie mehr unabhängige und besser ausgebildete Rezensent*innen. Das ist angesichts der prekären Lage der Lyrikförderung schwer zu bewerkstelligen, aber nicht unmachbar. Denn in den vorhandenen Fördertöpfen und -institutionen für Lyrik spielen Rezensionen bisher keine Rolle. Die institutionelle Wertschätzung von Lyrikkritik ist minimal. Hier gilt es, dezidiert darauf aufmerksam zu machen, dass Projekte zur Lyrikförderung in Zukunft dringend auch diesen Bereich zu berücksichtigen haben. Die finanzielle Ermöglichung einer redaktionell betreuten Rezensions-Plattform etwa, die weder auf das Privatvermögen einzelner Begeisterter noch auf die Bereitschaft der Rezensierenden, für Geringstbeträge zu arbeiten, angewiesen ist, wäre von unschätzbarem Wert. Sie hätte mit Garantie positive Folgeeffekte für den Bücherverkauf und das generelle Interesse an den Autor*innen. Sie wäre Förderung in mehrfacher Hinsicht und zwar teuer, aber von vergleichbarem Nutzen wie das unverzichtbare Gedicht-Archiv lyrikline.org.

Des Weiteren ist auch bei den Zeitschriften ein Umdenken angebracht. Im Bereich der elektronischen Musik sind flächendeckende Kurzrezensionen zu Neuerscheinungen in den einschlägigen Magazinen gang und gäbe. Die dortige Wertschätzung von Kritik bei gegebener Funktionalität und Resonanz macht es leicht nachvollziehbar, warum etwa Kristoffer Cornils, der einige der besten Lyrikrezensionen in den letzten Jahren geschrieben hat, seinen Fokus mehrheitlich dorthin verlagert hat. Würde man demgegenüber als Zeitschrift bspw. Kulturjournalismus-Student*innen anbieten, sich mit Kurzrezensionen in Lyrikkritik auszuprobieren, wären gleichzeitig potenziell auch zukünftige Rezensent*innen gewonnen.

Es ist an der Zeit, dass von Seiten der Institutionen und der freien Szene weitere Vorschläge und Konzepte wie diese erarbeitet und umgesetzt werden. Denn: Ja, es tut sich was in der Lyrik. Die Szene wird immer umtriebiger, die Anzahl an Veranstaltungen und ihr Publikum wachsen beständig, reihenweise gute Gedichte werden veröffentlicht. Diese seit Längerem anhaltende Entwicklung hat jedoch noch viel zu wenig auf den Bereich der Kritik übergegriffen. Aktuell kann sie weder quantitativ noch qualitativ mit der Lyrikproduktion mithalten.

März 2016


¹ Zuletzt etwa auf der Seite 3 der Süddeutschen Zeitung vom 4. März der Artikel „Pfaueninsel“ von Hilmar Klute, vgl. dazu auch https://lyrikzeitung.com/2016/03/05/renaissance-ueber-gelaber-und-lyrik/.
² Ein aktuelles Beispiel ist der Beginn der ansonsten sehr empfehlenswerten Rezension von Insa Wilke zu Daniela Seels Band „was weißt du schon von prärie“ (SZ vom 18. 1. 2016): „Eins vorweg [...]: Ich verstehe diese Gedichte auch nicht.“
³ Fixpoetry und das Signaturen-Magazin sind an vorderster Stelle zu nennen, des Weiteren v.a. lyrikkritik.de und der Poetenladen.
www.signaturen-magazin.de/dominik-dombrowski--fermaten.html

www.signaturen-magazin.de/lyrik-von-jetzt-3.html

Dagmara Kraus, „die sie-ameise. epithalamion für j. und k. ames“, erschienen in: kleine grammaturgie, roughbooks 2013.
Prägnant formuliert hat es Ulf Stolterfoht bei den open poems 2009: „Die erste Frage ist: Was zum Teufel will das Gedicht?“

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