Transistor³
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
Transistor 3, Heft 3 (2020): Ästhetik der Überraschung
Poeten und Diskurstouristen: „Querelle des Anciens et des Modernes“

„Die
Jungen, haben sie »einfach nichts zu sagen«?“ Mit dieser leicht
despektierlichen, von patriarchalem Beharrungsstolz imprägnierten Frage
eröffnete die Literaturzeitschrift Akzente vor einem halben Jahrhundert
die Debatte über die ästhetischen Potenzen der allerjüngsten
Gegenwartsliteratur. Zu einer Stellungnahme wurden damals, im Jahr 1966, vorwiegend
20- bis 30jährige Dichter und Erzähler aufgefordert, unter ihnen Reinhard
Priessnitz, Peter Handke und Wolfgang Maier. Der jüngste Diskussionsteilnehmer,
der damals 20jährige Dichter Paul-Gerhard Hübsch, der später als Hadayatullah
Hübsch und als Freak der deutschen Beat-Kultur bekannt wurde, las den
Altvorderen die Leviten – und richtete selbstkritisch den Blick auch auf das
eigene Umfeld. Die Lyrik der Jungen, so bilanzierte Hübsch nüchtern, „wird
eifrigst produziert und vor sich hin geschrieben; 300 Auflage, hektographiert,
Selbstverlag, unter-gehend & wieder-auferstehend; fast immer aber
unbeachtet.“ Ein Befund aus dem Jahre 1966, den man vierundfünfzig Jahre später
ohne Abstriche wiederholen könnte – hätten sich nicht die Infrastruktur und mit
ihr das Selbstbewusstsein der Lyrik enorm verbessert.
Undenkbar
geworden ist jedenfalls die herablassende Geste, mit der die etablierten
Influencer des alten Literaturbetriebs auf die junge Lyrik-Szene herabschauten.
Ein halbes Jahrhundert nach der Akzente-Debatte wäre nun eher zu fragen:
„Die Alten – verstehen sie denn, was die Jungen sagen?“ Fest steht, dass die
Debatte um die Kernfragen der Lyrik und der Poetik nicht mehr in den
mittlerweile lieblos bewirtschafteten Akzenten stattfindet, sondern
primär in der Zeitschrift Transistor, die bereits mit ihrer dritten
Ausgabe zu einem Zentralorgan der Lyrik-Diskussion aufgestiegen ist. Ein
Leitmotiv des aktuellen Heftes ist die Erkundung einer Ästhetik der
Überraschung – jener Überraschung, von der schon der Erz-Avantgardist Guillaume
Apollinaire behauptet hat, sie sei die wichtigste Triebfeder der Poesie. Und
die kritische Probebohrung im Selbstverständnis der zeitgenössischen
Poet*innen, wie sie 1966 Paul-Gerhard Hübsch vorlegte, unternimmt in Transistor
3 Nancy Hünger, die in ihrer „Sammlung unfrisierter Gedanken“ einen
„altmodischen Idealismus“ geltend macht und das Schreiben von Gedichten
entmystifiziert: „Existentiell und existent ist Poesie nur noch für eine
ausgewiesene Kennerschar (…) und obendrein hat sie mit äußerst niedrigen
Schwellenvoraussetzungen zu kämpfen. Schreiben kann ein jeder und jede, und
berufen ist auch ein/e jeder und jede, einfach alle, die zum Schreiben befähigt
sind und überhaupt. Das Gedicht, so lautet eine gängige Meinung, ist doch letztlich
nichts als schriftliche Willkür, denn ohne Regel und Poetik.“ Als eine coole
Übung in Entmythologisierung kommt auch der Transistor-Beitrag von
Christian Filips daher, der sich über die Aktualität von Inger Christensens
„alfabet“ seine unorthodoxen Gedanken macht und anstelle einer ehrfürchtigen
Apologie von Christensens Schöpfungs-Poem strenge Abstinenz empfiehlt: „Ich
kotze sofort Palatschinken mit Aprikosenmarmelade, wenn der Vers (von den
Aprikosenbäumen, Anm. d. Verf.) heute noch ein einziges Mal bejahend aufgesagt
wird.“ Eine Menge ketzerisches Potential enthalten auch die Essays von Patty
Nash und Mara Genschel. Patty Nash skizziert eine Poetik der Lücke und
Leerzeile, angelegt als eine Strategie der Auslassung und Text-Pausierung, wie
sie auch Anne Carson in ihren Sappho-Übertragungen anwendet. In manchen dieser
Sappho-Übertragungen, etwa im Fragment 24D und 29B, kürzt Carson den nur noch
in wenigen Bruchstücken vorhandenen Text noch weiter ein, so dass am Ende nur
noch einige Klammer-Zeichen („[“ ] nebst einzelnen Wörtern oder Fügungen wie
„in a thin voice“ oder nur „lady“ übrig bleiben. Mara Genschel steuert in ihrer
bewährt eigensinnigen Manier ein Selbstinterview bei, wobei sie ihre fiktive
Gesprächspartnerin, die „Diskurstouristin“ Cindy Press, in einem
englisch-deutschen Kauderwelsch sprechen lässt. Genschels Mutmaßung, dass die
„Zubereitetheit, Kuratiertheit und Lektoriertheit durch Entscheider, die wir
bereitwillig für Experten halten“, die Präsenz von ästhetischen Überraschungen
eher behindert, ist nicht abwegig. Sehr lesenswert sind in der aktuellen Transistor-Ausgabe
auch Ines Berwings Ausführungen über den Einfluss der Stimme auf den
„Sprachkörper“ und Alexander Weinstocks Reflexionen über die aktuelle
Büchnerpreisträgerin Elke Erb. Hier fällt indes auf, dass Weinstock der „Flip-Out-Elke“
(Volker Braun) mit ihrer Vorliebe für „5-Minuten-Notate“ und für offene
Konstellationen „formale Strenge“ zubilligt, während Elke Erb einmal dazu
schrieb: „Ich bin außerhalb der Form. Und das ist eine Chance und ein Risiko.
Die Menschheit geht mit mir ein Risiko ein, ich diene als Risiko.“ Unter den in
Transistor abgedruckten Gedichten beeindruckt vor allem Steffen Popps
„Gang durch die Nacht in sieben Schichten“, der „ein ganzes nocturnes Leben“ in
glühenden Bildern entfaltet, ganz in der Tradition von Novalis´ romantischen
„Hymnen an die Nacht“. Einen ironischen
Widerpart findet Popp hier in Hans Thill, der sein Hölderlin-Projekt
(„Hölderlin/Holder“) mit sehr nüchternen und lakonischen Tonlagen ausstattet.
Hier sind die „jungen Dichter“ nicht so sehr an die Transzendenz oder an
magische Orte angeschlossen, sondern an die unfeierlichen Realien des Alltags:
„AN DIE Kapuzen, an die jugendlichen Trinker/ der Rewe-Supermarkt-Musik. An die
Alten/ mit Rädern unten dran. An die flachgelegten / Schwarzwald-Berge, an die
Kuckunft (Pastior)/ dortselbst. An ein Frühstück mit Tattoo. An die /
Plummestresser, an die Bretzelbuben.“
Transistor3
, Zeitschrift für zeitgenössische Lyrik, Berlin 2020. 102 Seiten, 8 Euro.
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