Transistor, Ausgabe 2
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
Transistor,
Heft 2 (2020): Dossier Digitale Dichtung
Elektrobarden
und Feuerabende

Der
souveräne Autor eines perfekten, makellosen, alles Dagewesene überbietenden Gedichts
muss nicht erst erfunden werden, er existiert schon. Es ist der „Elektrobarde“,
die vollkommene Poesiemaschine des elektronischen Zeitalters, wie sie Stanislaw
Lem bereits vor einem halben Jahrhundert in einer Erzählung seines „Kyberiade“-Zyklus
vorgeführt hat. Dieser „Elektrobarde“ wird dort als eine von dem Konstrukteur
Tlurl erfundene Apparatur dargestellt, die alle kompositorischen Fähigkeiten
lebender Lyriker(innen) übertrifft. Der „Elektrobarde“ bringt dadurch seine
menschlichen Konkurrenten in Bedrängnis. Die Lyriker reagieren mit Suizid oder
drohen dem „Elektrobarden“ mit Vernichtung. Diese Maschine aus der
technologischen Steinzeit hat in unseren digitalen Zeiten nun doch ernsthafte
Konkurrenz bekommen. Und zwar in Gestalt der schreibenden Software GPT-2, die
als neuronales Netz selber die Texterzeugung lernen kann.
Eine
Erkundung all dieser neuen Formen auto-poietischer Dichtkunst und digitaler
Literatur hat sich nun das zweite, erneut aufregende Heft von Transistor
vorgenommen, die sicher interessanteste Zeitschriftengründung der letzten
Jahre. In einem Gespräch zwischen Kathrin Passig, Hannes Bajohr und Philipp
Schönthaler werden hier die Möglichkeiten einer digitalen Literatur und Kunst
diskutiert, wie sie bereits in den informationsästhetischen Schriften des
Kulturphilosophen Max Bense (1910-1990) vorgedacht worden sind. Philipp
Schönthaler stellt die elementaren Fragen an eine digitale Literatur, die in
ihren konsequentesten Spielarten versucht, die Funktion des Autors zu
reduzieren und eine möglichst intentionslose Textproduktion zu erreichen. Ist
ein solches Konzept, so Schönthaler, nicht einfach eine Fortschreibung von
Ideen der historischen Avantgarde? Was Dadaisten wie Hans Arp und Tristan Tzara
noch mit der Schere und Schnipseln aus der Tageszeitung bewerkstelligen
wollten, leisten die Propheten der digitalen Literatur mit der algorithmisch erzeugten
Neukombinatorik von bestimmten Textmengen. Tristan Tzara lieferte einst
folgende Produktionsanweisung: „Um ein dadaistisches Gedicht zu machen/ Nehmt
eine Zeitung. /Nehmt Scheren. /Wählt in dieser Zeitung einen / Artikel von der
Länge aus, die / Ihr Eurem Gedicht zu geben/ beabsichtigt. / Schneidet den
Artikel aus. / Schneidet dann sorgfältig jedes / Wort dieses Artikels aus und
gebt / sie in eine Tüte./ Schüttelt leicht. / Nehmt dann einen Schnipsel nach/
dem anderen heraus. / Schreibt gewissenhaft ab/ in der Reihenfolge, in der sie
aus / der Tüte gekommen sind.“ Was nun die Poetologen des Digitalen anbieten,
ist nicht weit davon entfernt. Hannes Bajohr glaubt etwa, dass selbstlernende
neuronale Netze, die mit Tausenden von Shakespeare-Texten gefüttert worden sind,
in der Lage sind, neue Shakespeare-Texte hervorzubringen und damit „das Genie
zumindest tendenziell als unergründliche Black Box zurückkehrt“. Als ein besonders rigides Beispiel digitaler
Literatur nennt Bajohr den generativen Roman „Megawatt“ des amerikanischen
Medienwissenschaftlers Nick Montfort. „Megawatt“ ist eine poetische Erweiterung
von Samuel Becketts „Watt“. Das Original „Watt“ ist zwischen 1942 und 1944
entstanden, der letzte auf englisch verfasste Roman Becketts. Der Protagonist
„Watt“ stellt seinem Gastgeber Knott Fragen, muss sich aber die Antworten
selbst geben, da Knott ihm nicht antwortet. In „Watt“, so erläutert nun Bajohr,
gibt es beispielsweise eine Figurenbeschreibung, die aus der Permutation von
zwölf Adjektiven besteht: „An einem Tag konnte Mr. Knott groß, dick, blaß und
schwarz sein, und am nächsten dünn, klein, rosig und blond.“ In der deutschen
Übersetzung erstreckt sich diese Beschreibung über zweieinhalb Textseiten. Das
ästhetische Verfahren von Montforts „Megawatt“ bestehe nun einfach darin, die
Adjektiv-Elemente von 12 auf 24 zu erhöhen. Von zweieinhalb Textseiten wächst
die entsprechende Passage dadurch auf 326 Seiten an, „was meines Wissens die
längste Figurenbeschreibung der Literaturgeschichte ist“ (Bajohr). Weitere
bizarre Beispiele aus der Welt der digitalen Literatur analysieren die Transistor-Beiträge
von Andreas Bülhoff, Jörg Piringer und Jasmin Meerhoff. Hinzu kommt ein
aufschlussreiches Experiment von Karl Wolfgang Flender. Ausgangspunkt ist ein Tagebuchprojekt
des Konzept-Künstlers Kenneth Goldsmith. Im Jahr 2001 zeichnete Goldsmith in
einem Wort-für-Wort-Transkript einen Tag seines Lebens auf, 24 Stunden aus
seinem Künstler-Alltag. Mithilfe von „Siri“, der digitalen Assistentin eines Smartphones,
liefert nun Flender eine Weiterung dieses Projekts. Der 500 Seiten-Monolog von
Goldsmith wurde vollständig ins Phone eingesprochen, danach wurden Siris
Repliken transkribiert. Es bleibt nur die Frage, wer nun das entstandene
Textmonstrum wirklich mit Leidenschaft lesen will.
Mit
Begeisterung wird man in Transistor indes die neuen Gedichte von Birgit
Kreipe und Michael Lentz lesen. Von Birgit Kreipe sind hier vier Zyklen abgedruckt,
die sich der intensiven Auseinandersetzung mit Arbeiten der früh verstorbenen
Fotokünstlerin Francesca Woodman verdanken. Kreipe illustriert nicht, sondern
übersetzt die überwältigende Kraft der Woodmanschen Fotografien in ein eigenes
poetisches Bildprogramm: „flüchtige bewegung – oder laub? / oder nur spiel von
schatten und licht/ (kohlköpfe, schlammige monde/ hinter jedem eine winzige
nacht).“ Michael Lentz evoziert einen suggestiven „Feuerabend“ – in einem Gedicht,
das eine Kindheitsszene mit einem Fasan aufgreift, wie sie schon im Roman
„Schattenfroh“ entfaltet wird, dann aber auch Referenztexte überschreibt, etwa
Mörikes „Denk es, o Seele“, das ein Garten-Bild mit der Psychogeografie des
eigenen Selbst kreuzt. Was bleibt, ist das Phantasma der weißen Schrift als
einer Synthesis von Gut und Böse: „…es kommt der tag das weiß die schrift da ist/ die schrift ganz weiß und gott ist
ihr kopist…“ Eine faszinierende Phantasie: Bevor Gott da war, gab es schon die
Schrift.
Transistor,
Zeitschrift für zeitgenössische Lyrik. Ausgabe 2, Winter 2019.
Hrsg.
v. Saskia Warzecha, David Frühauf u. Alexander Kappe.
88
Seiten, 8 Euro. Erhältlich über: transistor@posteo.de