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Tomás Cohen: Eine Sternwarte im Badezimmer

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Matthias Weglage

Tomás Cohen: Eine Sternwarte im Badezimmer. Gedichte. Nettetal (ELIF Verlag) 2023. 128 Seiten. 20,00 Euro.

In die Kindheit fliegen
zu Tomás Cohens Gedichtband „Eine Sternwarte im Badezimmer“


Tomás Cohens Gedichte verströmen sanftenTabakgeruch, den Geruch, den Tabak in der Schachtel hinterlässt, wenn alle Zigarren aufgeraucht sind. Es ist ein süßlicher Geruch, der Lust macht auf neuen Geschmack auf der Zunge. Gleich im Eingangsgedicht heißt es:

        „SCHREIBE ICH DAS AUF?
         Feile ich daran? Öffne ich es wie eine alte
         Mahagonischachtel ohne Havannas,
         aber mit Zigarrengeruch?“

Der Dichter öffnet eine Schachtel voller  Erinnerungen, es sind Erinnerungen mit einem ganz eigenen Geruch. Tomás Cohens Gedichte gehen den Weg zurück in die Kindheit.
     
        „Lass mit Musik im Fleisch, das pulsiert, jetzt
         das Kind im nächtlichen Zimmer wieder aufleben,
         jenes, dessen Tanz die Deckenlampen
         des unteren Stockwerks erzittern lässt
         zu diesem Kind werde ich wieder,
         wenn ich dich höre. Komm Kind,
         begleite deinen Erwachsenen
         (der dir nicht Vater, sondern Grab ist)
         und schenk ihm die gleiche Zärtlichkeit
         wie der Gefangene seinen Gittern.

         Die letzten Akkorde
         hauchen ihre Obertöne in das dunkle Zimmer,
         wo das Kind aufhört zu tanzen, ...“
                                                             (aus: EXVOTO)

Welche Zärtlichkeit kann der Gefangene den Gitterstäben seines Gefängnisses schenken? Offenbar steckt das Kind im Erwachsenen wie in einem Gefängnis. Mit wehmütigen Gefühlen verabschiedet der Dichter seine Kindheit und lässt sie in der Fiktion der Gedichte rebellieren gegen den Selbstverlust im Erwachsenwerden. Das Gedicht ist ein Zwiegespräch mit einer Sonate von Bartók, der das Kind mit erster Leidenschaft gelauscht hatte und die ihn nun fortan begleitete auf seinem Lebensweg. Die Sonate ist zum Pulsieren des Bluts im Dichter geworden, nicht mehr aus seinem Inneren wegzudenken.

Die Gedichte gehen an den Schauplätzen der Kindheit auf Spurensuche. Selbst die Schaukelkette auf dem Spielplatz verströmt da noch einen Erinnerungsgeruch:
         „Tief atme ich
          den Geruch der Schaukelkette ein,
          Die ich fest umklammert hielt, kurz vor dem Fliegen
          meine plötzlich bodenlosen Hände riechen
          nach Rost, nach quietschendem Getriebe
          gar, und diese merkwürdigen Ketten erfüllen,
          füllen meine Fäuste: Ich schaukele
           bis das verschlissenste Kettenglied
            nachgibt und sich löst und ich fliege – Und fische
            aus der Luft meine Mitschüler,
            Raum für Raum, Tafel und Turnhalle.“
                                (aus: DEN PAUSEN AUF DER SPUR)
Der Dichter führen Geruchssinn und Tastsinn in entfernte, nahe Momente der Erinnerung, mit denen sich der Raum weiten und die Zeit langsamer zu fließen beginnt. Die Vergangenheit der Kindheit ist ein Haus, das der Dichter erneut betreten will. Es mag zugleich in der Erinnerung auch das Haus der Eltern gewesen sein. Wer will das wissen? Vor allem ist es aber ein geheimnisvolles Haus, in dessen Badezimmer eine Sternwarte stand. Sie menstruierte:  

           „Im Haus ist noch ein Haus,
            in Erinnerungen zerstört, vom Tastsinn ausgebaut.
            Ein Haus im Dunkeln, unbegrenzbar,
            ich rieche es, es menstruiert. Mit Herzrasen
            befühl ich es, tappe, nachts, wo auch immer
            ich Blindsein spiele:
            Dann kehrt von jedem Haus
            mein Zuhause zurück, wenn ich
            im Dunkeln den Lichtschalter finden kann.

             Im Badezimmer war eine Sternwarte:
             Durch das Teleskop der Toilette konnte ich
             einen Saturnring sehen, blutrot:
             Das Echo seines Tropfens auf der Keramik
             zeigte mir, dass ich mit dem ersten fremden Körper
             eins gewesen bin, Eingeweide war.“
                                                                             (ZUHAUS)

Dieses Haus im Haus, in dem sich die dichterische Phantasie auffüllt, wird zu einem Quell dichterischer Assoziationen. Die Erinnerungen haben in ein Haus geführt, in dem ein anderes Haus stand. Das Haus im Haus der Kindheit ist eine neue Heimat geworden. Dieses Haus menstruiert, schenkt neues Leben. Die Phantasie lädt sich auf.  Im Dunkel der Erinnerungen findet sich ein Lichtschalter, im Badezimmer war eine Sternwarte. Und ob es nun dieses Teleskop im Badezimmer des elterlichen Hauses wirklich gab oder es dichterische Phantasie ist, die uns dorthin führen will, wir sind in ein Planetarium des poetischen Erlebens gelangt. Von diesem Bild hat der Gedichtband seine Inspiration genommen und gewinnt seine besondere Atmosphäre.

Tomás Cohens Gedichte, erstmals aus dem chilenischen Spanisch von Luisa Donnerberg ins Deutsche übertragen, sind introspektiv, ohne Nabelschau zu betreiben. Sie besitzen einen meditativen Fluss mit einer ganz eigenen spirituellen Färbung, den ganz gut das Coverbild visualisiert. Es scheint ein Mandala zu sein, ein Schaubild mit zentraler Ausrichtung, in dessen kreisenden Bewegungen sich die Bewegungen des Kosmos widerspiegeln. Oder ist es eine Plattenscheibe, die der DJ gekonnt in Schwingung gebracht hat?

Dem gesamten ersten großen Zyklus „Scharniere“, ist passend ein Vers von Quignard als Motto vorangestellt: „Wir sind nie so sehr ein Ort wie in der Kindheit“. Entsprechend umkreisen die Gedichte Momente der Fiktion kindlichen Erlebens. Das dichterische Ich schlüpft noch einmal in die Kinderhaut und wird plötzlich selbst ein menstruierendes Kinderhirn.  

            „Das noch einmal durchleben, auch wenn es nicht Leben
             und doch Traum wäre -  so bat ich         
             vor dem Schlafen und verhandelte meinen Wunsch
             vom Wachen aus. Aus dem Dazwischen
             spross ein Balkon. Mein Schritt wurde Sprung
             wurde Flug – unten die eigene Größe,
             dann Baumkronen in Vogelperspektive.
             Als Kind schwamm ich in der Luft.“
                                            (aus: DAS OBERE STOCKWERK)

Der zweite Zyklus des Bandes ist „Hügel, Pfütze, Morast, Stängel“ überschrieben. und umfasst eher Naturgedichte, das spanische Original hat hier einen Titel, der zugleich der des ganzen Bandes ist: „Un arbol de luz intima“, ein 'Baum des inneren Lichts'. Hier verwundert die Übersetzung etwas. Auch dieser Zyklus enthält Introspektiven, der Blick wendet sich stärker Naturerfahrungen zu, aber diese Bilder sind auch mit Kindheitserinnerungen verwoben.
            
               „VERGESSE ICH SCHON BALD
               dies perfekte Stöckchen“  
               von der Gestalt zweier Glieder
               meines kleinen Fingers,
               das ich für zwei Sekunden
               mit dem Daumen
               in die Düne drückte, deren Poren nur
               eine Wimpernlänge entfernt lagen,
               und deren Sand ich
               im Ohr und in der Tasche mitnahm?
               Es wehte im Wind.

                Seine Gestalt, jetzt an der Oberfläche
                nach Jahren des Untertauchens, ist wie ein Traum,
                der sich im Gespräch verliert,
                ein Rauchzeichen im Wind, ein Gedicht.
                Ich vergaß, ohne zu verlieren. Perfekt.
                                                                     ...“
                                       (aus: VERGESSE ICH SCHON BALD)
                          
Die Erinnerung ist perfekt, so perfekt, wie es das kleine Stöckchen für das Kind eben damals war. Die Erinnerung, so flüchtig sie ist und einem Rauchzeichen im Wind gleicht, ist doch beständig. Sie dauert an.

Die Gedichte Cohens haben eine ausgeruhte, in sich fließende Kraft. Die Klänge, die sie erschaffen, verwandeln die Gebilde der Welt in dauernde, in sich kreisende Formationen auf einer sich kreisenden Scheibe. Nähe verwandelt sich in Distanz, Distanz in Nähe.

          „VON SO NAH,
           dass mich die Wimpern streifen, lecke ich das Salz
           der Wellen, die längst verdunstet sind.
           von meiner sonnenklaren Schulter
           erschöpfter Schwimmer,
           die vom salz tätowierten Länder koste und vereine ich,
            während ich am Ufer liege, die Füße noch
            in einem anderen Reich plansche ich Funken -
            kein Schiffbrüchiger mehr. ...“
                                                  (aus: VON SO NAH)

Das Gedicht verwandelt Sehnsucht in Nähe, Verlust in Gegenwart, Trauer in paradiesgleiches Glück. Ein paar Verse holen uns ab, so dass wir nichts mehr vermissen – für Momente: die entfernteste Kindheit, der verschlungene Amphibienpfad in einem chilenischen Dschungel-gedicht, die Sonate Bartóks. Plötzlich zieht die Stille alles an sich und zu sich. Ein noch so geringes Ding kann Anlass dazu geben: ein Mandarinenstückchen, dessen Verzehr für einen Moment hinausgezögert wird, der Flügelschlag eines Schmetterlings, das nächtliche Knistern des Weizens auf dem Feld, der Krümel auf dem Rücken einer Ameise, welch' wagen-radschwere Fracht.


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