Tom Schulz: Reisewarnung für Länder Meere Eisberge
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Amadé Esperer
Reisewarnung für Länder Meere
Eisberge.
Eine politisch-poetische Kontrapunktik.
»Öffne die Augen / sagt das Gedicht, es
spricht immer von mehr als der Gegenwart« lesen wir ziemlich zu Beginn des kürzlich
bei Hanser erschienenen Lyrikbandes Reisewarnungen für Länder Meere Eisberge
von Tom Schulz. Dieser Appell hat es
in sich. Man darf ihn keinesfalls so verstehen, als fordere er uns auf, die in
dem Band versammelten Gedichte nicht auf die Gegenwart zu beziehen. Man muss
gerade sein Gegenteil befolgen, denn wie sich rasch herausstellt, sind alle
Gedichte in dem Band gegenwartsbezogen. Gleichzeitig weisen uns diese
Gedichtzeilen aber auch daraufhin, dass die Gegenwart und ihre in den Gedichten
thematisierten Verwerfungen jeweils in einem größeren Kontext zu sehen sind. In
einem Kontext, der Ursache und Wirkung, also Vor- und mögliche Nachgeschichte
umfasst. Denn Gegenwärtiges, sei es akzeptabel oder beklagenswert, hat immer
eine Vorgeschichte, und die Welt erklärt sich nicht nur aus dem gerade Gegebenen.
Dieser Lyrikband von Schulz zeigt uns, dass sich das Leben in seiner
Vielschichtigkeit nur verstehen lässt, wenn zur jeweiligen Gegenwart auch die
jeweilige Vorgeschichte gekannt wird. Dazu gehört, sich auch unangenehmen
Wahrheiten zu stellen, wie uns schon ziemlich am Anfang des Bandes das Gedicht
»Ausflug ins Elbsandsteingebirge« vor Augen führt:
»Alles ist schief gegangen.Das Sein war so schwach wie das Bewusstsein.die Kegelbahn unterspült – das Kulturaus verlor frühdas Gedächtnis. Die Freiwillige Feuerwehr wurde zum Mittelpunktdes Ortes. Der geopolitische Korridor in die Tschechei, der stoischbetonierte Plattenbau…«
Des Weiteren konstatiert das Gedicht anhand
von wenigen repräsentativen Bildern in
unverschnörkelter Sprache, was in der ehemaligen DDR, genauer in Sachsen, der
Heimat von Tom Schulz, vor und während der Wende und nach der Wiedervereinigung
zu beobachten war, wobei sich der lyrische Sprecher jeder Wertung enthält und
das Beobachtete mit gekonnter Distanziertheit schildert:
»Testbild nach 22 Uhr. Wir sahen tags andersfarbige Menschenaus der Entfernung, die Jungs nannten sie Presskohle.Was sind zwei Mosambikaner, die sich gegenüberstehen?Ein Duplo-Riegel. Vietnamesen hießen immer schon Fidschis……Panzer fuhren vorbei, das Fußvolk jubelte. In der Schulelernten wir, was alles antifaschistisch ist……Wir brachen irgendwann auf mit klobigen Schuhen, Sommer 89über dem abgelandeten Meer. Brüchige Scholle, Flugscholle,Kasernen im Hinterland……
Wir rückten ein bei Bad Schandau. Hockten auf einem W 50und warteten auf den Einsatzbefehl……Das Land war nicht mehr als die Gänsefüßchen in der BILDwenn jemand von ihm sprach.Von LKWs warf man plötzlich Tchibo-Kaffee und Bananenstauden.Wir stehen am Sportplatz, die Hände in den Taschen.Wir sind umgekehrt, alles ist verkehrt. In der Dorfmitte hängtein Banner: 1500 EINWOHNER, 300 ASYLANTEN.…
Unsere Welt ist ein Hobbykeller mit Bierkästen und Foto-Pin-ups.Wir fackeln was ab.Galgen, Lügenpresse. MERKEL MUSS WEG.Blutkanzlerin, so ne Kacke. Heute Patriot, morgen tot…«
Dieses Gedicht, das ebenso gekonnt wie prägnant die Dinge auf den Punkt bringt, zeigt uns einen wichtigen Aspekt der für den Autor charakteristischen Arbeitsweise: Mittels Montage von wörtlichen Zitaten, von Anspielungen, von Einflech-tungen markanter Fakten, Produkten und charakteristischen Namen gelingt es ihm, ganz unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen zu lassen und verschiedene Stimmungen zu evozieren, die sich mosaikartig zu einem nuancenreichen Ganzen fügen, das den Leser ins Bild setzt. Gleichzeitig führt der Autor mehrere lyrische Sprecher unter der Maske des »lyrischen Wir« ein - in anderen Gedichten tritt ein lyrisches Ich auf – und verleiht so dem Gesagten Authentizität und Glaubwürdigkeit.
Die Technik der Montage und die thematische Verschränkung und Engführung bestimmter Leitmotive kennzeichnen viele, vor allem die längeren der in diesem Band versammelten Gedichte. Die leitmotivische Verwendung von bestimmten Wörtern oder Wortgruppen und ihr mehrmaliges Auftreten im Textkörper ein und desselben Gedichts erinnert stark an die kontrapunktische Fugentechnik in der Musik. So findet sich etwa in dem Langgedicht »Die Beinhäuser von São João« das Syntagma »Es gibt Tote«, das wie das Leitthema einer Fuge immer wieder wörtlich oder modifiziert wiederkehrt:
»Es gibt Tote¹, die mit einem Regenschirm in der Sonnestehen, sie wollen noch einmal angefasst werden, um einenAbdruck zu spüren, berührt und geführt in die Schatten:flimmernde Säulen, flatternde Rotschwänzchen.Es gibt Tote, die eine Handtasche über der Schulter tragenIn der sich ein Spiegel befindet…Es gibt Tote, die Golf spielen unter einem Regenschirm…Es gibt Tote, die auf dem Flughafen mit einem Schild in der Handbei der Ankunft warten…Es gibt Tote, die ganz und gar unsichtbar erscheinen.Ihr Husten verrät sie an der Kaufhauskasse…Es gibt Tote, für die ist nur Platz im Wasser …Was beweist das. Es gibt Tote, die in der Luft gehen könnendie über unseren Köpfen schweben…
Kontrapunktisch eng geführt wird dieses
Leitthema bzw. seine Modifikation mit Nebenthemen, die durch Handlungen und
Absichten der verschiedenen lyrischen Sprecher definiert sind und entweder als »lyrisches
Ich«, oder als »lyrisches Du« oder gar als »lyrisches Wir« in Erscheinung
treten:
Es gibt Tote, die eine Handtasche über der Schulter tragenin der sich ein Spiegel befindet, sie können uns anblicken…Du willst, wie ich, viel tiefer hineingeraten, du willst mitden Händen das Glas erreichen, du willst niemandenstören, der schläft. Du willst mit den Fingerspitzen die Gardineum einen Spalt beiseiteschieben. Du siehst durch das Weißedu bist auf den Gängen, wo die Staubgefäße Blumen ähnlichsehen. Wir haben sie erbrochen, die Blumen, das Kreuz…Es ist nicht so, dass wir die Toten nicht bemerken.Manchmal streicheln wir ihre Handrücken, die gesprenkelte Haut…
Dieser Stadtteil heißt Gnade. Die Toten liegen höher.Du willst, wie ich, tiefer hineingerissen werden und auftauchenaus der Dunkelheit. Hierfür gibt es Stirnlampen und Leuchtkäfer.Wir lungern rauchend am Eingang herum. Hinter dem Laden fürAbschied: eine kleine Bar. Ich liebe diese Stadt am Fluss,die Stadt am Meer, wenn sie deine Augen hat…Die Toten sitzen aufrecht in den Beinhäusern und spielenVideogames auf dem iPhone. Zocken, was das Zeug hält.Wir sitzen etwa siebzig Zentimeter über dem Meer.Das Meer ist unsere natürliche Autobahn, mit oder ohneFlossenschlag. Die Toten liegen höher, über der Alfama.Wir blicken auf die Stadt, die eine Meile der Melancholie ist.Erinnern sich die Toten an uns?
Thematisch bleibt Schulz nicht in der
DDR und auch nicht in Gesamtdeutschland, sondern gemäß den Versen: »Ich bin ein
Passagier / Ich reise kreuz und quer« nimmt uns der Autor auf eine die ganze Welt
umspannende lyrische Reise mit. Sie führt in einem großen Sprung von Nicaragua
auf die griechische Insel Leros, von dort zum sizilianischen Syrakus, weiter zu
den Beinhäusern von São Jão, zum Mittelmeer, dann nach Venedig und, nach einem
kurzen Abstecher in den Breisgau, weiter ins kanarische Las Palmas, um schließlich
wieder in Südamerika zu enden.
In Nicaragua treffen wir den Lyriker
und Diplomaten Rubén Darío, auf Leros den griechischen Dichter Ritsos Jannis
und, allerdings ex negativo, Friedrich Hölderlin, auf Sizilien den
Nobelpreisträger Salvatore Quasimodo sowie Schiller und Goethe, in Venedig Lord
Byron und im Breisgau den Philosophen und Dichter Martin Heidegger, dem Schulz
einen eigenen, kritischen Zyklus widmet. Überall stoßen wir dabei auf ein dicht
gewebtes Bild aus Land und Leuten, aus Mythen und Moderne, aus Beglückung und
Unterdrückung. So etwa in dem Zyklus »Ritsos auf Leros«, in dem die ehemalige
Verbannungsinsel Leros, teils mit den Augen von Jannis Ritsos erkundet wird, der
während der Junta-Periode als Strafgefangener auf dieser Insel interniert war.
In einer Serie von zwölf kürzeren Gedichten mit teils elegischer, teils
apokalyptischer Gestik kontrastiert Schulz die Geschichte der Insel während der
nationalsozialistischen Besatzung mit der Junta-Zeit und der Gegenwart, die
durch Asylanten und -Migranten gekennzeichnet ist. Dabei begegnen uns auch
Götter und politisch-philosophische Errungenschaften aus der antiken
griechischen Hochkultur:
»Alle Lerioten sind vergessen, die Inselbreit wie eine Schenke in Cork oder Dublin, von der Längeeines Haares der Göttin der Morgenröte, ihre Lippen fleischigund voll Blut – auf der Straße steht ein Deutscher Schäferhundwedelt mit dem Schwanz, zerrt am Hosenbein, am Schlüsselbund.Mit einem Halsband, einer eingravierten Nummer….Außerhalb der Agora, wo sie Gesetze verletzen, wo siejemanden bloßstellen, ausliefern. Ohne Straße, ohne Haus-Nummer, ohne Konto, ohne Pass…Guten Morgen, Sonnenschein. Der junge Mann heißt Khalidwohnt im Asylbewerberheim. Hat ein Skateboard unterm Armsagt zum lyrischen Ich: Ich habe die Fluchtlinie bishierher genommen…«
Sogar Pseudozitate aus und Anspielungen
auf die Bibel finden sich einmontiert, wie etwa in folgenden Versen:
»…Ich lese in einemalten Buch, Ihr werdet hören von Kriegen und Kriegsgeschrei; sehtzu und erschreckt nicht. Denn das Muß so geschehen, aber es istnoch nicht das Ende da…«
Im letzten dieser Leros-Gedichte wird
aus all den Beobachtungen für den ganzen Kontinent, für Europa, als Fazit eine
klare Diagnose und eine eher düstere Prognose gestellt:
»… - der Kontinent muss erstzerbrechen, bis jemand ihn retten will. Wenn alles auseinanderdriftet, kann dann alles mit wenigen Stichen genäht werden?Wir sind Premium Reseller von Glaubenssätzen…«
Dann geht die Reise weiter nach Syrakus
auf Sizilien. Auch in diesem sich über mehrere Seiten erstreckenden Langedicht
versteht es Schulz die verschiedenen Zeit- und Geschichtsebenen miteinander und
mit seinen eigenen Zeit- und Kulturdiagnosen so zu verflechten, dass ein
glaubhaftes Ganzes entsteht. Dabei ist auch das o.g. Gedicht, das u.a. eine
metapoetische Reflexion darstellt, wiederum leitmotivisch durchkomponiert. So
begegnet uns etwa ein Arethusa-Motiv, ein Lyriker-Motiv (Ich will das nicht
wissen / ich schreibe Gedichte…), ein Dichter-Motiv, das mal auf Ovid
(indirekt durch die Arethusa-Sage), mal auf Schiller und Goethe, mal auf
Quasimodo und einen anonymen »Touristen-Dichter« verweist. Sogar ein
Umweltmotiv (Überall schwimmen Coladosen, der Müll riecht nach Abendland….
Oder: die schwarze müde See aus winzigen Plastikpartikeln) lässt sich
erkennen. Jeder Motivstrang kehrt mehrmals wieder und wird mit den anderen
kontrastiert oder verschränkt. Das Gedicht wimmelt außerdem nur so von
intertextuellen Zitaten und Anspielungen. So etwa, wenn Verse von Salvatore
Quasimodo zitiert werden:
»…UN LAMENTOD’AMORE SENZA AMORE. Dichtete Salvatore QuasimodoDer auf der Insel das Licht der Welt erblickte und klagte. Ich kann nichtklagen, es läuft gerade wie geschmiert. Eine hohe Auflage…«
Auch Schiller kommt vor, allerdings nur
als Zitat eines Verses aus seiner Bürgschaft:
»…Zurück, du rettest den Freund nicht mehr«
Goethe dagegen taucht nur ganz kurz in
einem Statement des lyrischen Sprechers auf:
»Ich habe vergessen, in welcher Herberge Goethe schlief,…«
was einer höchst ironischen und
fragwürdigen Würdigung gleichkommt.
Ein weiteres wichtiges Motiv dieses
Gedichts sei noch erwähnt, denn es zieht sich durch den ganzen Band als
negatives Leitmotiv: Das kapitalistische System. Es wird durch die
unterschied-lichsten Metonymien und Synekdochen charakterisiert und ist Zielscheibe
von mal verhalten, mal lauthals geäußerten Invektiven des jeweiligen lyrischen
Sprechers:
»…Wenn ich wählenkönnte, würde ich den Cash-Cow-Kontinent zusammenklappen wie eineButterstulle. Ich würde die Deutsche Bank in den abgeholzten Regen-Wald versetzen und die Sahara nach Frankfurt / M.…und ihr, könnt mirgestohlen bleiben, ihr lest keine Gedichte…«
Der aggressive Ton dieser und anderer
Zeilen erinnert an die gallig-giftigen Expektorationen, die wir von Rolf Dieter
Brinkmann kennen, der seinerzeit während seines Italienaufenthaltes auch
Italiengedichte schrieb. Wenngleich der kulturkritische Gestus in manchen
Gedichten von Schulz an Brinkmann erinnert, unterscheidet sich ersterer
stilistisch doch deutlich von letzterem. So finden sich bei Schulz zwar auch
jede Menge Zeilensprünge, aber die sind poetisch besser motiviert als bei
Brinkmann. Auch ist der Ton von Schulz nicht so schrill, so vehement wie bei
Brinkmann, und nicht anklagend. Da
Schulz seine Lyrik aber ausgesprochen politisch angelegt hat, ohne glücklicherweise
jedoch jemals in plumpen Agit-Prop zu verfallen, wundert es nicht, dass er sich
auch mit Enzensberger beschäftig hat, wie unschwer an dem in serieller
Enzensbergerscher Manier gearbeiteten Eingangsgedicht »Schwarze Ampeln«
zu erkennen ist:
»Weil das Land ein Sonnengeflecht ist und wir es liebenweil wir die Sieger der Geschichte sind und im Finale stehenweil wir Exporte, Retouren und Kremtorten in alle Welt versendenweil wir unter dem Bayer-Kreuz fleißig Pillen drehenweil wir den Schweinen Antibiotika ins Fressen gebenweil wir wissen, dass es um die Wurst geht…«
Im Gegensatz zu Enzensberger ist der
Ton von Schulz allerdings zurückhaltender, weniger forsch, einfühlsamer. So erkundet
er in dem Venedig-Zyklus »Giudecca abandon«, wenn auch nur
kontrafaktisch, die Gegend aus den Augen eines Neureichen:
»Würden mir fünf oder zehn Eigentumswohnungen gehörenwäre ich noch kein reicher Mann. Ich müsste über das Wasserfahren wie ein mittlerer Angestellter. Am Morgen, in einem Bootdie Zeitung über dem Kopf.«
Die in Gegenwart und Geschichte
gebettete Welt, wie sie uns und andere betrifft, zu verstehen, das wird nach
der Lektüre der Reisewarnungen klar, ist die Motivation für Tom Schulz,
der als aufmerksamer Beobachter nicht nur das eigene Land, sondern auch fremde
Länder, Kulturen und Gesellschaften
erkundet und die Dinge, die sich ihm dabei zeigen, in seinen Gedichten
Mosaikstein für Mosaikstein zusammenzufügt, um vor unseren Augen ein Gesamtbild
von Gegenwart entstehen zu lassen, das uns alle angeht.
Tom Schulz ist es in diesem Lyrikband
gelungen, tief in die Verästelungen der globalisierten Welt vorzudringen und
uns ein Gefühl für unsere eigene Zeit, unseren eigenen Ort in der Geschichte zu
vermitteln. Obwohl von vielen Übeln und Abscheulichkeiten in seinen Gedichten
die Rede ist, leiden sie weder an zeitgeistiger Hysterie, noch an
apokalyptischen oder ideologischen Fieberkrämpfen. Ohne falsches Pathos trägt
der Dichter authentisch glaubhaft die Befunde, Diagnosen und Prognosen vor, die
er durch seine Welterkundungsstreifzüge gewonnen hat. Dabei benutzt er eine
klare Sprache, die ohne agitatorische Appelle auskommt und sich andererseits auch
nicht in botaniküberwucherten Sonetten oder Oden versteckt, wie das momentan
allenthalben in der deutschen Poeterei zu beobachten ist. Schulz zwingt uns
seine Sicht nicht auf, sondern zeigt uns alles unaufgeregt, und überlässt es
uns, zu entscheiden, was wir als Botschaft mit nach Hause nehmen.
¹ Fettmarkierung von mir.
Tom Schulz: Reisewarnung für Länder Meere Eisberge. Berlin (Hanser Berlin) 2019. 128 Seiten. 19,00 Euro.