Tom Schulz: Die Verlegung der Stolpersteine
Timo Brandt
Ortgespinste und Zeitversandung und die sickernde Sprache
Kann die Zeit stolpern? Während sie an manchen Orten schnell unterwegs ist, sich sogar ein Auto leisten kann, kommt sie an anderen Orten nur mühsam voran; und es gibt sogar Orte, von denen man behauptet, die Zeit stehe dort still.
Man selbst kann in jedem Fall stolpern, auch aus einer Zeit in eine andere. Manchmal ist der Stolperstein die eigene Erinnerung beim Anblick der Umgebung, manchmal der Eindruck den die Umgebung hervorruft.
Solche Gedanken kamen mir während der Lektüre von Tom Schulz‘ neuem Gedichtband „Die Verlegung der Stolpersteine“. Aber alles zu seiner Zeit. Der Band wird eingeleitet mit einem Zitat von T.S. Eliot: „The End is where we start from“. So weit, so suggestiv, so kryptisch, so wegweisend. Dann ein Langgedicht: „Prager Straße“.
„Dresden brennt.
Feuer, das hinauf schoss
das rußte, das schwarz wurde
und die ersten Amerikaner
betraten den Mond
Jetzt schwappen Stimmen über den Platz
Stimmen wie Jauche
Stimmen von gestern, von vorvorgestern“
Eine Aufbereitung; eine Familiengeschichte, die sich durch die Hitze der schnellen Schnitte und Übergänge verflüssigt. Schulz verschmelzt in dem Gedicht den Feuersturm von Dresden und die DDR-Kindheit miteinander, und hinter diesen beiden Räumen schieben und drängen sich Aufmärsche von Pegida ins Bild. Ein mitunter leicht verzetteltes Panorama, das hier und da abschüssig und wenig schlüssig zu geraten droht, das seine zahlreichen Motive durch jeweils wenige Zeilen jagt. Schulz zieht noch dieses oder jenes heran, ist immer noch auf der Suche nach etwas, das er am Rand aufsammeln, mit ins Deck mischen kann. So entstehen viele Ebenen, aber nicht zwischen allen gelingt der Brückenschlag. Und der Text gerät zum Labyrinth.
Genau ein solches soll er vielleicht auch sein. Was nämlich auch geschieht: die Auflösung der klaren Zeitachse kon-frontiert die Lesenden mit der vermeintlichen Sicherheit, die in der Distanz zu historischen Ereignissen liegt. Orte enthalten letztlich alle Zeiten, an die sich jemand erinnern kann oder an die irgendetwas erinnert. Das wird durch dieses Gedicht deutlich.
„Die Panzerspuren waren gefüllt
mit Brackwasser
Und aus den Bäumen schälten sich
wieder die Äpfel
Noch einmal liebte ein Junge
ein Mädchen rannte quer
Über die Felder, ich schrieb
auf den Sand der Uhren
Nemunas (litauisch): Die Memel“
Und wir gehen noch weiter nach Osten. Nach Litauen, streifen die Krim und die Karpaten; allgemein: die ehemalige Sowjetunion. Dieser Abschnitt ist benannt nach dem litauischen Namen für die Memel, eben: Nemunas.
Die Lesenden stehen im Licht der postsowjetischen Verhältnisse, in dem alle Gegenstände trotzdem noch ihre altvorderen Schatten werfen. Diesen Schein hat Schulz sehr virtuos eingefangen. Seine Sprache wühlt geradezu in den Lokalitäten, in der Anwesenheit, die er abzubilden sucht; lässt sie in den Zeilen aufleuchten, manchmal fast überschwänglich, bittersüß. Und doch steht hinter dem großen, oft sogar hohen Ton (so behaupte ich) ein Wunsch den Dingen gerecht zu werden, die in diesen Orten versammelt sind, an denen die Zeit überholt scheint, abgehängt.
In der Prager Straße bin ich eher umhergeirrt. Hier stolpere ich dann und wann, wenn mir ein Aspekt tief ins Auge springt und sich die Erschütterung zu einem Zögern auswächst.
„Als Vater ging, hinterließ er mir
ein Automobil mit bayerischem Motor. Ich warf die Zündung an,
fuhr mit 220 km/h nach Nürnberg, auf einer Autobahn, die Hitler
bauen ließ. Hörte Mahlers Zehnte, denn über diese Zahl kommt
kein Mensch hinaus. Zähle bis neun, dann geht dir ein offizielles
Schreiben zu. Nehmen sie das Erbe an, fragte der Beamte.
Als Mutter ging, hinterließ sie mir eine gebeizte Schrankwand,
einen Sekretär, drei Sammeltassen. Ich behielt die Tassen
im Schrank, stellte den Sekretär auf eBay.“
Es folgt eine Reihe von ausgewiesenen Stolperstein-Gedichten, in denen zum ersten Mal der Bezug zu dem bekannten Projekt von Gunter Demnig vollends klar wird („Stolpersteine“ sind nämlich jene kleinen Gedenktafeln aus Messing, die überall in Deutschland und auch in vielen anderen Ländern Europas ins Pflaster eingelassen sind, vor Gebäuden in denen vom Naziregime ermordete Menschen zuletzt gewohnt haben).
Da geht es ziemlich wüst zu, die Gedichte changieren zwischen behutsamem Bergungsversuch und einer forcierteren Tonlage. Manches wirkt durcheinandergewirbelt und doch könnte manches nicht deutlicher sein. Ich muss an das Cover denken, den Besteckhaufen (vielleicht Silbergeschirr?, den deportierten Familien entrissen…), eine endlose Menge an Gabeln, Messern, Löffeln, ein Gewirr; es ist nicht klar, woher welches Stück kommt, es ist einfach eine Anhäufung unzähliger Metallstücke, Sinnbild vieler Familienleben, von denen nur diese wahnsinnige Flut an Utensilien übrigblieb. Dieses Bild, vielleicht ist in ihm eingefangen, woran sich die Gedichte abarbeiten, mit ihren komplexen, manchmal aggressiven, dann wieder feinen Einlassungen.
„Nur so zum Verständnis: Das Geschlecht des
tropischen Waldes drängt gewaltsam in die Städte der ersten Welt
Etwas bleibt unbegradigt, führt in schwindelerregende Höhe.
Das ewige Trockeneis der Wüste. Eine Indio-Frau wäscht aus dem
Mais den steinernen Samen.“
Es folgen „Mexikanische Strophen“, Schnappschüsse voller Anspielungen, ein großer Wandteppich amerikanisch-tropischer Phantasien und Realien, in Sprache getunkt; stets fest im Blick dabei: der Zauber und die Entzauberung. Es sind mir über weite Strecken die liebsten Gedichte aus diesem Band. In sie kann ich mich wirklich versenken.
Ein weiterer Sprung auf der Weltkarte führt anschließend nach Kamtschatka, auf jene lange Halbinsel, äußerster Zipfel des östlichen Russlands. Eine leicht mystische Region, der ich als Kind zum ersten Mal auf einem Risikobrett begegnete. Ich kann daher gut verstehen, dass Tom Schulz den Gedichten dieser Reihe den Satz voranstellt:
„Wie oft ich Kamtschatka sagte, war es doch gleich nah wie fern.“
Diesem Gebiet nähert sich Schulz wieder auf ganz eigene Weise, beginnt mit mythischen Geburtsvorstellungen, dann lassen Verbundenheit und Natur die Welt aus einem Nebel hervortreten, der dennoch bleibt, nie ganz durchdrungen. Auch hier bekommt man das Gefühl, dass die Sprache in die Dinge hineinsickert und bis zum Grund vordringen will, wo sie wurzelt, wo ihr Herz schlägt.
„Im Amphitheater spielen die Jungen
die Tragödien sind fortgezogen
die Bänke leer, die Reihen
Versehen mit Kieseln und Schluff
bis der kleine Ronaldo mit Nummer sieben
den Ball an der Sonne vorbeischießt“
Noch hervorheben will ich den Zyklus „Heraklits Tablet“. Fast lapidare Gedichte, jeweils in zwei Dreizeilern gruppiert, die in ihrer Kürze unerhört schnell Distanzen und Entfernungen zurücklegen und famose Dynamiken entwickeln.
Man könnte noch viel, sehr viel über diesen Band, seine Richtungen und Ausprägungen der einzelnen Zyklen schreiben. Es ist einer dieser Bände, bei denen man das Gefühl hat, man kann ihnen als Rezensent nicht gerecht werden, nur als Leser.
Beeindruckend an diesem Band, ganz ohne Frage: Die Sicherheit, mit der alles poetisch anverwandelt wird. Was Sprache sich hier an Bildern zu eigen macht, wie nuanciert dieser Vorgang abläuft: ein einzigartiger Genuss. Ich bin elektrisiert – und doch nicht wirklich zufrieden. Es fehlt zwar keineswegs an Ökonomie, aber doch an: Maß. Diese Gedichte sind überladen, ich glaube, ich kann das einfach so zu sagen. Ihnen gelingt durch dies Überladensein eine gewisse Entfesselung ihrer Kräfte, aber ich fühle mich dadurch auch immer etwas weggedrückt von den Zentren der Gedichte, bin dazu gezwungen, auf einer eher entfernten Umlaufbahn um sie zu kreisen.
Man könnte sagen: das ist ein Feature, kein Fehler. Und dem will ich auch gar nicht widersprechen. Denn was ich als Entrückung empfinde, könnten andere ja als zusätzlichen Raum für ihre Freiheit bei Ausdeutung und Interpretation sehen. Als den Raum, den diese Gedicht erschaffen, je größer, desto besser.
Tom Schulz: Die Verlegung der Stolpersteine. Gedichte. Berlin (Hanser Berlin) 2017. 128 Seiten. 18,00 Euro.