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Tobias Roth über Büchner und Aretino

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Tobias Roth

Ein verschollener Scherbenberg


  testaccio, uomo senza fede, ti ha creato di quei
  cocci di che si ha fatto il monte
                                        Pietro Aretino, Dialogo

Tizian: Pietro Aretino, 1545,
(Palazzo Pitti, Florenz)


Es hat durchaus etwas Imponierendes, dass Pietro Aretino am 28. Juli 1525 zu Rom in Nacht und Nebel von Achille della Volta niedergestochen wurde, weil er konterbande Lyrik publiziert hatte, und ohne die aufmerksamkeitsbedürftige Projektion ins Kraut schießen zu lassen, wird man sich vorstellen dürfen, dass das auch Georg Büchner imponiert hat. „Weil“, so sagt man – aber wer weiß schon, was der päpstliche Datarius Matteo Maria Giberti darüber hinaus noch für offene und geheime Gründe hatte, den letztlich erfolglosen Meuchler Achille anzuheuern; da wurden keine Akten von einem ordentlichen Untersuchungsrichter der Provinz Oberhessen abgelegt. Es geht das Gerücht, anziehend und exotisch wie alle Nachricht von verschollenen Büchern, Georg Büchner habe gegen Ende seines Lebens ein Theaterstück unter dem Titel Pietro Aretino geschrieben.

Was hat er geschrieben, hat er überhaupt etwas geschrieben? Die Überlieferungs-geschichte hat einigermaßen bittere Züge, da die Nachricht von jenem Stück von den gleichen Personen ausging, die Büchners Nachlass erheblich verkleinert haben. Die vage Ankündigung geht zurück auf einen Brief Büchners an seine Verlobte Wilhelmine Jaeglé vom 20. Januar 1837 (also recht genau einen Monat vor seinem Tod), in dem Büchner in Aussicht stellt, er werde „in längstens acht Tagen Leonce und Lena mit noch zwei anderen Dramen erscheinen lassen.“ Was er damit meinte, ist nicht überliefert; eine vergleichbare Briefstelle (aus dem September 1836, an die Eltern) spricht von „meine zwei Dramen“, und bezeichnet damit „Leonce und Lena“ und den „Woyzeck“. Büchners Bruder Ludwig (elf Jahre jünger, d.h. beim Tod Georgs erst 12) kommentiert in seiner Edition der Nachgelassenen Schriften von 1850: „Das dritte Drama, dessen Büchner Erwähnung thut, kann nur dasselbe sein, das schon in dem angeführten Straßburger Brief vorkommt, und von dem keine Spur aufgefunden werden konnte. Es handelte, wie aus mündlichen Mittheilungen des Dichters an seine Braut hervorzugehen scheint, von dem Florentiner Pietro Aretino.“
Scheinbare mündliche Mittheilungen, das ist allerdings etwas mager, scheint kaum vertrauenswürdig. Andererseits ist ein Drama über Pietro Aretino so abseitig, dass man eine solche Aussage Büchner kaum wird untergeschoben haben; wozu auch? Wie Büchner wiederum auf die Idee kam, über Aretino zu schreiben, ist eine hochkarätige Preisfrage. (1835 hatte er Victor Hugos Lucretia Borgia übersetzt, und dabei am Personal dieser Zeit vielleicht Geschmack gefunden.) Abgesehen davon scheint mir der Verdacht angebrachter, dass Jaeglé und Büchner jr. eher Hinterzieher als Dazuerfinder waren. Nach dem Tod Büchners, zu dem Wilhelmine gerade noch eingetroffen war, wanderte der Nachlass in ihren Händen nach Straßburg; als Karl Gutzkow kurz danach als Herausgeber um Material anfragte, waren nicht nur viele Briefe schon verschwunden, sondern auch die Manuskripte von Leonce und Lena und Lenz, nebst einem Tagebuch, und vielleicht auch der Aretino; und die fragmentarischen Abschriften der Jaeglé, die Gutzkow bekam, wurden auch noch von Vater Büchner nicht zur Druckerpresse gelassen, bis dann der Bruder 1850 durfte, ein Elend. (Sehr schön folgen im Büchner-Handbuch die Überschriften: „10.2 Überlieferungs-verhältnisse. 10.3 Nachlassmisere“).

Was ist da also 1837 in Zürich mit welchen Texten geschehen? Es gibt eine Imagination des Tathergangs, das Theaterstück Büchners Tod von Gaston Salvatore (1941 in Chile geboren, schreibt allerdings auf Anregung Enzensbergers auf deutsch und lebt, nach Einschätzung von Dr. Irene Fantappiè, der ich auch alles Wissen über Aretino verdanke, im schönsten Haus von Venedig), das am 7. Oktober 1972 in Darmstadt uraufgeführt wurde. Büchner stirbt in seinem Zürcher Sterbezimmer und seine Halluzinationen sind ebenfalls auf der Bühne zu sehen. Auch hier kommt Jaeglé, unter dem Namen Minna, als Nachlassverwalterin schlecht weg:

BÜCHNER schlaftrunken: Minna, hast du alles gut versteckt?
MINNA die ihn zu verstehen glaubt: Ich habe alle Briefe in Straßburg.
CAROLINE: Er meint nicht die Briefe, der meint das Aretino-Manuskript.
Büchner ist eingeschlafen.

Zwei Traumszenen zeigen Aretino, einmal im Florenz als Nebenfigur Savonarolas, einmal in Rom als Nebenfigur Agostino Chigis, er bekommt je einen kleinen Monolog, als mediale Macht, auch ein wenig als kritische Stimme, aber blass insgesamt. Interessant ist eine zitierte Handlung:

Aretino wird von einem Hauptmann ins Zimmer gezerrt. Aretino spuckt Chigi ins  Gesicht. [...]
CHIGI außer sich: Was?
ARETINO: Verzeih, aber Dein Gesicht ist das einzig hässliche in diesem Haus.

Diese Geste der Prunkkritik, die den Besitzer mit und durch seinen Besitz erniedrigt, wird zum Verwechseln ähnlich von Diogenes Laertius dem Philosophen Aristipp zugeschrieben und von Niccolò Machiavelli dem Condottieren Castruccio Castracani, zum Verwechseln ähnlich auch die Beschreibungen, die die Handlung ein- und ausleiten; was für eine illustre Runde. Jedenfalls, wichtig ist, was Büchner von und mit Aretino will, und gerade hier lässt Salvatore keine Zweifel, der Dichter spricht:

BÜCHNER: Erinnerst Du Dich an Pietro Aretino? Er hatte begriffen, wie ich  begriffen habe. Die Gesalbten und Heiligen. Es sind alle Schwindler.

Was sollte nun Büchner bewegen, ein Stück über Aretino zu schreiben? Nur Vermutungen, nur ein Gestrüpp aus Pareidolien, verführerisch, aber es muss behutsam durch die Zeit gehen; ein Spaziergang durch eine Landschaft, die sich bereits nach einer handbreit Grabung als Menschenwerk herausstellt. In Rom erhebt sich ein Hügel, bewachsen und bewaldet, der vollständig aus antiken Scherben besteht, der Monte Testaccio, Müllhalde bis ins vierte Jahrhundert, seither Landschaft. Daraus gehen wiederum Menschen und ihre Geschichten hervor, eine Dame ruft es in Aretinos Dialogo einem Widergänger des Aeneas zu: „Treuloser Mann, der Monte Testaccio hat dich aus den Scherben erschaffen, aus denen er selbst besteht.”
Gewiss lässt sich Aretino glaubhaft und sachgerecht als Kritiker der Kirche und einiger Fürsten zeichnen, als Anwalt der Freiheit (besonders natürlich Rede- und Druck-), als jemand, der eben wegen pornographischer Lyrik allerhöchster Qualität 1525 niedergestochen wurde; aber aus welchen Beweggründen Aretino die spitze Feder geschwungen hat, ist nocheinmal etwas anderes, und umso weniger Berührungspunkte sich mit Büchner aus meiner Sicht ergeben, umso anziehender wird die Frage, was auf diesen verschollenen Seiten gestanden haben soll.

Was, entlang einiger Gemeinplätze, auf denen Büchner zu finden ist, konnte ihn etwa an Aretinos Politik bewegen, sollte er darüber geschrieben haben? Die Selbstherrlichkeit des Schreibenden, Anflüge und Auswüchse von Privatpolitik? Erst in einem Alter, in dem Büchner bereits tot war, bietet sich für Pietro Aretino die Gelegenheit, überhaupt jemanden zu provozieren, in Rom, als Günstling der Chigi und der de’ Medici. In der gewaltig langen Amtszeit von Papst Leo X de’ Medici (1513-1521, Giovanni, Sohn des Magnifico) schreibt er eine Satire auf den Tod des päpstlichen Lieblingselefanten Hanno; aber bekommt offenbar keinen Ärger. Probleme kommen mit einem nordischen Papst, der allerdings schnell vorübergeht, und die Ordnung ist wiederhergestellt, als Clemens VII de’ Medici (Giulio, Sohn des im Ostergottesdienst ermordeten Giuliano) 1523 den Papstthron besteigt.
Als Aretino 1525 Rom verlassen muss, geht er in den Norden, im Schutz von Giovanni de’ Medici, Sohn der Caterina Sforza. Gewiss hat sich Aretino eine Landschaft durch seine Schriften unbewohnbar gemacht, wie auch Büchner es getan hat, durch ein System von Flugschrift, als die Druckerpressen noch nicht die Kraft hatten, die Büchner genossen hat und die es 1525 nur in Venedig gibt. Nicht die Zettel kamen zu vielen Leuten, sondern viele Leute kamen zur sprechenden Statue Pasquino, die in Rom traditionell durch ungefilterte, angeheftete Zettel spricht. (Dass eine dahergelaufene Stadtverwaltung 2010, 509 Jahre nach der Aufstellung der Statue, behauptet hat, man könne dort keine Verse mehr anbringen, ist ein unerhörter Fall von Verwaltungshybris.) In kleinerer „Auflage“, aber mit durchschlagenderem Inhalt bediente Aretino die Neuen Medien Druck und Kupferstich (jene berüchtigten Modi, pornographische Lyrik allerhöchster Qualität, zu Kupferstichen von Marcantonio Raimondi nach Gemälden Giulio Romanos). Aretino konnte das Gift seiner Satire so lang fließen lassen, bis er an den Falschen geriet oder Fortuna den Falschen erhob; aber der Kurs seiner „Politik“ war wechselhaft bis zur Paradoxie (etwa gegen die Gonzaga in Mantua), weil nur auf ihn selbst ausgerichtet (Besondere Kennzeichen: Kurzsichtigkeit).


Links: Zeitgenössischer Pasquillant
Oben: Die Pasquinus-Statue vor dem Edikt 2010
mit Schmähschriften


Die Fürstentümer in Italien sind zuweilen so klein, dass tatsächlich eine Nase „etwas wie ein Vorsprung“ im Grenzstreifen wird, aber das Selbstgefühl dagegen: das Land ist übersät mit Städten, die als Staaten auftreten (allein gegen die Stadt Venedig vorzugehen, brachte die internationale Bündnispolitik an die Grenze der Belastbarkeit). In Bezug aber auf den Fürsten sind Aretinos Katastrophe und Büchners Hoffnung oft genug identisch. Kommt der Krieg in die Paläste, gerät Aretinos Bahn ins Schlingern: als Giovanni de’ Medici, am 25.11.1526, abends, niederkartätscht wird, hat Aretino ein Problem; 1527 geht er nach Venedig.
Erst 1530 steht er wieder halbwegs stabil, der Papst hat ihm offiziell vergeben, der Doge Andrea Gritti hat ihn unter seine Fittiche genommen, er wohnt in einem Palast am Canale Grande. Aretino betreibt seine Literatur als Koordinator und Maschinist, wie ein Maler seiner Zeit mit einer großen Werkstatt Altarblätter produziert, er beschäftigt einen Stab von Gelehrten und Ratgebern (etwa Niccolò Franco, Francesco Cocci und Ludovico Dolce, von denen sich eine markante Mehrheit zu erbitterten Feinden wandelt), geht enge Bündnisse mit Druckern ein (etwa Bernardino de’ Vitali, Francesco Marcolini und Gabriele Giolito de’ Ferrari) und seine papierene Hand reicht weit; die Anekdoten variieren, wie viele hundert Söldner man mit dem Zerstörungspotenzial einer schneidigen Schrift von Aretino verglich.
„Dreschflegel der Fürsten“, flagello dei principi, jenen Kampfesname, den Aretino mit Stolz führte, wird man aber so eng nicht nehmen dürfen, als dass man ihn auf politische Aktion vor dem Hintergrund eine Überzeugung beziehen könnte. Aretino dreschflegelte vor allem die Fürsten, die nicht zahlten. Über die Geburt des Publizisten aus dem Geiste des Schutzgeldes. Lodovico Domenichi beschreibt in seinem Dialogo della Stampa (1562) den Autor, „der das Blut von Drachen trinkt und sich von Chamäleons ernährt“; Domenichi meint das ganz und gar nicht schmeichelhaft, aber es ist ein wunderbares Bild, das er verwendet. Eine Unverschämtheit wie die Beschreibung „Alter: 21 Jahre, Größe: 6 Schuh, 9 Zoll neuen hessischen Maases, Haare: blond, Stirne: sehr gewölbt, Augenbrauen: blond, etc.“ hat sich Aretino nie gefallen lassen müssen.

Was konnte Büchner etwa an Aretinos Religion bewegen, sollte er darüber geschrieben haben? („Die Gesalbten und Heiligen. Es sind alle Schwindler.“) Auf der einen Seite hat es den Anschein, dass Aretino vertraut genug mit den vatikanischen Verhältnissen war, dass er die katholische Religion als ein Fürstentum unter Fürstentümern nahm; ein wenig quer dazu, aber strukturell entsprechend zu handhaben. Soweit ich sehen kann, ist Aretino nicht mehr in religionspolitische Handgreiflichkeiten verwickelt, nachdem er sich in Venedig niedergelassen hat (was auch am Klima Venedigs liegen mag). Überhaupt darf man nicht vergessen, dass Aretino einer der erfolgreichsten Frömmigkeitsschriftsteller seiner Tage war, und eine Menge erbaulicher Bücher vorgelegt hat, zum Beispiel La Passione di Gesù, I Sette Salmi della penitenzia di David (beide 1536), La Humanità di Cristo (1538), und Lebensbeschreibungen der Heiligen Katharina und des Heiligen Thomas (1540 und 1543).
Der Autor spart auch nicht an Berichten über göttliche Eingebung und himmlische Aufträge; und fast genauso amüsiert es, dass in der Forschung abwechselnd Aretinos erotisches und religiöses Werk als rein geldorientiere Brotschreiberei abgetan werden. Da Aretino, überraschend für seine Zeit, kein Latein konnte, war er auf Übersetzungen und Kommentare angewiesen (man erinnere sich an die oben erwähnten Gelehrten, die er angestellt hatte), auch in Bezug auf die heiligen Schriften.
Es kam ihm zugute, dass Antonio Brucioli just in diesen Jahren (1530-34) eine italienische Übersetzung der Bibel vorlegte – man weiß auch aus Deutschland, was es Anfang des 16. Jahrhunderts für ein Politikum ist, die Bibel neu zu übersetzen, und tatsächlich war Brucioli ein durchaus lutherophiler Kopf. Die Liste der Querelen, in die er verwickelt war, würden einem Büchner keine Schande machen: 1498 in Florenz geboren, 1522 aus Florenz verbannt (von den de’ Medici), nach einem Rückkehrversuch 1527 erneut verbannt (von den Dominikanern), schließlich in Venedig, als eines der Häupter der Reformbewegung und des Nikodemismus, angeklagt wegen Häresie 1548, 1555 und 1558. Zugleich ist er eng mit den Künstlern vernetzt und schlürft, wie auch Aretino, die Kraft der bildenden Künste in seine Texte ein. Das Titelbild seiner Bibelübersetzung wird Lorenzo Lotto zugeschrieben, die Holzschnitt im Text sind genaue Kopien nach Hans Holbein (d.h. den Holzschnitten der Bibelübersetzung Luthers), sein Dialog Arco celeste (1537) zeigt erstmals Tizian als literarische Figur; Pietro Aretino war der Taufpate von Bruciolis Söhnen.
Aber dennoch wird man Aretino nicht als revolutionär gesinnten Lutheraner beschreiben können. Zwar legt er 1549 schriftlich vehemente Beschwerde ein, als sein Beichtvater Fra Curado, ein Franziskaner von San Niccolò della Lattuga, wegen Lutherismusverdacht eingekerkert wird, was auch bei aller theologischen Paranoia dieser Tage nicht grundlos geschieht, aber man wird ihn eher mit Erasmus von Rotterdam in Verbindung bringen können. Und schließlich wird man die Schublade nicht zu genau nehmen müssen, wenn man damit am Autor vorbei Maß nimmt.
Aretino schrieb 1545 an Paolo Giovio, dass Jesus weder Theatiner noch Lutheraner gewesen sei (Theatiner wie Gian Pietro Carafa, späterhin Papst Paul IV, kein besonderer Freund von Aretino und wohl an Katholizismus auch im Sprichwort nicht zu übertreffen), und in ironischer Verzerrung beschreibt der eingangs zitierte Dialogo den Brauch, jeden Morgen fünfundzwanzig Kirchen zu besuchen, um dort ein bisschen zu beten und dort ein bisschen, dort ein Stückchen Segen einzuheimsen und dort ein anderes. Wenn die Kirchen so dicht stehen wie in Venedig, ist das wahrscheinlich wirklich das beste Rezept einer “commoden Religion”. Am Ende geht es eben wieder um Makkaroni, Melonen, Feigen, musikalische Kehlen und klassische Leiber. Genug davon, der Mensch hat mich vorhin konfus gemacht.

Was hätte Büchner schließlich überhaupt aus der Feder Aretinos lesen können? Ein Sommerintensivkurs im Italienischen, wie Büchner ihn mit siebzehn genossen hat, wird schwerlich genügen, um Aretinos omnivorisches Gewirr aus Dialekten, Fachsprachen, Stilwechseln, Redensarten, Neologismen und Lautmalereien zur genussreichen Lektüre zu verwenden, und wenn es etwas nicht im Überfluss gab, dann Zeit. Was Büchner von Aretino wusste, was er von ihm gelesen hat, ob er überhaupt Aretino im Original gelesen hat, das wäre die ganz entscheidende Frage, aber ich habe keine Ahnung und keinen Anhaltspunkt.

Was? Wer das Manuskript findet oder überzeugend fälscht, soll in Gold aufgewogen werden.


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