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Tobias Roth: Kirchspiele - Florenz, San Felicita

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Betäubung und Verwirrung, in der wir stehen, ohne eine Spur religio daran. Nehmt das Kreuz ab. Was nicht in den Himmel des Mittags und Abends gekleidet ist. Alle Figuren auf ihren Zehenspitzen wie Tänzer. Da sind starke Aufwinde. Die Stadt ist ein Ofen und es gibt ein paar junge Leute, die warten, bis die Kirche öffnet und sie zu einem Gemälde von Pontormo können; da ist nichts, was sie sonst verbindet und sie sprechen kein Wort miteinander. Die Mücken kommen bis in die Kühle der Kirche herein, Schwarm im Blau, im seidenen Blau, am Morgen ernten sie die Schwärme der Schwalben, Schwärme, die in Schwärmen aufgehen, wie unter Baldachinen. Körper ohne Blut. Die Cappella Barbadori-Capponi gleich beim Eingang. Die Welt ist leicht auf den Zehenspitzen wie Tänzer in diesem Moment, in Pontormos Kreuzabnahme, in dem Moment, da Christus Mensch ist, da er tot ist, und die Welt kann das Kreuz abnehmen, um sich gehen zu lassen, um wie Pontormo über einen Vers Petrarcas zu wetten. Mit keiner der Figuren, aber ganz oben schwebt, in Grün statt Blau, mit kurzen blonden Locken, tief ausgeschnitten, ein Hesperidengarten. Sinkt zusammen, entschlüpft durch das schwarze Loch, das fast im Zentrum des Bildes steht: dem Zentrum, das den Florentinern so heilig ist: eine Hand eilt, mit einem blauen Tuch, ganz im Zentrum, um die schwarze Wunde im Holz zu schließen, aber kommt zu spät. Sinkt zusammen, legt das Kreuz ab. Durch das Gewirr der Hände und Tücher, in das kein Sinn zu bringen ist. Es steht nur ein Wölkchen am Himmel, konturlos in der Hitze. Die Sonnenfinsternis ist vorbei, kein Kreuz weit und breit, von Moment Eins an, da wir endlich die Götter los sind.


(Florenz, San Felicita)


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