Tobias Roth: Grabungsplan
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Michael Braun
Ornament und Girlande
„Grabungsplan“: Tobias Roth poetische Expedition zur Kunst
des Mittelalters
Durch eines der schönsten Kunstwerke der Welt verläuft seit
dem Sommer 2012 ein tiefer Riss. Es ist „das gemalte Zimmer“ der Fürstenfamilie
Gonzaga im Palazzo Ducale im norditalienischen Mantua, das ab 1460 von dem
ersten Hofkünstler der Kunstgeschichte, dem genialischen Maler Andrea Mantegna,
an der Decke und an allen vier Wänden fast vollständig mit Fresken ausgemalt
wurde. Dieses mythische Terrain hat die Weltpoetin Inger Christensen 1976 in
ihrer Erzählung „Das gemalte Zimmer“ (sie erschien auf Deutsch 1989) in Poesie
verwandelt. Vierzig Jahre danach wählt der Dichter Tobias Roth, ein exzellenter
Kenner der Kunst und Poesie der Renaissance, das mythische Zimmer der
Gonzaga-Familie zum Ausgangspunkt einer kunst-archäologischen Reise durch
diverse Schichtungen und Sedimente europäischer Geschichte. Im Mai 2012 sind
durch das große Erdbeben in der Lombardei auch zahlreiche Kunstwerke der
Renaissance in ihren Grundfesten erschüttert worden und auch die berühmte
„Camera degli Sposi“ blieb von Schäden nicht verschont. In dem langen
Eröffnungsgedicht von Tobias Roths „Grabungsplan“ wird eine Bilanz gezogen, die
nicht nur die kunstgeschichtlichen Verluste in den Blick nimmt, sondern auch
die politischen Verwerfungen der Gegenwart thematisiert: „wir wissen jetzt schon
die simplen/ Weisungen der Menschlichkeit nicht mehr, wir brauchen die Redner/
bei den Särgen und das das lange Gedächtnis und wieder/ über den Riss gebrückt.
Das Erdbeben Zweitausendzwölf gibt/ hierzu keinem Herrscher Anlass, längst
fortgerissen.“
Es gehört zu den Kompositionsprinzipien dieses historisch
und mythologisch weit ausgreifenden Gedichtbandes, dass jedem Kapitel ein Zitat
eines Renaissance-Poeten und ein aus sinnlichen Reizen und figurativen
Assoziationen gewebtes „Girlanden“ -Gedicht vorangestellt wird. Hinzu kommt ein
Glossar, das botanische, altertums- oder kunstgeschichtliche Fachbegriffe
erläutert, die in den dann folgenden Gedichten auftauchen. Man spürt beim Lesen
sofort, dass hier ein überaus gelehrsamer Dichter am Werk ist, der in der Art
eines lyrischen Cicerone durch die mythenträchtigen Landschaften Nord- und
Mittelitaliens führt, mit kleinen Exkursionen über die Alpen bis nach Bayern
und ins Baltikum. Als ein Zentralmotiv fungiert dabei das Akanthus-Gewächs und
seine symbolische Funktion als Ornament in der Architektur und der Kunst.
Der „Grabungsplan“ des gelehrten Dichters Tobias Roth erweist sich als poetisches Verfahren, den einzelnen Bildwerken, Fresken, Statuen und anderen Objekten einen lyrischen Kommentar an die Seite zu stellen. Als Beispiel mag hier die Statue der Athene gelten, der sich Roth in Form der Ekphrasis nähert:
Der weiße Zopf plätschert rücklingsdurch Rüstung und Tücher, die, durchnässt,in stehender Welle um die Füße spielen,der leichte Schritt(Odysseus wie Aeneasüber blutenden Kirschen,zu ihren Füßen lag er lang, weinteso heftig der Hilflosen)still und schweigend wie Mysten.Jahrtausende liegen zwischen denTeilen dieser Statue, Jahrhundertezwischen den Ergänzungen.Astlöcher und Pfropfreiser,weiße Fugen im Weiß, Pflanzen, die auf Pflanzenwachsen, Gärtner, die deine Schützlinge sind,Athene.
Dieses Exempel aus dem mythen- und figuren-reichen Band
„Grabungsplan“ zeigt auch die Gefahren, die im poetischen Verfahren der
Ekphrasis liegen. Denn es gibt nicht wenige Gedichte in diesem Buch, die sich –
wie im hier zitierten Gedicht „Eine Athene“ - etwas profan auf die skizzenhafte
Deskription der einzelnen Kunstwerke beschränken und auf eine formal strenge
Musikalität und rhythmische Artistik verzichten. Gewiss hat Joachim Sartorius
Recht, wenn er Tobias Roths „Grabungsplan“-Gedichten eine „luzide, forschende
Sprache“ bescheinigt, und dass uns Roth am „sinnlichen Reichtum europäischer
Kulturtraditionen“ teilhaben lässt. Aber nicht in allen Gedichten dieses Bandes
demonstriert uns dieser Dichter sein geschärftes Formbewusstsein, über das er
zweifelsohne verfügt. In einem Gedicht wie „Gewölle“, das aus Ovids
„Metamorphosen“ die tragische Geschichte des Ceyx, des friedliebenden Königs
von Trachis und Gefährten der Alkyone, aufgreift, der mit seinem Schiff auf dem
tobenden Meer untergeht und mit Alkyone in einen Eisvogel verwandelt wird,
gelingt die Balance zwischen sinnlicher Evokation und Reflexion des antiken
Stoffs. Ein enigmatisches Gedicht entsteht, das metrisch den Hexametern Ovids
nachgebaut ist, aber seinen Stoff neu komponiert und einer eigenen Bilder-Logik
folgt. Bereits die ersten beiden Verse geben einen hohen Ton vor und überbieten
sich in kühnen Metaphern und Oxymora („Milch des Mohns“). Die
Antike-Begeisterung erzeugt hier eine überbordende Bilderflut – Tobias Roth at
it´s best:
Gewöllelegit et spargit soporem noxLöscht den Zweifel endlich aus Himmel und Erde. Dieersten Schatzhäuser, Milch des Mohns, ziehen uns fort.Gemurmel drückte Wellen, sprach zu Wangen des Kissens,irrte aus der blauen Kehle über das Blau und fragte wo.Tangwälder aus Schlaf unter zahlloser Nacht, und ein Alperhob sich unter den Söhnen und deutete den Wassern wo.Tage der Stille folgen, Gabe für Tochter und Töchter,sind so weich wie weißer Seekork und jede Wellepocht wie Ähren nur, abwesend, leicht und warmAlcyones schwimmendes Nest dahin, Auferstehung. Zu lesen und zu zerstreuen.Reste der Tränen sind nun Meerwasser ohne wo.Gierig laufen die Träume nach dem Gewölle des Ceyx.
soporem nox legit et spargit
Ovid, Metamorphosen, XI, 606
Tobias Roth:
Grabungsplan. Gedichte. Mit Illustrationen von Ibou Gueye. Verlagshaus Berlin,
184 S., 15,90 Euro