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Titus Meyer: Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung

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Armin Steigenberger

Neues aus Wolkenkuckucksheim

Zu Titus Meyers „Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung“


Beim Titel für diese Rezension schwank(t)e ich. Obiger scheint mir am besten zu passen, auch wenn er das Überkandidelte unterstreicht und somit überbetont, was mir nicht hundertprozentig recht ist. Ich bin gerade der Meinung: Überkandideltsein tut Not! Im Überkandideltsein ist nicht nur eine gute Portion Albernheit zu Hause, sondern auch kreative Spielfreude. Wenn jemand glücklich und begeistert und ein bisschen überkandidelt in seiner guten Laune ist, in a good mood, hat sie oder er auch Spaß am Spiel. Der&die&das sprüht förmlich vor Ideen – und ums gleich vorwegzunehmen: Titus Meyers Buch sprüht. Und: Man kann gar nicht albern genug sein. Nochmal: Man kann gar nicht albern genug sein!

Anfangs wusste ich gar keinen Begriff dafür, welcher Art von Textfamilie man die Arbeiten Titus Meyers zurechnen könnte, auch wenn sich sofort klare Definitionen jeder einzelnen Variante, mit denen der Autor Buchstaben und Worte in Mustern arrangiert, aufdrängen. So geht es im neuen Gedichtband des Autors mit dem Titel Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung um alle bekannten Verfahren, Geschriebenes in diversen Modellen zu gruppieren, zu schütteln, zu spiegeln usw.: Allesamt Textarten, die zusätzlich sich selbst eine meist sehr schwere (und für Laien schier unlösbare) Aufgabe aufbürden; Textarten, die in der gekonnten Umsetzung, wie sie schlicht und einfach auf dem Papier stehen, durch ihre direkt ablesbare kristallklare Lösung bestechen; Textarten, die allein damit ihre ganz eigene Faszination bewirken. Alles, was an sich schon poetisch ist, will ja noch einmal gewendet, gewandelt werden.


Vers: ach Licht,
versachlicht.

Poe, try
Poetry!


Auf dem Buchrücken wird die Gattung benannt als „Formen wie Palindrom, Anagramm und Homografie“ – in dieser Weise werden derlei Verfahren oft unter einen Hut gepackt: das Nachwort schlägt zwei Lesepfade vor. So scheint es gerade positiv zu sein, dass es nicht für alles ein fertiges Raster gibt, eine generalisierende Kategorie bzw. ein zugrundegelegtes Genre, obwohl dennoch „diese Art von“ Verfahren, mit Wörtern, Silben und Buchstaben umzugehen, immer in eine (zugegeben vage) Schublade gesteckt wird. Wenn sie schon nicht existiert, so wird sie dennoch gedacht (à la: alles existiert nur „in den Köpfen“!); und es gibt auf jeden Fall eine solche Kopfschublade für „Formen wie Palindrom, Anagramm und Homografie“. Das liegt nahe, weil es innerhalb der durchgespielten Muster und Phänomene innere Bezüge und Verwandtheiten gibt, wie z. B. ein Palindrom als Spezialform des Anagramms gelesen werden kann.

Wo lag nu Bungalow?

Da Bier & Freibad
heilt, lieh
er Raki & Karre.

(…
)¹


Wenn man der Sache weiter nachgeht, stößt man auf Begriffe wie „textbasierte Rätsel“, „Buchstabenspiele“ oder gar „mathematische Basteleien“, „magisches Quadrat“, die zwar als generelle Kategorie denkbar oder für Rätselfreunde geradezu passend erscheinen. Bei Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung handelt es sich dennoch um Literatur. Mir persönlich weniger geeignet erscheinen Verweise auf das Experimentelle, und dennoch werden sie an ebendieser Stelle hinzugedacht. Der Blog Trauerfreuart² ordnet Titus Meyers Texte folgendermaßen ein: „Kategorie: Buchstaben-, Silben- und Wortpalindrome, Art: vielfältige Permutations-Gedichte, Empfehlung: für Liebhaber experimenteller Lyrik“. Bei dem großen Zauberhut „experimentell“, der begrifflich meist alles und nichts abdecken soll, was nicht als normalschnöder Alltagssatz lesbar ist (und dergestalt vor Inhaltismus sprüht!?), musste ich doch ein wenig schlucken. Hier ist das Nachwort des Verlegers und Herausgebers Bertram Reinecke erhellender, was man heute alles schematisch-kategorisch unter den Überbegriff „Lyrik“ versammelt: ein weiterer solcher Zauberhut. Fast ein Staubsauger, der alles aufsaugt, was nur ganz entfernt aussieht wie ein Gedicht: wo man in anderen Zeiten noch nicht mal ein Sonett als „Lyrik“ zu definieren gewusst hätte³. Ebenso ist „experimentell“ nicht ganz passend, weil sich die experimentelle Seite der Texte simpel gesagt ergibt aus gespiegelten, umgedrehten oder geschüttelten Buchstabenkombinationen; alles muss quasi zweimal gemacht werden, braucht wie oben schon gesagt seine Entsprechung. So wird man das Endergebnis nicht danach finden, was sich einmal umkehren lässt, sondern sich eher von beiden Seiten her annähern und aufeinander zuschreiben, bis man einen Text bekommt, der sich einerseits relativ nahe am gewohnten Sprachgebrauch aufhält, aber eben doch dieses gewisse Etwas Mehr hat, weil man aus der Not eine Tugend macht; ein Text, der sich ergibt aus einer angesetzten rohen Textmasse, die auf ein Ergebnis hin von zwei Richtungen her sagen wir „interpoliert“ wird und zudem noch keine schnöden Umkehrungen liefert, wie sie mit Regenneger u. a. Palindromen in aller Munde sind, sondern in ihrer Umkehrung, im Gegenstück, in der gespiegelten Entsprechung etwas Neues gefunden hat, was Witz hat. Es geht im Endeffekt nur um diesen Witz. Denn dass es machbar ist, glaubt man jedem, der solche Texte virtuos fertigt. Er muss es nicht beweisen. Er muss allerdings die Schraube so weit drehen, dass er ein besonderes „Elaborat“ vorstellt; eines, das besonders Spaß macht und neben der obligatorisch funktionierenden Umkehrung/Entsprechung poetischen Reiz hat.

Dass die alt(rassistisch)e Welt der Regenneger sehr endlich sei, die seit hunderten von Jahren in naseweisen Rätselbüchern herumgeistern und uns glauben machen, es ginge nix anderes: dieses Märchen hält sich hartnäckig, gerade da, wo man relativ wenig zu tun hat mit Worten. Würde man nebenbei erwähnen, dass es ganze Palindromromane gibt, würden wahrscheinlich vielen Großrätslern die Kinnladen herunterklappen. Da ist ein Palindromgedicht, das von vorne und von hinten lesbar ist, eine ziemlich kurze Form dagegen. Und dass es eben nicht nur ums Umkehren geht, sondern auch Inhalte „hinterlegt“ sind, zeigt ein weiteres Palindromgedicht. Das eine ist die Form. Das andere ist der Inhalt.

Liebe

Ist sie miese Beilage?
Motor? Brunnen? Egge?
Weint Sitte, badet Tun.

Es Eide begehen: In Ehe
gebe diese Nutte, da Bett ist
nie weg, Genen nur Brot.

O Mega-Liebe.
Sei meist sie Beil?


Hier haben wir sehr konzise Aussagen über die Liebe, kunstvoll in ein Kleid gepackt, das man so eigentlich nicht für möglich hält. Dadurch werden auch so manche traditionsreiche Perspektiven herrlich und übermütig dekonstruiert. Ein guter Anlass, einen weiteren Aspekt zu erwähnen: Da, wo der Lyrik im Klischee  etwas Schwülstigschweres anhaften soll und manche*r Leser*in womöglich in „etwas Romantisches“ abtauchen will (z. B. in  schnulzigschöne Anschauungen der Liebe?), kommen hier schon rein sprachlich ganz andere Aspekte zum Vorschein, da die Sprache durch die Logik der Umkehrung selbst schon etwas erzeugt und mitschreibt, auch wenn natürlich der Autor alles am Ende arrangiert und zusammenfügt, also „Liebe und andere Formen des Terrorismus“? Wo doch „der (!)“ Lyriker als höchst (ver)zweiflerischer Kommaänderer gilt, der im Mindestfall acht Jahre an einem Vierzeiler arbeitet. Und wer genug hat von aller (angeblichen) „Schwermut“ und Tiefe“ (huh?), in welcher die deutsche Lyrik ohnehin schwülstigschwere Meisterin zu sein scheint (noch so ein Klischee), die sicherlich vielen (der bekanntlich ja sehr wenigen) Rezipienten die Mundwinkel tendenziös nach unten zerren –, kann umso mehr große Freude haben an Büchern wie Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung – allein schon den Titel kann man sich übers Bett hängen. Weil er einer*m (mir zumindest!) viertelstundenweise die Lachtränen in die Augen treibt. Aus diesem Grund schon finde ich das großartig. Es beweist zum x-ten Mal, dass Lyrik auch ganz leicht und locker daherkommen kann. Was ja nicht heißt, dass sie damit „nicht tief“ sei, sprich die ganzen Verwerfungen und Aporien der modernen Welt nicht in sich tragen könne. Hier geht’s nämlich gerade nicht „leicht und locker“ istgleich „oberflächlich“ und „mal eben aufs Papier geschludert“, sondern das geht schon auch durchaus differenziert zur Sache. Das Witzige bei diesen Formen: sie regen sogleich zur Nachahmung an, oder eigentlich nicht zur puren Nachahmung, sondern eher, etwas Eigenes zu versuchen: darin überträgt sich die Spielfreude.

Quizlöß

Styx vergab
jäh
WC-Knopf,
müd.


Hinzu kommt auch, dass evtl. diejenigen Leser*innen, die sich mit Gedichten normalerweise schwer tun, weil sie es sich nicht aufschlüsseln können und auch die emotionale Komponente an Dichtung nicht verstehen (oder hermeneutisch daherdeuten wollen), hier etwas Greifbares, „Nachprüfbares“ haben. Hier kann ich immer schauen – worin ja der zusätzliche Reiz besteht –: wie löst es sich auf, wie wird es in der Umkehrung verwandt und verwandelt? Es ist natürlich ein anderes Lesen wie bei Lyrik, da hier Sprache und Sprachmaterial intensiv in den Vordergrund gerückt ist und selbst in seiner „reinen“ Materialität ganz zur Spielfläche wird.

Bei Titus Meyer kommt hinzu, dass ich immer das Gefühl habe, es geht hier nicht nur um das reine Sportlertum, will sagen das prinzipielle Bestreben, dass alles am Ende aufzugehen habe wie ein Kreuzworträtsel, und man sich dabei lediglich an der eigenen Fingerfertigkeit erfreut. Sondern es hat doch das gewisse Etwas mehr. Obwohl Titus Meyer ein Vollblutvirtuose in seinem Fach ist und im wahrsten Sinne des Wortes muster-gültige Texte erschaffen hat, besitzen seine Texte eine unglaubliche Leichtigkeit. Die Umsetzung bei Titus Meyer ist stets äußerst spielerisch. Zudem mischen sich auch unterschiedliche Färbungen ein. Er „wechselt mühelos Töne und Stillagen“ (Klappentext), mehr noch: es blitzt der schelmische Humor heraus. Es geht in seiner Raffinesse darin weit über ein nerdhaftes „Worteumdrehen“ hinaus. So macht der „Agnostiker“ vor nichts Halt und palindromiert mühelos den Dichternamen Arthur Rimbauds, resampelt & recycelt (man denke an die Verwendung der Worte im Hiphop!) alles und nichts –immer mit einem guten Quäntchen Poesie. Jemand, der völlig humorlos wäre, sozusagen ein Rätselbürokrat bester Güte, würde am Ende nur ein schnödes Häuflein Buchstaben zustande bringen, die nichts weiter abstrahlen, wo sich höchstens durch Zufall ab und zu etwas fügt; bei Titus Meyer erscheint es so, dass das Maß zufällig geglückter Fügungen überdurchschnittlich häufig passiert, was Farbigkeit, Rhythmus, Witz und Schmäh betrifft; immer auch ein Ausdruck dessen, dass man solche Ergebnisse überhaupt denken kann und auf dem Zettel hat.

Es ist bekannt, dass eine Einengung der Möglichkeiten ein Mehr an Kreativität auslöst. Denn habe ich ein bestimmtes Raster zu „erfüllen“ und ist somit die Unendlichkeit meiner Möglichkeiten auf eine kleine Spanne eingegrenzt, können manche Kreative genau in diesem verbleibenden „Rest“ an Möglichkeiten sich erst Recht austoben. Die Einengung steigert den Willen zu „entfliehen“, d. h es geht auch um das Finden von Auswegen. Ich habe mich einmal mit Unica Zürn auseinandergesetzt, daraufhin auch an Anagrammen versucht (und mehr abgemüht). Da, wo Titus Meyer von Entfesselung spricht und sogar eine Lust an der Entfesselung beschreibt, erlebte ich selbst vielmehr eine Art Verzweiflung der Unlösbarkeit; in summa eher Frustration. Mich beschwerte es eher als dass es bei mir ein Mehr an Kreativität entfacht hätte.

Zum Glück sterben sie nicht aus, die sprachstarken, um nicht zu sagen sprachmanischen Dichter*innen wie Titus Meyer, die am Wort drehen und schrauben, und jeder Drehung noch einen Knuff & Kniff abgewinnen! Was die „rigiden Formen“ (Bertram Reinecke) betrifft: Man hat das ja nicht für möglich gehalten, dass das geht. Im rockmusikalischen Dingen musste auch erst einmal ein Jimi Hendrix kommen, um uns zu zeigen, was eine Rockgitarre alles kann. So ähnlich ist das hier auch.

Immer geht es dabei um Lösung: eine Aufgabenstellung muss gelöst werden, etwas muss „aufgehen“. Das ist bei Dichtung ja häufig so und macht einen nicht geringen Teil ihrer Faszination aus. Ein einfacher Paarreim kann Laien wie Ungeübte absolut faszinieren. Sagt man derart Reimwilligen, dass der Endreim als solcher ja gar nicht die eigentliche Schwierigkeit sei, sondern das Versmaß als solches, „der Fluss der Zeile“, blickt man oft in lange Gesichter. Bei Spoken Word und Hip Hop wird das Versmaß gekonnt durch den Flow umschifft, d. h. der Rapper realisiert z. B. zu erwartende Trochäen als Daktylen und bekommt ein triolisches Maß auf einen 2- bzw. 4-Vierteltakt.

Nemo-Nomen

Tuche
& Wein.
Hermeneutiktreppe,
diese Mannespille. Niemand
dablieb. Metathese der Leser hierherholt.

Velare, Bildnumen,
o Rabe der Herzleporellos,
Nebelnaesse, HTML, Ehebesorgnisse,
Gatten-Games, Eidhast.

Sah diese Magnettagessingrose behelmt Hesse an?
Leben soll er, o Pelzreh!
Redebarone, mundliberal evtl. Ohrehre?

Ihr Esel Rede seht: Atembeilbad.
DANN, mein Ellipsenname, sei deppert?
KI, tue ’nem Reh nie weh!

Cut.


Dieser Text macht mir zudem großen Spaß aufgrund seines nonchalanten sprich blasphemisch-subversiven Umgangs mit den „großen“ Themen, dazu brennen sich Worte wie das Herzleporello sofort ein. Die Handhabung der Satzzeichen ist souverän und trägt zum Fluss bei; sie sind wesentliches Instrument, dass die einzelnen Wortfügungen gut funktionieren. Oft ist es auch ein großes Vergnügen, einfach mal zu versuchen, den „Clou“ des Textes selbst herauszufinden.

Language ist

Brauchtum.
Lang u.a. Geist
braucht, um

derbe Steward
zu sein.
Der Beste ward
zu Sein.


So geht es in diesem Band um alle möglichen Verfahren, wie Buchstabenpalindrome, Silben-Palindrome, Anagramm-Gedichte, Abecedarien, Schüttelreim-Gedichte mit jeweils im Anhang sehr gut dokumentierten „Unter“arten. Vertikalpalindrome werden dabei als Novum vorgestellt und sind wohl in dieser komplexen Struktur tatsächlich eine Neuheit. Spätestens der Thriller Illuminati hat das Ambigramm salonfähig gemacht und zu einem Massenfaszinosum dazu; im Internet gibt es eine ganze Menge Schriftzüge und Logos, deren Witz darin besteht, dass sie auch auf den Kopf gestellt lesbar sind. Ein ganzer Text – das ist eben das Neue daran – von Titus Meyer in dieser Form ist punos sound; und wie unschwer zu erkennen ist, ist der Titel auch bei einer Drehung von 180° gedreht lesbar als punos sound. Es gibt Rätsel, die auf diese Art lesbar & lösbar sind: einige Beispiele, an die ich beim Lesen sofort denken musste, füge ich bei.¹⁰



Aus eigener Erfahrung möchte ich noch sagen: Je kürzer manche Texte sind, desto komplexer sind sie mitunter. Die „Zeitreserven“ für das Auspuzzeln z. B. eines Satorquadrats – auch davon ist ein Exemplar im Buch zu finden – sind nach oben offen. Jeder, der sich auch nur ansatzweise einmal damit befasst hat, weiß, dass es enorm aufwändig ist, z. B. halbwegs sinnvolle Anagrammzeilen zu finden und sie in einen Gesamtkontext einzubringen¹¹. Da scheint es Glück zu sein oder eine Art glückliche Fügung, eine Koinzidenz, was sich zusammenfindet und was nicht, welche Worte beispielsweise im Wortpalindrom ein Spiegelbild liefern, das ihnen umgekehrt „auf den Leib“ geschrieben ist, ohne dass man es in der Alltagsverwendung überhaupt wahrnehmen würde. Es gibt neben Titus Meyer wohl nicht viele Autoren, die so etwas mit derartiger Virtuosität umsetzen. Um sich danach anzuhören, was das nur für  albernes Wortgebastel sei, inhaltlich null und nichtig, und keinen Mehrwert habe.

Hat sie?

Ja, sie hat. Sie hat – und das ist eben genau das, warum ich das Buch so gut finde. Es ist  geradezu ein Thriller, was neben den an sich schon hochvirtuos gefügten Wortmachwerken an augenzwinkerndem Humor, treffsicheren Metaphern, Seitenhieb-Poesien und nie gehörten Wortkombinationen so ganz „nebenbei“ alles abfällt.

Ich kann allen Texten im Buch etwas abgewinnen, gerade die Heterogenität ist spannend. Ich mag das Buch auch sehr, weil es eine angenehme Alternative ist zu dem, was heute für Dichtung gehandelt wird, bei der die sprachliche Umsetzung angeblich keine Rolle spielt. Angenehm im Hinblick auf eine aktuell wiederbelebte und bepreiste (neoeskapistische, glattgebürstete, grundangepasste?) Biedermeierdichtung, bei deren Lektüre sich heute viele Leser*innen eher wegbeamen lassen wollen.

Dichtung

Dichtung:
Gicht und
Tuch-Ding



***


Titus Meyer, geboren 1986 in Berlin. Studium Skandinavistik und Germanistik in Greifswald 2008 bis 2012. Danach lebte er in Leipzig und seit 2015 in Berlin. Veröffentlichungen im Deutschlandfunk sowie in Literaturzeitschriften wie Randnummer, außer.dem und hochroth.


¹ In diesem Zeilen-Buchstaben-Palindrom ist jede Zeile auch rückwärts lesbar.
² Tauerfreuart ist auch ein Palindrom.

³ „Uns ist ein Gespür für die Eigenständigkeit von Schreibansätzen und Gattungen abhanden gekommen, das dabei half, Texte in der Eigenständigkeit ihres künstlerischen Anliegens wahrzunehmen. Ein Opitz oder ein Gryphius mit ihrer Schulung an antiken Klassifikationen hätten schon den Gedanken, dass es sich bei einem Sonett oder einem Distichon um Lyrik handeln soll, mit Verwunderung aufgenommen. (Aus dem Nachwort von Bertram Reinecke)
Etwas, das Titus Meyers Texte auch ganz nebenbei geben, ist ein kleiner Einblick in das, was Sprache ist und wie sehr darin Codes eingewickelt sind, Privatsprachlichkeiten u.v.m.

Titel einer Kurzgeschichte von Julia Wörle.

Und das Ganze natürlich auch noch und vor allem im Kontrast zu diesen anderen Bänden, die da so ähnlich heißen wie: „Dahergewischtes aus Arkadien“, „Erinnerung an Okulare“, „Frühstück mit Wespe“  ––
Es stellt sich bei Diskussionen um Lyrik immer wieder heraus, dass allein der Ethos, jemand habe „ganze 13 Jahre“ usw. an einem Band gearbeitet, ein Synonym für Qualität sei; die Schreibenden glauben das selbst. Wo ich eher an das glaube, was in der Bildenden Kunst Primamalerei genannt wird: im ersten und einzigen Arbeitsgang gefertigt. Alle Diskurse um ein  Überkorrigieren von Gedichten und auch die Überlegung, dass „Stimmung“ und „Stimme“ beim ersten Versuch am stärksten weil authentischsten sind, findet dabei  wenig Beachtung.

Pangramm-Gedicht.

Ich kenne genug Leute, die sich im Grunde selbst bezichtigen, keine Ahnung von Lyrik zu haben. Sie lesen einen Gedichtband, weil sie den Autor zufällig kennen und sagen, sie hätten es nicht „verstanden“. Passiert mir ständig. Und ich fange dann an zu erklären, dass es ja darum gar nicht geht. Sondern um Nacherleben von Rhythmus und Klang, um das Antreffen neuer Bilder, das Sich-Überraschenlassen und solche Dinge.
¹⁰ Ich entnahm sie dem für mich in einiger Hinsicht erhellenden Band „The Little Book Of Big Brain Games“ (Ivan Moscovich, Workman Publishing, New York 2010). Hier allerdings findet man sich inmitten der fabelhaftesten Rätselei, „a pocket-sized brain gym“, auch mit Rätseln, die einem einigen Wortwitz abverlangen.
¹¹ Heute gibt es natürlich auch Maschinen, die  Anagramme liefern.  Es finden sich gerade zu Anagrammen im Netz eine Reihe von Links. http://www.sibiller.de/anagramme/ unten auf der Seite dieses Anagrammgenerators ist eine Liste von Seiten, die sich mit Anagrammen befassen.


Titus Meyer: Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung. Leipzig (Reinecke & Voß) 2015. 88 S. 10,00 Euro.

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