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Timo Brandt: Nachumahmungen

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Monika Vasik

Timo Brandt: Nachumahmungen. Poesie. München (APHAIA Verlag) 2023. 127 S. 18,00 Euro.

„Ich denke: Denken macht unglücklich“


Nachumahmungen lautet der Titel von Timo Brandts sechstem Lyrikband, für den er als Untertitel nicht wie bei seinen früheren Büchern „Gedichte“, sondern das Wort „Poesie“ wählte. Es ist sein bisher persönlichster, soweit ich das als Leserin und Rezensentin zu beurteilen vermag, sein wahrhaftigster und mutigster, wobei die Texte offen und zurückhaltend zugleich imponieren.
      Nachumahmungen ist eine komplexe Wortschöpfung, die mehrere Anklänge wachruft. „Nach“ weist drauf hin, dass etwas bereits vorbei ist, wir gleichsam einer Rückschau beiwohnen, mit dem Dichter einen Blick in eine länger oder kürzer zurückliegende Vergangenheit werfen und in eine damit verbundene Endlichkeitserfahrung. Auch das Verb umarmen klingt im Titel mit. Es sind Erinnerungen an ein Sehnen und Begehren, an Umarmungen durch ein geliebtes und liebendes Du im Rausch einer Liebesbeziehung, die nachhallt, aber unwiederbringlich vorbei ist. Die Erinnerungen „trennen ... unsere Nähte auf“, heißt es einmal und sie lassen Teile zurück, die sich nicht mehr zusammenfügen lassen, sondern sich verlieren. Es sind einerseits die zwei Hälften eines Paares, die nicht mehr verbunden sind. Andererseits kann dies als Teilung der Welt in Dichtung und alltägliche Lebenspraxis interpretiert werden. Und auch das Ich ist nun in mehrere Teile zertrennt und verliert sich:

„komme mir vor wie weit aufs meer hinaus gestreut.“

Wie lassen sich diese Teile wieder zusammenfügen? Nach „einem kurzen Uns“ blieben Enttäuschung, Ernüchterung und die Wehmut eines Alleingelassenen, der sich Vorwürfen und kaum beantwortbaren Fragen aussetzt. Das Ich sehnt sich mit der Logik eines Verwundeten, der die Realität verschieben will, nach einer zweiten Chance, nämlich jener, das geliebte Du erneut kennenzulernen, die Beziehung „noch einmal“ beginnen und manches anders machen zu können.
     Nach den Umarmungen bezieht es sich zudem auf die Zugewandtheit von Freund*innen, auch auf elterliche Umar-mungen, die sich im Lauf des Erwachsenwerdens wandeln, beiderseitige Ansprüche genauso wachsen lassen wie Irrita-tionen, Enttäuschungen und ein Gefühl des Ungenügens. So heißt es einmal

„Wie mein Vater schon sagte: Wenn dich das
schon stresst
wie willst du es dann schaffen?“

„es“, so wird im Gedicht in the vallejo deutlich, ist das Leben des Sohnes, und mit „schaffen“ kein ruheloses Arbeiten, Häusle-Bauen oder Anhäufen von Kapital gemeint. Es ist die etwas roh ausgedrückte Besorgnis eines Vaters, ob und wie sein Sohn das eigene Leben wird meistern können. Denn dieser ist zerrissen von nagenden Zweifeln und Ängsten. In einer Zeit der Ober-flächlichkeit, ständiger Kommentierungen und des Trends zur Selbstoptimierung schwankt er, ob er, der so ganz anders tickt, sich als ständig grübelnden, unaufhörlich denkenden, ja alles zerdenkenden Menschen erfährt, überhaupt lebensfähig ist.

„Mein Erbarmen meine Gefühle
nützlich der Ästhetik meinetwegen
aber reichlich unnütz dem Überleben.“

Im Wort Nachumahmungen klingt auch das Verb ahnen mit. Es ist ein unsicheres, unaufhörlich zweifelndes Herumahnen, bei Situationen, Menschen und Dingen, vor allem aber sich selbst Hinterherahnen, um zu begreifen, eine meist mehr vom Denken als von Emotionen geleitete Annäherung an ein Verstehen, was sich für das Ich selten richtig anfühlt, nie treffsicher genug in Worte gefasst werden kann, oft mit einem Gefühl des Scheiterns endet und hier in der Verballhornung zu Nachumahmungen seine Entsprechung findet. Auch das Wort Nachahmen klingt im Titel des Bands mit, also das Eintauchen in Rollen und Rollenbilder und damit in Körperschemata und Aufgaben anderer Menschen durch nachvollziehende Imitation.
        Anders als die früheren Gedichtsammlungen Brandts ist dieses Buch ein Konzeptband, der um das Thema Melancholie kreist, einem Thema, mit dem er sich auch schon im einen oder anderen Gedicht früherer Lyrikbände befasste. Es sind große menschliche und philosophische Fragen, denen Brandt sich in den vier Kapiteln des Bands nähert: Was ist der Sinn des Lebens? Was ist (m)ein Körper? Was bedeutet Denken? Was sind die eigenen Bedürfnisse? Was ist Beziehung? Was bedeutet Altern, was Sterblichkeit, was der Tod?

„Ich gehe auf den Tod zu
und seh die Lebenden leben.“

Die schwarze Galle grundiert alle Überlegungen und möglichen Antworten. Deutlich wird dies schon anhand mancher Gedichttitel, wenn Worte wie Requiem oder Elegie von Brandt gewählt werden, auch in manchen Versen, wenn es etwa heißt: „ich dunkle nach“, expliziter noch, wenn das Wort Depression in drei Gedichttiteln angeführt wird und sich die Grundstimmung der Schwermut allmählich zu einer ernsten Erkrankung wandelt.
     Kann Dichtung hier, kann sie je lebens- und sinnstiftend sein? Anders gefragt: Können Gedichte ein roter Faden sein, der durch Krisen und dunkle Zeiten hilft? Möglicherweise. Wer Timo Brandt und seine Werke ein wenig kennt, der/die weiß, dass für ihn Gedichte Lebensmittel sind, und wird dafür in diesem Band viele Belege finden. Schon im ersten Gedicht heißt es:

„Lege mir Gedichte zurecht.
Manchmal wie Licht.“

An anderer Stelle heißt es: „Das Gedicht ist die Flamme“. So kann man die Texte dieses Buchs auch als Liebeserklärung an die Lyrik lesen. Denn es ist die Sehnsucht nach dem Licht, zu dem ein Vers oder ein Gedicht werden kann, die Brandt und seine wachsende Belesenheit antreibt. Er fragt, „warum schreibe ich Gedichte“?, und gibt Gedicht für Gedicht die Antwort. Er findet dieses Licht beispielsweise in Versen und Zitaten von Seneca, Heraklit, Brodsky oder Edmund Burke, bei Heißenbüttel, Cendrars oder Kavafis, auch in der Musik und in Zeilen von Songs. Die Zitate werden ihm zu „Funken Licht“, die er in die eigenen Gedichte einfügt und zum Leuchten bringt, manchmal kommentierend oder sich daran reibend, gelegentlich paraphrasierend, in seinem ernsten, gleichwohl lustvollen Spiel mit dem Thema Melancholie, in dem auch Larmoyanz ihren Platz hat. Brandt zeigt eine bemerkenswerte stilistische Bandbreite, in denen Reime genauso zu finden sind wie Aphorismen oder litaneiartige Passagen. Hin und wieder blitzt in all dem Dunkel leiser Witz auf. Vereinzelt gibt es auch Stehsätze sowie alltagssprachliche Wendungen im einen oder anderen Gedicht, das durch mehr Originalität und Verdichtung an Ausdruckskraft gewinnen würde.
         Nachdem Brandt die Schwermut in immer neuen Anläufen betrachtet, sich der Verletztheit und dem Wundsein gewidmet hat, lässt er das Dunkel schließlich im kurzen, drei Texte umfassenden vierten Kapitel „Nach dem Ahmen“ hinter sich und wendet sich leichteren Sinns einem Neuanfang zu, nämlich anderen, wieder lichteren Seiten des Lebens, etwa im Gedicht „Der Tag“, einer schönen Momentaufnahme eines Morgens, möglicherweise einer neuen Liebe. Zuvor allerdings wird er sich seiner Existenz als Dichter bereits wieder gewiss:

„Und ich schreibe weiter neue Gedichte ...“


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