Tim Trzaskalik: Franz Josef Czernin und die Waschmaschine
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Tim Trzaskalik
Franz Josef Czernin und die Waschmaschine
Vorläufige Überlegungen zu goldenen Schlüsseln
und anderen Schlössern¹
Frischen wir unser Gedächtnis auf und gedenken alter Sachverhalte, wie sie im Grimm’schen Wörterbuch aufgeführt sind. Dort wird bekanntlich auf die Praxis der Übersetzung zur Erläuterung von Wortbedeutungen zurückgegriffen. Um sich in der, wie es im Vorwort zum Wörterbuch heißt, „allen aufgethanen halle“ der deutschen Sprache zurechtzufinden, werden für die Leser Hinweisschilder aufgestellt, die einer fremden, einer toten, einer nicht mehr oder kaum mehr gesprochenen Sprache entstammen, von denen aber viele mittlerweile in der deutschen Sprache als Fremdwörter wohnen: Verwandlung, schreiben die Verfasser des entsprechenden Eintrags, „wird in den älteren wörterbüchern mit alternatio, conversio, impedatura, metamorphosis, mutatio, mutatorium, traiectio, transfiguratio, transformatio, translatio, transsubstantiatio wiedergegeben. verwandlung geschieht, geht vor: wie aber diese verwandlungen geschehen, das werden die menschen wohl gewahr.“ Im Folgenden nehmen die Autoren eine Differenzierung dieses „wie“ vor, indem sie zwischen drei Weisen der Verwandlung unterscheiden: 1) „verwandlung durch übernatürliche kraft, in mystischem sinne“, „als übersetzung des titels von Ovids metamorphosen“ und „in der messe“; 2) „verwandlung durch physiologische und andere naturvorgänge“. Hier werden u.a. chemische Verwandlungen, der Wandel der Erscheinungsformen der Gestirne am Himmel oder die Metamorphosen von Insekten erwähnt; 3) „verwandlung durch menschliches thun oder menschliche und soziologische vorgänge; verwandlung von personen durch änderung ihrer wesensart“; und in diesem wohl facettenreichsten Aspekt des „wie“ der Verwandlung steht als letztes die „verwandlung durch dichterisches schaffen“, wobei als Beispiel die Verwandlung eines Epos in einen Roman oder in ein Drama angeführt wird.
Vielleicht könnte man über Franz Josef Czernins Märchen-Verwandlungen sagen, dass in ihnen über Fragen zum Lemma Verwandlung nachgedacht wird: Wie verhält sich die das Lemma beschließende Verwandlung durch dichterisches Schaffen zu allen anderen im Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm aufgeführten Verwandlungsarten? Worin bestehen ihre Besonderheiten? Welche Unterteilungen könnten innerhalb der Verwandlung durch dichterisches Schaffen vorgenommen, welche Modi der Verwandlung unterschieden werden in den komplexen Verhältnissen, die Begriffe wie Mythos, Metapher, Fiktion, Märchen, Wahrheit, Lüge im dicherischen Schaffen eingehen? Und wie verhalten sich diese Modi zu den von den Verfassern im Wörterbuch übernommenen Kategorien des Übernatürlichen, des Natürlichen und des Menschlichen?
Auf die letzte dieser Fragen gibt es eine märchenhaft einfache Antwort: Wo sich ein Frosch in einen Prinzen verwandelt, sind diese Kategorien durchlässig oder porös. Und damit gleichsam in ihren Konturen verwischt. Denn, um es mit Czernin zu sagen, „Märchen setzen das Wunderbare voraus, es gehört beinahe zu ihrem Begriff. Deshalb erschreckt und erstaunt es in Märchen kaum [...]. In den Evangelien dagegen sollen die Wunder Christi Erstaunen und vielleicht auch Schrecken hervorrufen. Sie wollen nicht als Märchen gelesen werden. Dass die Evangelien aber auf Mittel der Poesie, ja des Märchens angewiesen sind, ist ein Anfang ihrer Profanisierung, unserer Säkularisierung und Aufklärung.“ (AS, 207) Verwandlungen der Märchen durch dichterisches Schaffen können somit ihrerseits das Wunderbare voraussetzen und auf es zurückgreifen. Und von dieser Feststellung ist es nur noch ein Schritt zu dem, was ich die grenzenlose Freiheit des Verwandelns durch dichterisches Schaffen nennen möchte, das sich in diesem Sinne vielleicht grundlegend von der Tätigkeit des dichterischen Neu- oder Umschreibens unterscheiden ließe. Anders gesagt: Czernin nimmt sich alle Freiheiten, er verwandelt die Märchen oft, nicht immer, von Grund auf, indem er sich dem Wunderbaren in der Sprache hingibt. Ähnlichkeiten oder Analogien zwischen Märchenvorlage und dichterischer Verwandlung sind mitunter kaum zu sehen, Verwandtschaften zwischen ihnen wollen hingegen vernommen werden. Mit anderen Worten: Umso fremder die Verwandlung dem Märchen zu sein scheint, desto mehr scheint Czernin den Leser aufzufordern, nach dem Rätsel ihrer Verwandtschaft zu fragen, gleichsam vor dem Hintergrund ihrer Unverwandtschaften. Und doch kann die Verwandtschaft – wie zum Beispiel in „Irische Rappen“ zu „Die kleinen Schuhe“ – auch auf einer gleichsam kontingenten oder ganz äußerlichen Verbindung beruhen. Der irische „Cluricaun“, der kleine rote Schuhe schustert, und Samuel Beckett, der irische Schriftsteller, der am Schuhwerk seiner Protagonisten deren ganzes Dasein veranschaulichen konnte und immer wieder auf die ihm eigene Weise am prosaischen, am unverwandten, am unbeirrbaren Weitermachen schrieb, und sei es eben nur auf des Schusters Rappen, der Mühen des Fußgängers eingedenk, der sich immer wieder aufs Neue berappen muss, der den Rappen nicht laufen lassen kann, zumal er keinen Rappen in der Tasche hat. Wie Czernin in Das andere Schloss schreibt: „Manchmal ist (gewählt oder nicht) Unverwandtschaft wirksamer als Verwandtschaft; das Ineinander von beidem, ihre Verschlingung erzeugt Form.“ (AS ,50)
Eine der unverwandtesten Verwandlungen scheint mir das Prosimetrum „Mittendrin einst“ zu „Das Bürle im Himmel“ zu sein. Hier lese ich aus aller Unverwandtschaft die Liebe zum Gesang, zu den „himmlischen Freuden“ als Verwandtschaft heraus. Als wären Gesang oder himmlische Freuden der transzendente Gegenstand, der in der poesiespezifischen Erfahrung und nur in ihr vernommen werden kann, freilich nur vor der Himmelspforte, also von draußen, nicht schon im Himmel, also nicht von drinnen. Denn drinnen wird nur für den anderen gesungen, nimmer für einen selbst. Ist die Verwandlung „Mittendrin einst“ die Vorführung par excellence, in welcher der „sternfixe Glanz“ im Verkehr zwischen dem kleinen Volk der Lettern und den Menschen verfehlt und in seinem Verfehlen zum Glänzen gebracht wird? Spricht hier der Prosa-Redner nicht in einer sich in Sprachschwelgereien verlierenden Weise und höchstens ansatzweise in prosaisch-kritischer Gestalt von keinesfalls umstandslos als „celestisch und angelisch“ (GS, 107, 108), hingegen ohne weiteres als Zumutungen zu bezeichnenden Versen eines gewissen C, der mir wie ein humoristischer Zwitter aus Czernin und Christus anmutet? Haben wir es hier nicht mit einer gerissenen Pseudo-Palinodie zu tun, die sich im Sinne eines versierten Realismus äußerst listig oder gewitzt auf die Notwendigkeit beruft, in „dermaßen schiefgebildetem Tauben- und Blindenenglisch“ (GS, 108) zu singen? Eine Ausführung in Das andere Schloss könnte jedenfalls eine solche Annahme stützen: „Mittendrin einst: Wäre man allwissend, die bestmöglichen Relationen wären sogleich gefunden; die beste aller möglichen poetischen Welten. Vor solcher Vision von Klarheit und Ordnung ist die reale Poesie Stammeln und Stottern und daher auch Heulen und Zähneknirschen. Aber auch umgekehrt: Poesie ist ein Moment jener Klarheit und Ordnung, doch ist der Umgang mit ihr Stammeln, Stottern, Heulen und Zähneknirschen.“ (AS, 236)
Nun frage ich mich allerdings, ob sich dieses Umgekehrte im prosimetrischen Umgang bemerkbar macht. Wenn überhaupt so gewahre ich es allenfalls in Gestalt einer Negativität, als vorgeführte Zerstörung vorherrschender Anschauungen zum Gegensatz zwischen nüchterner Prosa und trunkener Poesie. Und ich frage mich des Weiteren, ob Czernin überhaupt daran gelegen ist, „ein Moment jener Klarheit und Ordnung“ sozusagen unter den Gegebenheiten unserer Endlichkeit anklingen zu lassen.
Ich denke dabei auch an ein Wort des französischen Dichters Paul Celan: „Das Gedicht ist der Ort, wo das Synonyme unmöglich wird: es hat nur seine Sprache und damit Bedeutungsebene. Aus der Sprache hervortretend tritt das Gedicht der Sprache gegenüber. Dieses Gegenüber ist unaufhebbar.“² Das auf den ersten Blick „Ungereimte“ an diesem Wort verflüchtigt sich, sobald man versteht, dass in dem Wort „hat“ der ganze Konflikt aufbewahrt ist, den das „nur“ dem Anschein nach leugnet. Das Gedicht „hat“ nur seine Sprache. Es kommt nicht einmal dahin, mit ihr ganz und gar zusammenzufallen, es ist nicht seine Sprache. Die Sprache aber, aus der es hervorgetreten ist, diese Sprache hat es nicht, es kann sich ihrer nie wirklich bemächtigen und gerade darum ist das Gegenüber das nicht Aufzuhebende.
Czernin jedenfalls scheint den Akut mehr auf die Sprache zu legen als auf das Gedicht. Und dabei kann er sich auf einen Sachverhalt in den Märchen berufen, den er in Das andere Schloss so beschreibt: „Es ist ein Denken und Schreiben vom Wort und vom Satz her: Die Einbildungskräfte entzünden sich vor allem daran und weniger an vorgestellten Erlebnissen oder an anderem Nicht-Sprachlichen.“ (AS, 203) Genau an diesem Punkt setzen seine Verwandlungen an, ohne dass er dabei übersehen würde, wie sehr in den Märchen Gedichte in Potenz schlummern, worauf er in Das andere Schloss zumindest an einer Stelle ausdrücklich hinweist: „Die Verwandtschaft von Verallgemeinerung, fundamentalen Existentialien, Kürze, Märchen und Allegorie. Diese Dinge bedingen sich zu einigem Grad und damit auch die Nähe mancher Märchen zu Gedichten, die auch dann und wann in den Grimm’schen Märchen vorkommen. Deshalb ist in ihnen der Weg zu Philosophie, Moral und Amoral kurz, wenn auch oft verborgen.“ (AS, 203)
Der Akut auf der Sprache ist in den meisten seiner Verwandlungen auch der Grund einer Verwandtschaft zwischen Verwandlung und Märchen. Beispielhaft lässt sich hier „Der alte Witz“ zu „Der goldene Schlüssel“ anführen, wo die Homonyme Schloss, Schatz und Bart in gewisser Weise die Funktion übernehmen, die im Märchen die grammatischen Zeiten haben. Denn sie verwandeln sich unablässig ineinander und tauschen Stelle, Platz und Ort in einem fort, bis schließlich das Futurum exactum zum Gottesbeweis, einem Witz mit langem Bart, herangezogen und damit die ungemein vielschichtige Zeitlichkeit des Märchens in jedem Sinne des Wortes aufgehoben wird.
In seinen Verwandlungen, möchte ich sagen, verbohrt sich Franz Josef Czernin regelrecht in die Sprache. Und vielleicht kann man hierhin so etwas wie eine einzig in der Poesie mögliche Form des politischen Engagements sehen, das Beziehen eines politischen Standpunktes unter den Bedingungen des Poetischen. Als könne man dadurch, dass man die Sprache buchstäblich als „allen aufgethane halle“ ins Visier nimmt, um die Grimm’sche Metapher aus der Vorrede zum Wörterbuch aufzugreifen, oder dadurch, dass man in der Sprache feststehende Redensarten in Bewegung versetzt, das Treiben auf dem Marktplatz, das Leben in unserer ungeselligen Geselligkeit in einer Weise sichtbar machen, in welcher der Marktplatz Sprache zur Brücke zwischen Beobachtung von anderem und Selbstbeobachtung wird.
Diese Möglichkeit hängt nun zum Teil mit einem Zurücktreten des Autors zusammen, die allerdings nicht mit seinem mythischen Verschwinden verwechselt werden darf. Vielleicht könnte man dieses Zurücktreten auf die Maxime zuspitzen: Man muss recht unpersönlich schreiben. Franz Josef Czernin stellt dem Verschwinden des Autors eine gleichsam auktoriale Abstraktion entgegen. Damit meine ich zum Beispiel das bereits erwähnte Sich Verbohren in die Sprache, das vom Sachgehalt der Märchen abstrahiert. Oder die Abstraktion, die vonnöten ist, um der Verlockung nachzugeben, in einem Satz das, was war, das, was ist, das, was sein wird, und das, was gewesen sein wird, für erfahrbar zu halten.
In Das andere Schloss geht Czernin ausdrücklich auf die Frage der Autorschaft ein. Was Jacob und Wilhelm Grimm dazu vorzubringen hatten, brachte ersterer in einem Brief an Achim von Arnim vom 20. Mai 1811 auf den Punkt: „Die Volkspoesie tritt aus dem Gemüth des Ganzen hervor; was ich unter Kunstpoesie meine, aus dem des Einzelnen. Darum nennt die neue Poesie ihre Dichter, die alte weiß keine zu nennen, sie ist durchaus nicht von einem oder zweien oder dreien gemacht worden, sondern eine Summe des Ganzen; wie sich das zusammen gefügt und aufgebracht hat, bleibt unerklärlich (...) aber ist doch nicht geheimnisvoller, wie das, daß sich Waßer in einen Fluß zusammenthun, um nun miteinander zu fließen.“ In Das andere Schloss lesen wir: „Ohne Autor sind auch Redewendungen, Idiomatik, Sprichwörter, aus denen die Märchen zum guten Teil bestehen, und ohne Autor ist die Sprache selbst. Und wenn erst vor wenigen Jahrzehnten, etwa bei Barthes oder Foucault, das Verschwinden des Autors oder seine Ohnmacht vor dem Eigensinn von Sprache und Poesie behauptet wird: Ist das nicht auch die alte Vision der Naturpoesie in neuem, in urbanem und semiologischen Gewand? Und zeigt sich damit nicht in dieser angeblichen Naturpoesie der Grimms unwillkürlich der Marktplatz, der zentrale und bürgerliche Versammlungs- und Vermittlungsort?“
Könnte man sagen, dass Franz Josef Czernin eigensinnig und ganz und gar nicht ohnmächtig den Eigensinn der Sprache in seinem Verwandeln der Märchen durch dichterisches Schaffen auf die Spitze treibt? Dass er mithin die Poesie nicht aus der Sprache hervortreten, sondern sie in der Zuspitzung allen sprachlichen Eigensinns ganz und gar in sie hineintreten lässt? Dass er auf diese Weise mit der Poesie den Autor, oder besser: die subjektive Geste in die Sprache zurücktreten lässt? Aber damit die ihm dringliche Frage, ob die Sprache eine Halle, oder ob das Gedicht ein Palast sein kann, gleichsam weghebt, außer kraft setzt? Und auch dadurch diesen ungeheuren Grad an Freiheit gegenüber seinen Vorlagen gewinnt? Aber eben dadurch die Dynamik, den Prozess im Konflikt zwischen Sprache und Poesie, zwischen Metapher und wörtlicher Bedeutung opfert? Ich denke hier an ein anderes, ziemlich lakonisches Wort von Celan: „Als das Unübertragbare, selbst nicht leicht zu Tragende und oft Unerträgliche – unerträglich Schwere – haßt man das Gedicht. Wer das Gedicht nicht tragen will, überträgt und spricht von der Metapher.“³
Ich möchte diesem sich am Gegenüber von Sprache und Poesie entlang hangelnden Gedanken noch eine letzte Frage hinzufügen: Haben die Märchenverwandlungen von Franz Josef Czernin damit nicht auch etwas ganz Zeitgemäßes an sich? Zumindest wenn es zutreffend ist zu behaupten, dass sich Jacob und Wilhelm Grimm mit der von ihnen in Stellung gebrachten Naturpoesie in ein – ganz und gar unzeitgemäßes – unmittelbares Verhältnis zu einer von ihrer Gegenwart unendlich entfernt liegenden Vergangenheit zu setzen suchten, wir aber heute in einer Gegenwart leben, die unaufhörlich von den jüngst zurückliegenden Katastrophen heimgesucht wird, in der also die Vergangenheit unaufhörlich in ein unmittelbares Verhältnis zu unserer Gegenwart tritt, und dies umso mehr, je stärker die Gegenwart in ihrem Angriff auf die übrige Zeit dies zu leugnen sucht? Ist mit anderen Worten dieser zeitgemäße Zugriff, in der die Gegenwart der Poesie in die stets gegenwärtige Vergangenheit der Sprache gebohrt wird, so wie sich die Vergangenheit heute unmittelbar in unsere Gegenwart bohrt, ein besonnenes Vergessen der Zeit – aber gleichsam in ihren Armen – und unter gänzlich anderen Bedingungen als jenen, unter denen sich Jacob und Wilhelm Grimm kraft ihrer Konzeption der Naturpoesie in ein unmittelbares Verhältnis zu Längstvergangenem setzten? Ich frage mithin: Wenn sich heute die Vergangenheit unentwegt in unsere Gegenwart bohrt und Czernin seine eben erschienenen Prosen der Verwandlung unentwegt in die Sprache der Märchen und mehr noch in die Sprache überhaupt bohrt, wie steht es dann um das Gegenüber, um die Distanz des dichterischen Schaffens zur Gegenwart? Ich denke, hier kommt erneut die Maxime ins Spiel: Man muss recht unpersönlich schreiben. Recht, aber eben nicht nur. Denn eine gleichsam fundamentale Abstraktion ist sozusagen der Bohrer dieser Verwandlungen: die Perspektive der ersten Person Singular als Einsatz der Poesie, wenn die Märchen auf dich, auf mich oder auf alle, auf keinen deuten: die praktische Frage nach Gelingen und Scheitern einer „Gewissenserforschung“ (AS, 59, 60, 250), in der wir aus Sprachlust, aus Hingabe an die Sprache unentwegt auf- und verschlüsseln, was uns im poesielosen Leben widerfährt: „Die Grimm’sche Form: Da ist etwas jemandem geschehen. Es ist ihm zugestoßen.“ (AS, 17.) Indem Czernins Verwandeln durch dichterisches Schaffen dieser Perspektive der ersten Person, also mithin der Frage nach in dieser Perspektive möglichen Erfahrungen, verpflichtet bleibt, kann er wie das alte Spitalweib aus Hegels kleiner Schrift „Wer denkt abstrakt“ die Abstraktion töten und sehen wie die klare Sonne Binders Haupt beglänzt. Der Sinn wird wohl aufgegeben, aber in der Doppeldeutigkeit dieses Satzes sehe ich die Notwendigkeit dieser Verwandlungen, und damit den Fundus ihrer letztlich begrenzten Freiheiten, und – bei aller Unverwandtschaft – auch die Spur einer Verwandschaft zwischen Verwandlung und Neuschreibung.
Die zeitgemäße Zeitvergessenheit findet sich allerdings noch durch ein weiteres Moment relativiert. Und zwar in der zeitweiligen Überschreitung einer Grenze, die sich Franz Josef Czernin selbst setzt, wie er in Das andere Schloss schreibt. Dort heißt es: „Zur Lexik: In ’Geldselende’ kommt das Wort ’Waschmaschine’ vor und woanders in meinen Verwandlungen noch einige wenige Wörter, die es zu Grimms Zeit nicht gegeben hat. Ansonsten nur Wörter, die in beiden Zeitaltern selbstverständlich oder mindestens vertraut sind. Diese Grenze will oder muss ich mir setzen.“ (AS, 201) „Und gerade die Waschmaschine war ein Mühlrad im Kopf“. So steht es in dieser Verwandlung zu „Die hagere Liese“. Das Aufeinandertreffen der den Märchen unvertrauten Waschmaschine mit dem ihnen vertrauten Mühlrad zeitigt eine Distanz. Und somit einen Spalt für das Gegenüber von Sagen, Denken und Tun, für die Utopie mit dem Namen Idee der Poesie: der Suche nach neuen Gelenken zwischen Sagen, Gesagtem und Tun. Die Idee der Poesie ist nicht die Prosa.⁴ Zumal es ein Sachverhalt aus dem Grimmschen Wörterbuch ist, dass es die Prosa nicht gibt, wie das Wort auch keine Pluralform kennt, sondern nur diese oder jene „ungebundene schreibart oder rede im gegensatz zu verse oder poesie“. Die prosaische Waschmaschine ist eine Poesie in Potenz.
¹ Franz Josef Czernin: Der goldene Schlüssel und andere Verwandlungen, Matthes & Seitz, Berlin 2018 und Das andere Schloss, Matthes & Seitz Berlin 2018. (Im Folgenden zitiert als GS bzw. AS.)
² Paul Celan: Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien. Herausgegeben von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull unter Mitarbeit von Michael Schwarzkopf und Christiane Wittkop, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999, S. 104.
⁴ Anders als zu behaupten gegenwärtig gang und gäbe ist, oft ohne Rückbezug auf Walter Benjamins fragwürdige These in Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik: „Das Reflexionsmedium der poetischen Formen erscheint in der Prosa, darum darf sie die Idee der Poesie genannt werden.“
Franz Josef Czernin: Der goldene Schlüssel und andere Verwandlungen. Berlin (Matthes & Seitz) 2018. 232 Seiten. 24,00 Euro.
Franz Josef Czernin: Das andere Schloss. Berlin (Matthes & Seitz) 2018. 320 Seiten. 26,00 Euro.