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Tim Trzaskalik: Firmennamen und Flugschriften

Moderne

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Tim Trzaskalik

Firmennamen und Flugschriften.
100 Jahre Surrealismus in Paris.


À Maurice Nadeau


Die Dichtung der Surrealisten behandelt die Worte wie Firmennamen und ihre Texte sind im Grunde Prospekte von Unternehmungen, die noch nicht etabliert sind.
Walter Benjamin

In der Poesie herrscht immer Krieg.
Ossip Mandelstam


A/ 100 Jahre Surrealismus in Paris.

B/ In Paris. Damit das gleich klar ist. Wir plaudern hier jetzt eigentlich nur über Paris.

A/Genau. Also, ein vor Kurzem erschienenes Buch von Pierre-Héli Monot (Hundert Jahre Zärtlichkeit. Surrealismus, Bürgertum, Revolution) ...

B/ Erschienen nicht in Paris, sondern in Berlin ...

A/ ... endet wie folgt: „2024 wird der Surrealismus hundert Jahre alt. Das Bürgertum wird ihn feiern. Wendet euch ab.“ Gut gebrüllt, Löwe, würde Man Ray sagen, der Fotograf der Bewegung, der in André Bretons Antlitz etwas von einem Löwenhaupt zu erkennen glaubte. Wenn wir uns nun für die kommenden drei Stunden schweigend vom Surrealismus abwenden würden, wäre das allerdings eine ziemliche Hinwendung zu ihm.

B/ In der Tat. Es wäre ein unmittelbarer Brückenschlag. Und wir würden uns sozusagen aus unserem Heute mitten hinein katapultieren in das, was Breton im Zweiten Manifest des Surrealismus „die surrealistische Geisteshaltung“ nennt: „mehr auf den jetzigen Augenblick unseres Denkens vertrauen als auf all das, was man einem vollendeten Werk, einem an seinem Ende angelangten menschlichen Leben an Bedeutung unterzuschieben versucht.“

A/ Wobei diese Geisteshaltung, ob nun die von Breton damals oder die unsere heute, ihrerseits zwei Voraussetzungen hat, die wir nicht unter den Tisch fallen lassen sollten:
Einerseits den Glauben an ein in uns allen, also im Innern von Herrn und Frau Jedermann zu entdeckendes Leuchten ...

B/ ... ein „Leuchten [...] in unserem tiefsten Innern“ wie Breton schreibt, ja, schön, wie lyrisch ...

A/ ... und die tiefe Verzweiflung über unsere gegenwärtige Lage andererseits.

B/ Womit wir im Grunde schon kurz vor der bündigsten Definition dessen stehen, was der Surrealismus war, ist oder wird – je nach der historischen oder zeitlichen Perspektive, die wir einnehmen wollen.

A/ Alcheringa, Alcheringa. Ja, was der Surrealismus ist und wird, da es ihn ja noch zu geben scheint, wie die Zeitschrift Alcheringa der heutigen Pariser Surrealisten belegt, deren fünfte Ausgabe vor Kurzem erschienen ist.  Zitieren wir also kurz, wovon niemand Kenntnis nimmt, aus dem Editorial der ersten Ausgabe von 2018: „Es geht also darum, auf absoluten Abstand zu dieser Welt zu gehen, mehr noch als in der Vergangenheit, und zuallererst ganz entschieden nutzlos im Funktionieren ihrer Maschinerie zu sein, bevor man mit den Freuden der gesellschaftlichen Fahnenflucht und der kreativen Faulheit stetig das Imaginäre und Irrationale erkundet, um eine andere Vernunft zu bereichern, die, ohne Furcht davor, sich von den Schwingen des Revolutionsmythos tragen zu lassen, uns zu verstehen gibt, dass das Reale alles ist, was die Realität übersteigt. [...] Wir richten uns an alle, die den Surrealismus woanders als in Museen, Auktionen oder Universitätstagungen erwarten. [...] Wir behaupten, dass seine reale Bewegung [...] darin besteht, der notwendige Mythos zu sein, um die absurde Geschichte dieser Zeit zu unterlaufen und auf eine Wiederverzauberung der Welt hinzuwirken. [...] Darum rufen wir heute: Alcheringa! Denn die Traumzeit – so lautet die Bedeutung dieses Wortes aus einer Sprache der australischen Aborigines – ist auch die Zeit aller Metamorphosen.“

B/ Das klingt in der Tat nach O-Ton Breton. Also der Surrealismus, eine ungemein heterogene, in sich widersprüchliche, vollkommen zerstrittene Bewegung globalen Ausmaßes, von Paris und Brüssel bis nach Prag, von Zürich bis nach Berlin, von Wien bis nach London, von Madrid, Katalonien und Andalusien bis nach Mexiko, von New York bis nach Brasilien, was war das oder was ist das oder was wird das?

A/ Eine kategorische Ablehnung der Bedingungen des Lebens und Denkens, wie sie uns
heute, am 21. Februar 2025, auferlegt sind.

B/ Mit anderen Worten: Surrealismus bedeutet: „Die Hölle ist nichts, was uns bevorsteht. Die Hölle ist das Leben, das wir hier führen.“ Strindberg war Surrealist.  

A/ Wenn wir es ins Positive wenden wollen: Ein rigoroser Wille zur Unbeugsamkeit.
Und zum dichterischen Leben.

B/ Poetisiert euch!

A/ Gut. Dann wäre das also auch gesagt.

B/ Genug des hinwendenden Abwendens. Und los gehts mit dem abwendenden Hinwenden.

A/ Philologisiert euch!

B/ Werdet zu Hyänen. Lasst uns Leichen fleddern!

A/ Ich fange mal ganz klassisch an. Das Wort Surrealismus taucht erstmals 1917 auf, bei Guillaume Apollinaire, in einem Brief aus dem März an Paul Dermée. Es geht um einen möglichen Untertitel für sein Drama Les mamelles de Tirésias: „Nach eingehender Abwägung glaube ich tatsächlich, dass Surrealismus besser passt als Surnaturalismus, worauf ich zuerst zurückgegriffen habe. Das Wort ‚Surrealismus‘ gibt es noch nicht in den Wörterbüchern, daher wird es einfacher zu handhaben sein als der bereits bei den Herren Philosophen gebräuchliche Surnaturalismus.“
Wenig später macht Apollinaire seine Wortschöpfung dann öffentlich, im Mai 1917, im Rahmen der Uraufführung eines Balletts, das sich auf ein Gemälde aus dem Jahr 1888 bezieht, La parade de cirque von Georges Seurat. Eine illustre Allianz verschiedenster Künstler. Der Text stammt von Jean Cocteau, die Musik von Éric Satie, das Bühnenbild von Picasso, um nur die heute noch geläufigsten Namen unter den Mitwirkenden zu nennen. Titel des Stücks „Parade réaliste“.
Im Programmheft schreibt Apollinaire: „Aus dieser neuen Allianz [...] resultiert in Parade eine Art Sur-Realismus, worin ich den Ausgangspunkt einer Reihe von Manifestationen jenes neuen Geistes sehe, der heute den Anlass findet, sich zu bekunden, und es nicht versäumen wird, die Elite zu verführen sowie die Künste und Sitten mit universalen Freudenjauchzern von Grund auf zu verändern, denn der gesunde Menschenverstand verlangt, dass sie zumindest auf der Höhe der wissenschaftlichen und industriellen Fortschritte sind.“

B/ Das klingt allerdings eher nach Futurismus. Was sich wohl auch die federführenden Köpfe der Surrealisten, die sich als solche noch nicht erkannt hatten, gedacht haben dürften. Und was dann am 24. Juni 1917 bei der Uraufführung von Apollinaires Stück Les mamelles de Tirésias klar zum Ausdruck kam: Es kommt zur mythischen Urszene des Surrealismus.

A/ Nun ja. Das ist so ziemlich missverständlich gesagt. In gewisser Weise, aller Wahrscheinlichkeit nach erst im Nachhinein. Also sieben Jahre später, 1924 in Les Pas perdus, erinnert sich Breton an diesen Abend im Jahr 1917, an dem er zum ersten Mal nach den im Jahr zuvor mit Jacques Vaché verbrachten Wochen in Nantes diesem Sonderling wieder begegnet: „Der erste Akt war gerade zu Ende gegangen“, schreibt Breton. „Ein englischer Offizier krakeelte im Saal: Das konnte nur [Vaché] sein. [...] er hatte den Saal mit gezücktem Revolver betreten und sprach davon, ins Publikum zu ballern.“

B/ Breton huldigt auch in Erinnerungen einer grenzenlosen Einbildungskraft. Was man zumindest sagen kann: Keiner der anwesenden Rezensenten scheint damals Vachés Krakeelen mitbekommen zu haben, denn nicht eine einzige Kritik sollte darauf zu sprechen kommen.

A/ Louis Aragon hat sich aber auch daran erinnert. In einem diesem Abend gewidmeten Artikel aus dem März 1918 schreibt er: „Mein legendärer Freund Jacques Vaché wollte auf das Publikum schießen.“

B/ Allerdings kannte Aragon zu diesem Zeitpunkt weder Breton noch Vaché und war auch an jenem Abend gar nicht zugegen ...

A/ Jedenfalls hat die Fiktion über Jacques Vaché als Terrorist im Theater zumindest Breton nachhaltig umgetrieben. Noch in der letzten Ausgabe der Zeitschrift Die surrealistische Revolution (1929) kommt er darauf zurück, wenn er schreibt: „Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit gezückten Revolvern auf die Straße zu gehen und wahllos so viel man kann in die Menge zu ballern. Wer nicht wenigstens ein einziges Mal Lust hatte, auf diese Weise mit dem bestehenden kleinen System der Erniedrigung und Verdummung Schluss zu machen, hat seinen angewiesenen Platz in jener Menge, mit dem Bauch in Höhe des Laufs. Die Rechtfertigung einer solchen Tat ist meines Erachtens keineswegs inkompatibel mit dem Glauben an jenes Leuchten, das der Surrealismus in unserem tiefsten Innern zu entdecken versucht. Ich wollte hier lediglich die menschliche Verzweiflung einbeziehen, unterhalb derer nichts diesen Glauben rechtfertigen könnte. Diesem Glauben zuzustimmen, aber nicht der Verzweiflung, ist unmöglich. Jeder, der vorgäbe, diesen Glauben anzunehmen, ohne wirklich jene Verzweiflung zu teilen, würde in den Augen derer, die es wissen, sogleich zum Feind werden.“

B/ Womit wir das Leuchten in unserm tiefsten Innern, Glauben und Verzweiflung ausreichend kontextualisiert hätten.

A/ Und etwas schelmisch behaupten: Jacques Vaché ist der Erfinder des Surrealismus. Oder zumindest die eigentliche Initialzündung.

B/ Also zurück ins Jahr 1916. Bzw. zunächst 1915. Am ersten Tag der Herbstschlacht in der Champagne, am 25. September, wird der 21-jährige Soldat Jacques Vaché, seinerseits Sohn eines Artillerie-Hauptmanns, bei einer Granatenexplosion am Bein verwundet. Zur Genesung kommt er in ein Militärkrankenhaus nach Nantes. Dort begegnet ihm Mitte Januar 1916 der gleichaltrige Heeresarzt André Breton. Es muss ziemlich schnell gefunkt haben. Zwei Monate sollten ihnen bleiben, um Freundschaft zu schließen. Breton dürfte wohl mehrfach kaum seinen Ohren getraut haben. Denn dieser Vaché glich einem Meteoriten. Der allerdings von seinen Zwillingen aus dem Cabaret Voltaire in Zürich nie etwas wissen sollte. In seinen Kriegsbriefen, die André Breton, nach Vachés Tod aufgrund einer Überdosis Opium am 6. Januar 1919 in Nantes, im selben Jahr ediert hat, schreibt Vaché: „Wir lieben weder die Kunst noch die Künstler (nieder mit Apollinaire). Mallarmé ignorieren wir, ohne Hass, aber er ist tot. Apollinaire kennen wir nicht mehr – DENN – wir haben ihn im Verdacht, zu absichtlich Kunst zu machen, die Romantik mit Telefondraht zurechtzuflicken [...]. Schon wieder vom Himmel geholte Sterne! – Ärgerlich – und außerdem reden sie manchmal alles andere als seriös!  Ein Mensch, der glaubt, ist kurios.“

A/ Oder dies hier, vom 18. August 1917: „Die Kunst ist eine Torheit – Fast nichts ist eine Torheit – die Kunst dürfte eine drollige und ein bisschen langweile Angelegenheit sein – weiter nichts. [...] Übrigens gibt es die Kunst nicht – Also ist es nutzlos, davon zu singen – dennoch: man macht Kunst – weil es eben so und nicht anders ist – Well – was wollen Sie da machen?“

B/ Sagen wir, aller guten Dinge sind drei und schicken wir dies dem folgenden O-Ton Vaché vorweg: Charles Baudelaire, Max Jacob, Pierre Reverdy: ein Ahne und zwei ältere Zeitgenossen von Breton, die er in Ehren hielt ... – Vaché: „[...] mein alter verfaulter Baudelaire! Es brauchte unsere trockene Luft ein bisschen: nach Öl stinkende Rotationsmaschinerien – dröhn – dröhn – dröhn – pfeif! Reverdy, spaßig der Pohet, öde in Prosa; Max Jacob, mein alter Schaumschläger – HAMPELMÄNNER – HAMPELMÄNNER – HAMPELMÄNNER – wollt ihr schöne bunt bemalte HAMPELMÄNNER aus Holz? Zwei Augen mit erloschener Flamme und dem Kristallgestell eines Monokels – mit einer Kraken-Schreibmaschine – Das gefällt mir besser.“

A/ Starker Tobak für einen jungen Heeresarzt, der zudem nach Kriegsende in Paris zu einer Gruppe gehört, die sich Littérature nennt und eine gleichnamige Zeitschrift herausgibt. Chefredakteure: Louis Aragon, Philippe Soupault und er selbst, André Breton. Zu den Autoren zählen ... Reverdy und Max Jacob.

B/ Jedenfalls dürfte Breton ziemlich hin- und hergerissen gewesen sein zwischen seiner Pariser Literatenexistenz und dem Faszinosum aus der Provinz. Am 6. Januar 1919, als Vaché wegen einer Überdosis Opium das Zeitliche segnet, hält sich Breton bei seinen Eltern in Lorient auf, der Geburtsstadt von Vaché. Vom selben Tag stammt der erste Brief von einem der unbekannten Zürcher Zwillinge, Tristan Tzara, an André Breton, der diesen Brief eine Woche später zurück in Paris in der Redaktion der von Pierre Reverdy herausgegebenen Zeitschrift Nord-Sud vorfindet. Breton weiß noch nichts von Vachés Tod und schreibt ihm einen Brief, der im Wesentlichen auf folgende in Großbuchstaben geschriebene Aussage hinausläuft: „ICH ERWARTE SIE“. Lies: die Einladung zur revolutionären Aktion in der Hauptstadt und der Wunsch nach einer zweiten Zeit der Verzauberung, nach dem gemeinsamen Frühjahr 1916 in Nantes.
Zwischen dem 15. und dem 18. Januar 1919 dürfte Breton von Vachés Ableben erfahren haben. Am 22. Januar antwortet er auf Tzaras Brief. „Ich war im Begriff, Ihnen zu antworten, als mich ein großer Kummer davon abhielt. Was ich am meisten auf dieser Welt geliebt habe, ist soeben von mir gegangen: Mein Freund Jacques Vaché ist tot. In der letzten Zeit war es meine Freude, mir auszumalen, welchen Gefallen Sie aneinander gefunden hätten; er hätte in Ihnen einen Bruder im Geiste erkannt und in einem gemeinsamen Einvernehmen hätten wir Großes bewirken können.“

A/ Indem Breton Tzara bezirzt, verliert er Jacques Vaché nicht, sondern findet ihn wieder.

B/ Genau. Lesen wir weiter in diesem Brief: „Ich bin wirklich begeistert von Ihrem Manifest. Ich wusste nicht mehr, von wem ich diese Courage erwarten konnte, die Sie an den Tag legen.“ Und nach diesem Kompliment setzt er sich selbst in ein aussagekräftiges Licht: „Sie wissen nicht, wer ich bin. Ich bin 22 Jahre alt. Ich glaube an das Genie von Rimbaud, von Lautréamont, von Jarry; unendlich geliebt habe ich Guillaume Apollinaire; ich empfinde eine tiefe Zärtlichkeit für Reverdy. Meine Lieblingsmaler sind Ingres, Derain; für Chiricos Kunst bin ich sehr empfänglich.“ Um schließlich noch hinzuzusetzen: „Ich bin nicht so naiv, wie es scheint.“

A/ Tzara wird im Großen und Ganzen auf Bretons Werben eingehen. Nicht ganz ohne Sicherheitsvorkehrungen. So bindet er seinem gleichaltrigen Gegenüber den Bären auf, dass er bereits 27 Jahre zähle. Was Breton in einem Brief vom 4. April 1919 zu der Bemerkung veranlasst: „Wenn ich wohl etwas weniger Abscheu empfinde, da ich jünger bin als Sie, so strebe ich doch so wie Sie nach nichts anderem, als mich meiner künstlerischen Vorurteile zu entledigen, der einzigen, die ich noch habe.“

B/ Der einzigen, die Vaché, trotz all seiner Verwünschungen, überlebt hatten. Tzara war also für Breton dazu berufen, das in ihm zu vollenden, was Vaché begonnen hatte. Ausdrücklicher geht es wohl kaum: Breton an Tzara, 28. Juli 1919 (die Juli-Ausgabe von Littérature war übrigens Vaché (8 Seiten) und Tzara (4 Seiten) gewidmet): „Ich denke an Sie so, wie ich sonst noch nie an jemanden gedacht habe – außer an Jacques Vaché [...] (das heißt, dass ich mich, bevor ich zur Tat schreite, fast immer erst mit Ihnen ins Einvernehmen setze).“

A/ Und als sich dann Ende 1919 abzeichnet, dass Tzara tatsächlich nach Paris kommen würde, greift Breton den Wortlaut aus seinem letzten Schreiben an Vaché vom 13. Januar 1919 wieder auf: „Mein lieber Tristan, Ich erwarte Sie, ich erwarte nichts mehr, nur Sie.“

B/ Es folgen zwei umtriebige Jahre, 1919 und 1920, in denen Aragon, Breton und Soupault zusammen mit Tzara eine dadaistische Aktion nach der anderen veranstalten. Doch allzu lange währt diese Allianz nicht. Breton sehnt sich dafür viel zu sehr danach, den „verneinenden Geist“ von Dada „in den Dienst einer exekutiven Macht zu stellen“, wie es in seiner Anklageschrift zum Dada-Schauprozess gegen Maurice Barrès im Mai 1921 heißt, um sich mit der Rolle des Bürgerschrecks zu begnügen. Es kommt zum Bruch mit Tzara ...

A/ ... und folglich zu einer weiteren Ausgestaltung des Vaché-Mythos. In Les pas perdus erklärt Breton Vaché kurzerhand zum Dadaisten: „Das Glück von Jacques Vaché war, nichts produziert zu haben. Immer trat er das Kunstwerk, diesen Klotz am Bein, der die Seele nach dem Tod zurückhält, mit Füßen. Als Tristan Tzara in Zürich eine entscheidende Verkündigung tat, das Dada-Manifest von 1918, überprüfte Jacques Vaché, ohne es zu wissen, die wichtigsten Artikel.“

B/ Unwissenheit schützt vor Dada nicht ...

A/ Und schon zwei Jahre zuvor, in einem Editorial für eine weitere Ausgabe von Littérature mit dem Titel „Clairement“ bringt Breton seine Prioritäten klar zum Ausdruck: „Eine gewisse Dunkelheit umhüllt heute diese Wende in der Geschichte von Littérature, als Dada sozusagen Besitz ergriff von einer kleinen Zeitschrift mit gelbem Einband, die in ihren Anfängen einen erlesenen Ruf genoss. Natürlich ist es ärgerlich, dass es so scheint, als sei Tristan Tzara, nach seiner Ankunft in Paris, bei dieser Veränderung nicht ganz unbeteiligt gewesen, obwohl dies meines Erachtens unendlich weniger wichtig war als zum Beispiel meine Begegnung mit Jacques Vaché im Jahr 1915 und vor allem die Nachricht von seinem Tod, die mich im Februar 1919 mitten ins Herz traf.“

B/ Breton dehnt die Zeit ...

A/ Je mehr er sie dehnt, desto mehr Bedeutung kann er einem an seinem Ende angelangten menschlichen Leben unterschieben. Im „Geständnis“ lodert der Mythos auf: „Gleichwohl gestehe ich“, schreibt Breton in „Clairement“, „dass ich ziemlich verrückt auf Tzara einige Hoffnungen übertragen habe, die Vaché niemals enttäuscht hätte, wenn denn das Lyrische sein Element gewesen wäre.“

B/ Lassen wir uns diesen Widerspruch auf der Zunge zergehen. Und blättern wir um, mit diesen Zeilen Bretons aus Les pas perdus: „Weg mit allem. Weg mit Dada. Weg mit eurer Frau. Weg mit eurer Geliebten. Weg mit euren Hoffnungen und Ängsten. Setzt eure Kinder im Wald aus. Gebt die Beute weg für den Schatten. Gebt, wenn es sein muss, euer Wohlstandsleben weg, das, was man euch als zukünftige Stellung vorgaukelt. Los, macht euch auf den Weg!“

A/ Weg mit allem – außer einigen Toten, einer ganzen Legion, der die Surrealisten Bedeutung unterschieben ...

B/ Sade.

A/ Der Heilige Geist des Surrealismus.

B/ Aloysius Bertrand.

A/ Gérard de Nerval.

B/ Zum Teil über ihn: die deutschen Romantiker, Jean Paul, Hölderlin, vor allem Achim von Arnim.

A/ Baudelaire. Dann Rimbaud, Lautréamont und, last but not least, Alfred Jarry.

B/ Was Jarry anbelangt, hat es Maurice Nadeau in seiner Geschichte des Surrealismus (1945 erstmals veröffentlicht) auf den Punkt gebracht: „Jarry hat nie eine Rolle gespielt, nicht mehr als er sein Leben gelebt hat. Er hat sich ein anderes Leben gemacht, am Rand, und es vollkommen erfüllt. So hat er ein Beispiel gesetzt, dem nur schwer zu folgen war, das Vaché verinnerlicht hatte, das nachzuahmen sich die Surrealisten zuweilen bemühten.“ Daher auch die Faszination für den Revolver oder die Pistole. Jarry trug immer zwei Revolver bei sich.

A/ In Les Pas perdus findet sich dann schließlich auch der Satz, der den Widerspruch für in der Zukunft auflösbar erklärt: Die Poesie, und mithin die Kunst überhaupt, sie ist erlaubt unter den Bedingungen dieses Imperativs, der sich im Durchgang durch Dada ergeben hatte: „Wir wissen nun, dass die Poesie irgendwo hinführen muss.“

B/ Aber mit verlorenen Schritten ...

A/ Jedenfalls ein willkürlicher Aufbruch ins Unwillkürliche um den Preis einer Indienstnahme: Keine neue Ästhetik, sondern Kunst als Mittel der Erkenntnis, insbesondere der bis dahin noch nicht systematisch erschlossenen Bereiche:  Unbewusstes, Traum, Wahnsinn, Halluzination, alles, was sozusagen hinter den Kulissen der Logik sein Unwesen treibt. Wobei nun dezidiert auf Distanz zu Dada der systematische, wissenschaftliche, experimentelle Charakter des Projekts in den Vordergrund rückt.

B/ Es schlägt die Stunde der „heroischen Phase“, um es mit Nadeau zu sagen.
11. Oktober 1924, Anzeige, in der Zeitschrift Journal Littéraire: „Die Initiatoren der surrealistischen Bewegung wollen den größten Aufruf zum Unbekannten tun und den Surrealismus die freiesten Bahnen einschlagen lassen. Darum eröffnen sie ab sofort eine Zentrale, in der alle willkommen sein werden, die sich für die Manifestationen des von jeder intellektuellen Besorgnis freien Denkens interessieren. / 15, rue de Grenelle,
täglich zwischen 16h30 bis 18h.“

A/ Das ist gelebter Lautréamont: „Die Poesie muss von allen gemacht werden.“ Oder populäre Basisdemokratie. Im Dienst einer ersehnten Synthese, die Breton am 15. Oktober 1924 veröffentlicht, in „Das Manifest des Surrealismus“, ursprünglich das Vorwort zu Poisson soluble: „Ich glaube an die zukünftige Auflösung dieser beiden scheinbar so gegensätzlichen Zustände, welche der Traum und die Realität sind, zu einer Art absoluter Realität.“

B/ Darauf kommen wir zurück.

A/ Ja. Aber zunächst weiter im „Manifest“. Der Lexikologe André Breton schreibt: „Surrealismus, Substantiv, maskulin. Reiner psychischer Automatismus, durch den man das reale Funktionieren des Denkens auszudrücken sucht, sei es sprachlich, schriftlich oder auf jede andere Weise. Diktat des Denkens ohne jegliche von der Vernunft ausgeübte Kontrolle, außerhalb jeglichen ästhetischen oder moralischen Ansinnens.“

B/ Aragon bringt das auf die geradezu idealistische Formel: „Was gedacht ist, ist.“

A/ Erstaunlich, dass von diesem naiven Idealismus der Allmacht des Geistes über die Materie die Surrealisten, zumindest in praktischer Hinsicht, zu einem revolutionären Materialismus gelangen, der viele von ihnen in die Arme einer politischen Partei treibt, die sich der kommunistischen Revolution verschrieben hatte, und noch viele mehr zu einer im Zeichen des Antifaschismus stehenden Revolte gegen die Politik als solche, gegen die getrennte Praxis oder die Praxis der Trennung.

B/ Du greifst vor. 1. Dezember 1924: Die erste Ausgabe von La Révolution Surréaliste. erscheint. Sozusagen die offizielle Geburtsstunde der Bewegung.

A/ Und damit die Stunde ihres Todes. Aber gut. Irgendwann muss man sich halt aufstellen. Umso mehr, wenn es darum geht, in die Ferne zu träumen. Und sich aufstellen, das bedeutet, dass man ein offizielles Organ braucht, eine Zeitschrift, also Exit Littérature und Incipit La Revolution surréaliste, und ein Büro, aber das hatten sie ja schon seit ungefähr sechs Wochen. Es geht um Öffentlichkeit und um die öffentliche Mehrzahl, man könnte sagen um kollektive Lebenskunst.

B/ Oder Kunstleben.

A/ Nun ja. Wie dem auch sei, frage ich mich schon, ob man die insgesamt zwölf Ausgaben, die zwischen 1924 und 1929 erschienen sind, nicht zugespitzt mit diesem einen Vermerk aus der zweiten Ausgabe vom 15. Januar 1925 zusammenfassen kann: „Es wurde beschlossen, dass Forschungsbüro für die Öffentlichkeit zu schließen.“ – Nicht stören. Der Dichter arbeitet ...

B/ Wobei „arbeitet“ hier ein wunderbares Beispiel für das ist, was „Resemantisierung“ genannt werden kann. „Arbeitet“ bedeutet nämlich „schläft“. Dennoch, aus der historischen Distanz betrachtet, ein erstaunliches Phänomen, diese Schlafepidemie, die die Surrealisten in dieser heroischen Phase überkommt. Sie nächtigen sozusagen in ihrem Widerspruch. Auf einem der zahlreichen damals in Paris verbreiteten surrealistischen Handzettel oder Flugschriften liest man: „Der Dichter, der auf sein Unbewusstes hört, kann er etwas für den Reichtum dieses seines Unbewussten? Alle sind Dichter, sobald sie einwilligen, zu Diensten zu stehen, und wenn der Surrealismus nichts anderes meint als „zu Diensten zu stehen“, so können alle diese „magische Kunst“ praktizieren.“

A/ Die vielleicht niemand besser beschrieben hat als Octavio Paz, um zumindest einmal eine fernab von Paris gelegene Quelle zu zitieren.

B/ In der Tat. Wobei Paz ja ab 1946 auch einige Zeit in Paris lebte. Du aber meinst bestimmt seinen 1954 in Mexiko-Stadt gehaltenen Vortrag „Der Surrealismus“.

A/ Vielleicht einer der ergreifendsten Versuche zum Thema.

B/ „Die großen Themen unserer Zeit“, so lautete die Veranstaltungsreihe, in deren Rahmen Paz seinen Vortrag hielt.

A/ Halten wir am Rande fest: In Mexiko gehörte der Surrealismus also 1954 zu den großen Themen unserer Zeit.

B/ Jedenfalls schreibt Paz dort: „Die Objektivierung des Subjekts wird mittels verschiedener Techniken erreicht. Die bemerkenswerteste und wirksamste ist das automatische Schreiben, mit anderen Worten: das Diktat des nicht gesteuerten Denkens, das sich nicht bevormunden lässt von der Moral, der Vernunft oder dem künstlerischen Geschmack. Nichts ist schwieriger, als diesen Zustand höchsten Gelöst-Seins zu erreichen. Alles widersetzt sich dieser passiven Phrenesie, angefangen mit dem Druck von außen bis zu unserer eigenen inneren Zensur und dem sogenannten ‚kritischen Verstand‘. Vielleicht ist es nicht unangebracht, hier zu sagen, wie ich über das ‚automatische Schreiben‘ denke, nachdem ich es einige Male praktiziert habe. Obgleich man versichert, dass es eine experimentelle Methode sei, glaube ich nicht, dass es experimentell noch überhaupt eine Methode ist. Als Experiment erscheint es mir unrealisierbar, wenigstens absolut betrachtet. Und statt als eine Methode sehe ich es eher als ein Ziel: Es ist kein Verfahren, um einen Zustand vollkommener Spontaneität oder Unschuld zu erreichen, sondern wäre bereits, wenn er sich erreichen ließe, dieser Zustand. Jedoch, wenn wir diese Unschuld erlangen – wenn sprechen, träumen, denken und tun schon eins geworden sind – wozu schreiben? Der Zustand, nach dem das ‚automatische Schreiben‘ trachtet, schließt jedes Schreiben aus.“

A/ „Passive Phrenesie“. Was wohl Salvador Dalí dazu und zur persönlichen Einschätzung von Paz sagen würde?

B/ Dazu kommen wir später, wenn Dalí an der Reihe ist.

A/ Gut. Kehren wir aus Mexiko und den 1950er-Jahren zurück zum revolutionären Schlaf Mitte der 1920er-Jahre nach Paris, zur magischen Kunst für alle. Von der Aragon nur wenige Jahre später im Rückblick, in seinem Traité du style von 1928 schreiben wird: „Der Surrealismus ist erkannte, akzeptierte und praktizierte Inspiration. Nicht mehr als unerklärliche Heimsuchung, sondern als ein zu übendes Vermögen. Gewöhnlich durch die Erschöpfung begrenzt. Von veränderlicher Tragweite entsprechend den individuellen Kräften. Und die Resultate sind nicht alle von gleichem Interesse. [...] Wenn Sie triste Dummheiten nach einer surrealistischen Methode schreiben, bleiben es triste Dummheiten, unverzeihlich.“

B/ Ganz schön viel Unverzeihliches in den zwölf Ausgaben von Die surrealistische Revolution ...

A/ Aber auch viele nun ja, wie soll ich sagen, Perlen?

B/ Gönnen wir uns ein paar Auszüge?

A/ Also los. „Was ist der Wehrdienst?

B/ Das Geräusch eines die Treppe hinabstürzenden Stiefelpaars.“

A/ „Die finsteren Hänge der Pflicht zerbröckeln beim Beben der Müdigkeit / Noch einmal hat sich die Dämmerung in der Nacht aufgelöst / Nachdem sie an die Wände schrieb: NICHT TRÄUMEN VERBOTEN“

B/ „Segler der Stille, das Dock ist farblos und formlos dieser Kai, von dem heute Abend das Gespensterschiff ablegen wird, dein Geist.“

A/ „Alle meine Begehren stammen aus meinen Träumen. Und ich habe meine Liebe mit Worten bewiesen. Welcher fantastischen Kreatur habe ich mich also anvertraut, in welcher schmerzlichen und meine Einbildungskraft raubenden Welt hat sie mich also eingeschlossen? Ich bin sicher, im mysteriösesten aller Bereiche, dem meinen, geliebt worden zu sein. Die Sprache meiner Liebe gehört nicht zur menschlichen Sprache, mein menschlicher Körper rührt nicht an das Fleisch meiner Liebe. Meine liebende Einbildungskraft war immer beständig und erhaben genug, als dass irgendwer es hätte versuchen dürfen, mich des Irrtums zu überführen.“

B/ „Ich habe so sehr von dir geträumt / von dir gesprochen, mit deinem Gespenst geschlafen, dass mir vielleicht nichts anderes mehr bleibt, wer weiß, als Gespenst unter Gespenstern zu sein / und hundert Mal mehr Schatten als der Schatten, der heiter über die Sonnenuhr deines Lebens huscht und huschen wird.“

A/ „Das haben Sie nur geträumt, werden Sie mir sagen. – Wer? Ich? Oder Sie?“

B/ „Drapeau – der Popo.“

A/ „Mehr noch als der Patriotismus, der eine Form von Hysterie wie jede andere ist, abgesehen davon, dass sie hohler und tödlicher ist, widert uns die Vorstellung vom Vaterland an, die wirklich die bestialischste Vorstellung ist, die man unserem Denken je einzubläuen versuchte.“

B/ „Der Wahn ist die Vorherrschaft des Abstrakten und Allgemeinen über die Poesie. Der Wahn ist nur ein Bezug, wie das Vernünftige, das Reale. Er ist eine Realität, eine Vernunft. Ich finde die wissenschaftliche Tätigkeit ein bisschen wahnsinnig, aber menschlich vertretbar. Meine Sache ist die Metaphysik. Ich exponiere mich hier nicht. Aber die erste Person Singular drückt für mich das gesamte Konzert des Menschen aus.“

A/ „Verflucht / Sei der Vater der Frau / des Schmiedes der das Eisen der Axt schmieden sollte / mit welcher der Holzfäller die Eiche fällte / aus der man das Bett zimmerte / in dem der Urgroßvater des Mannes gezeugt wurde / der den Wagen fuhr, in dem deine Mutter / deinem Vater begegnete!“

B/ „Das Begehren, etwas zu verstehen, das zu leugnen ich nicht die Absicht habe, hat mit den anderen Begehren gemein, dass es, um andauern zu können, danach verlangt, nicht vollständig befriedigt zu werden.“

A/ „Die Vorherrschaft Europas stützt sich nur auf die Waffen und das Kreuz, das Kreuz im Dienst der Waffen.“

B/ „Ja, dies ist der einzige Gebrauch, zu dem die Sprache sich fortan anbieten kann, ein Mittel zum Wahnsinn, zur Eliminierung des Denkens, zum Bruch, das Labyrinth der Irrsinne, und kein WÖRTERBUCH, in dem gewisse Pedanten am Seineufer ihre geistigen Engstirnigkeiten kanalisieren.“

A/ Nun denn. Genug der Auszüge.

B/ Einverstanden.

A/ Nadeau bringt es auf den Punkt: Die Surrealisten „sind Aufrührer, die nicht nur die traditionellen Bedingungen der Poesie ändern möchten, sondern auch und vor allem die des Lebens. Sie haben keine Lehre, aber gewisse Werte, die sie wie Fahnen hissen: die Allmacht des Unbewussten und seiner Erscheinungsweisen: Traum, automatisches Schreiben und auf diesem Weg die Zerstörung der Logik und all dessen, was sich auf sie stützt. Zerstörung der Religion, der Moral, der Familie, diesen Zwangsjacken, die den Menschen daran hindern, nach seinem Begehren zu leben. Ihre Illusion ist so groß, dass sie glauben, ihre Feinde würden allein schon beim Klang ihrer Stimme oder beim Lesen ihrer Schriften zusammenbrechen. Sie glauben noch an ‚die Allmacht des Geistes‘ (Breton). Ihr Idealismus ist rein, aber wirkungslos.“

B/ Und der Widerspruch steht mit beiden Beinen fest im Leben. Pierre Naville spitzt ihn in der dritten Ausgabe der Surrealistischen Revolution zu: „Der Geschmack schmeckt für mich abgeschmackt. Meister, Sangesmeister, verschmiert eure Gemälde. Es gibt niemanden mehr, der nicht wüsste, dass es keine surrealistische Malerei gibt. Weder die Striche eines vom Zufall der Geste geführten Bleistifts noch das die Traumfiguren nachzeichnende Bild noch die Fantasien der Einbildungskraft können so bezeichnet werden, was sich natürlich von selbst versteht.“

A/ Es gab doch noch jemanden, und der hieß André Breton. Wie Robert Lebel, der von 1940-1944 Bretons Nachbar in Greenwich-Village war, in einem 1970 erstmals ausgestrahlten Dokumentarfilm von Robert Benayoun mit dem Titel Passage Breton in Erinnerung ruft: „Bretons Verhältnis zur Malerei war ein magisches Verhältnis. Man kann sagen, dass die surrealistische Malerei von Breton in seinem Geist erschaffen worden ist, noch bevor sie überhaupt existierte. Er war ihr Inspirator, ihr Erfinder. Bereits im Jahr 1921 hat er auf die Frage, wer für ihn die bedeutendsten Künstler der Gegenwart seien, diese Namen genannt: Picasso, Chirico, Duchamp, Man Ray und Picabia.“

B/ Und Lebel führt als Beleg dieses magischen Verhältnisses das Beispiel Joan Miró an, der seit 1924 mit Breton in Kontakt stand und ab dann ganz anders malte als zuvor.

A/ Gegen Naville veröffentlicht Breton jedenfalls über mehrere Ausgaben der Surrealistischen Revolution verstreut seinen langen Essay „Der Surrealismus und die Malerei“, um zu beweisen, dass es eine surrealistische Malerei geben kann. Wobei er, der ab der vierten Ausgabe, in welcher der erste Teil seines Essays zur Malerei erscheint, die Chefredaktion der Zeitschrift an sich reißt, sich bemüht zeigt, den Widerspruch produktiv werden zu lassen: „Ist der Surrealismus eine Kraft absoluter Opposition oder eine Gesamtheit rein theoretischer Aussagen oder ein auf der Vermischung aller Ebenen beruhendes System oder der erste Stein einer neuen gesellschaftlichen Struktur? Je nach der Antwort, die ihm eine solche Frage abzuverlangen scheint, wird sich jeder anstrengen, aus dem Surrealismus alles herauszuholen, was er nur kann: Der Widerspruch schreckt uns nicht ab.“

B/ Aber man fängt doch an, auf die schiefe Bahn zu geraten, sprich: Kunst zu machen. In dieser vierten Ausgabe finden sich nur noch zwei Träume und vier automatische Texte ... Éluard und Aragon genossen bereits das Ansehen von Dichtern. Und längst waren die Gemälde von Max Ernst und André Masson bei den Kunsthändlern hochbegehrt.

A/ Allerdings ganz entschieden, ohne den Sinn für den Skandal zu verlieren. Erinnern wir an die Hommage an den französischen Dichter Saint Pol-Roux am 2. Juli 1925. Da die Surrealisten in ihm einen Dichter sahen, der in besonderer Weise auf sein Unbewusstes hörte, verehrten sie ihn und nahmen an dieser vom Mercure de France organisierten Ehrung teil.

B/ Die Veranstaltung gerät recht bald aus den Fugen. Es ist eine gezielte Provokation der Surrealisten. Auf den Tischen haben sie ihren „Offenen Brief an Paul Claudel, französischer Botschafter in Japan“ ausgelegt: Darin schreiben sie: „Die Kreation interessiert uns nicht, wir wünschen inbrünstig, dass die Revolutionen, die Kriege und die Aufstände in den Kolonien diese abendländische Zivilisation, deren Geschmeiß Sie bis in den Orient verteidigen, vernichten werden, und wir bezeichnen diese Zerstörung als den am wenigsten inakzeptablen Stand der Dinge für den Geist. [...] Und bei dieser Gelegenheit entsolidarisieren wir uns öffentlich von allem, was in Worten und Taten französisch ist.“

A/ Und aus Protest gegen den französischen Chauvinismus vieler geladener Gäste und dezidiert antideutsche Töne beginnen die Surrealisten – unter ihnen Max Ernst aus Brühl – „Hoch lebe Deutschland“ zu skandieren.

B/ Soupault hängt am Kronleuchter wie Tarzan an seiner Liane, um die Banketttische abzuräumen. Eine Massenschlägerei setzt ein, oder eher eine Jagd auf die Surrealisten, trotz aller Beschwichtigungsversuche des alten Saint Pol-Roux. Am schlimmsten erwischt es Michel Leiris, der sich mit der Menge vor dem Saal einlässt und knapp dem Lynchmord entgeht, allerdings von der Polizei geschnappt und auf dem Kommissariat übel zugerichtet wird.

A/ Um sie einmal – fast alle – aufzuzählen, die Pariser Surrealisten, lesen wir die Liste der Unterzeichner dieses offenen Briefs an Claudel vor?

B/ Gut. – Maxime Alexandre.

A/ Louis Aragon.

B/ Antonin Artaud.

A/ Jacques-André Boiffard.

B/ Joë Bousquet.

A/ André Breton.

B/ Jean Carrive.

A/ René Crevel.

B/ Robert Desnos.

A/ Paul Éluard.

B/ Max Ernst.

A/ Théodore Fraenkel.

B/ Francis Gérard

A/ Éric de Haulleville.

B/ Michel Leiris.

A/ Georges Limbour.

B/ Mathias Lübeck.

A/ Georges Malkine.

B/ André Masson.

A/ Max Morise.

B/ Marcel Noll.

A/ Benjamin Péret.

B/ Georges Ribemont-Dessaignes.

A/ Philippe Soupault.

B/ Dédé Sunbeam.

A/ Roland Tual.

B/ Jacques Viot.

A / Roger Vitrac.

B/ Illustre Truppe. Die sich zu dieser Zeit in ihrem Antipatriotismus in dem Maße weiter radikalisiert, wie Frankreich sich im Krieg gegen die Rif-Republik engagiert, unterstützt von „Priestern, Medizinern, Professoren, Literaten, Poeten, Philosophen, Journalisten, Richtern, Advokaten, Politikern und Akademiemitgliedern aller Art“, die sich in ihrem Manifest „Die Intellektuellen auf der Seite des Vaterlands“ mit der Kolonialmacht solidarisiert hatten, im Gegensatz zur kommunistischen Partei Frankreichs, dem P.C.F., vor dem die Surrealisten zu diesem Zeitpunkt allerdings noch geschlossen auf der Hut sind. Es ist diese ihre – zumindest auf der Ebene ihrer Aussagen – dezidiert antikolonialistische Haltung, die sie recht unvermittelt dazu bewegt, ihre politischen Vorbehalte – bzw. ihre Vorbehalte gegen das Politische – zu überdenken. Zusammen mit einigen dissidenten Kommunisten, die anders als der P.C.F. eher Lenins oder Trotzkis Lehren folgen, der Gruppe Clarté, und einigen jüngeren dezidiert systemkritischen Philosophen aus der Gruppe Philosophies, unter ihnen Henri Lefebvre, unterzeichnen sie das Manifest „La révolution d‘abord et toujours“ (Zuerst und immer die Revolution), veröffentlicht am 15. Oktober 1925 in der fünften Ausgabe der Surrealistischen Revolution.

A/ Dem im Übrigen eine Hommage an Trotzki und Lenin aus Bretons Feder so gut wie unmittelbar vorhergeht.

B/ Man könnte es auf die Formel bringen: Zu einer wahrhaftigen Revolution des Geistes braucht es zunächst eine Revolution der kolonialgesellschaftlichen Klassenverhältnisse.

A/ Breton drückt es anders aus, im Rückblick, das heißt in seiner Schrift „Was ist der Surrealismus?“ von 1934: Das Manifest aus dem Jahr 1925, schreibt Breton, „sollte die gesamte spätere Haltung der Bewegung prägen. Angesichts dieses brutalen, aufrührenden, undenkbaren Sachverhalts [der Krieg in Marokko] hinterfragte die surrealistische Aktivität ihre eigenen Ressourcen und wurde sich ihrer Grenzen bewusst; sie sollte uns dazu zwingen, einen präzisen Standpunkt zu beziehen, außerhalb ihrer selbst, um sich weiterhin dem entgegenzustellen, was ihre Grenzen überschritt. Es war der Zeitpunkt, da diese Aktivität in ihre reflexive Phase eintrat. Sie empfand plötzlich das Bedürfnis, den Graben zwischen dem absoluten Idealismus und dem historischen Materialismus zu überwinden.“

B/ Im Prinzip durften sie jetzt machen, was sie auch machten: Kunst.

A/ Im Spagat über dem Graben. Je mehr ich mich auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Fragen der Revolution einlasse, desto mehr kann ich in umgekehrter Richtung eine gewisse ... nun ja ... Autonomie behaupten. 1926, im ersten Artikel, den André Breton bei den neuen Freunden von Clarté veröffentlicht, entscheidet er sich zumindest in diesem Sinne: „Ich denke nicht, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen Anlass gibt, die Sache des reinen Geistes der Sache der Revolution entgegenzusetzen und von uns, oder einigen von uns, eine noch größere Spezialisierung zu verlangen. Noch weniger könnte ich es verstehen, wenn man im Namen der Nützlichkeit versuchte, mich dazu zu bewegen, zum Beispiel die surrealistische Aktivität zu missbilligen.“

B/ Pierre Naville seinerseits beharrt 1927 darauf: Da ist kein Graben, sondern ein Abgrund. Und so sehr man sich winden mag, es braucht eine Entscheidung in der von Breton gleichsam ausgehebelten Frage nach der Revolution. In seinem Buch Die Intellektuellen und die Revolution fragt Naville: „Kann es so etwas geben wie eine der Abschaffung der bürgerlichen Bedingungen des materiellen Lebens vorraufgehende Befreiung des Geistes, die bis zu einem gewissen Punkt unabhängig von diesem materiellen Leben wäre, oder aber ist die Abschaffung der bürgerlichen Bedingungen des materiellen Lebens eine notwendige Bedingung für die Befreiung des Geistes?“

A/ Und seine Antwort ist unmissverständlich. Die zweite Hypothese ist richtig. Daher muss sich der Surrealismus „resolut auf den Weg der Revolution begeben, auf den einzigen revolutionären Weg, die marxistische Stimme. Das heißt, sich klarzumachen, dass die geistige Kraft, die Teil und Ganzes des Individuums ist, aufs Engste an eine gesellschaftliche Realität gebunden ist, die sie effektiv voraussetzt.“

B/ Für Breton Anlass zur Notwehr – Légitime défense. In der achten Ausgabe der Surrealistischen Revolution. Nach dem Motto „Ich sage Spagat, ich meine Spagat“. Unnachgiebig. Er schreibt: „Im Bereich der Tatsachen kann es unsererseits keine Zweideutigkeit geben: Es gibt niemanden unter uns, der nicht wünschte, dass die Macht aus den Händen des Bürgertums in die Hände des Proletariats überginge. Bis es so weit ist, ist es aber darum nicht weniger notwendig, dass die Erfahrungen des inneren Lebens weitergehen, und zwar ohne äußere Kontrolle, sei sie auch marxistisch.“

A/ Der sie dann allerdings unter anderem Antonin Artaud opfern. Was Sie in ihrem Traktat „Au grand jour“ öffentlich machen. Sie: Louis Aragon, André Breton, Paul Éluard, Benjamin Péret und Pierre Unik. Die sogenannten „Fünf“.

B/ Und ihren Eintritt in den P.C.F. verkünden.

A/ Beinah zum Ärger der Partei, könnte man sagen.

B/ Durchaus. Denn in einer Hinsicht bleiben die Fünf sich treu. Von ihrer Warte aus, also von der Höhe dessen aus, was sie ihre „moralische Haltung“ nennen, können sie in der Tat keinen Abgrund sehen, sondern eben nur einen Graben.

A/ Es mutet alles ein wenig wie ein Alibi an. Als wollten sie ihren internen Kritikern wie Naville zu verstehen geben: Seht ihr? Wir sind sogar bereit, in die Partei einzutreten. Wo wir nicht einmal als Surrealisten auftreten möchten, wie sie in ihrem Brief „An die Kommunisten“ vom 29. April 1927 schreiben.

B/ „Der Surrealismus“, bemerkt Nadeau, „schien sich in sich selbst zurückzuziehen. Nachdem er ohne jegliche Zweideutigkeit der politischen Aktivität ihren Platz eingeräumt hat, will er seine Reihen enger um den von ihm entdeckten autonomen Schatz versammeln und ihn um so mehr umhegen, je heftiger sein Wert infrage gestellt wird.“

A/ Wobei Pierre Naville nicht davon ablässt, Brückenschläge über den Abgrund oder den Graben zu erproben. In der Doppelausgabe 9/10 der Surrealistischen Revolution vom 1. Oktober 1927 schreibt er: „Die Organisierung des Pessimismus ist wahrlich eine der seltsamsten Devisen, denen ein bewusster Mensch folgen kann. Indessen ist es diese Devise, der zu folgen wir von ihm verlangen. Diese [...] Tendenz erlaubt uns – und wird uns vielleicht weiterhin erlauben – die höchste Parteilichkeit zu beachten, jene, die uns immer schon von der Welt abgeschnitten hat; sie wird uns zugleich daran hindern, uns festzulegen, zu verenden – das heißt, dass wir entschlossen auf unserem Existenzrecht in dieser Welt beharren. Denn der Pessimismus kann sich nicht durch seine schlichte sprachliche Bejahung entwickeln, seine Wirkung entfalten [...]. Nur lebendige Ressourcen erlauben es, dem Pessimismus einen Sinn abzugewinnen, der den zu unseren Füßen angehäuften Jahren entspricht. Der Pessimismus muss organisiert werden. [...] Wie er aber jetzt organisiert werden muss, damit ihm gefolgt werde kann, ist eine Frage, die sich erst später stellen wird.“

B/ Glauben und Verzweiflung ...

A/ Zugleich der letzte Beitrag von Naville in der Surrealistischen Revolution. Er wird das Lager wechseln, Chefredakteur von Clarté werden und die Zeitschrift zur leninistisch-trotzkistischen Gegenstimme zum P.C.F. machen und dort zum Beispiel das von Stalin unter Verschluss gehaltene sogenannte „Testament von Lenin“ veröffentlichen.

B/ Zuvor wird er aber auch noch einen von Raymond Queneau verfassten surrealistischen Text signieren, der zugleich eine politische Intervention ist. Ein offener Brief an den Bürgermeister von Charleville und die dort anlässlich der Einweihung eines Denkmals zu Ehren Rimbauds auf dem Bahnhofsplatz des Städtchens in den Ardennen versammelten Würdenträger.

A/ In gewisser Weise eine Einführung in Rimbauds Werk für die Herren Honoratioren.

B/ Mit erlesenen Auszügen, wie zum Beispiel Rimbauds Brief an seinen Lehrer Georges Izambard vom 25. August 1870. „Meine Geburtsstadt ist an Idiotie allen anderen kleinen Provinzstädten überlegen. Diesbezüglich habe ich, wie Sie verstehen werden, keinerlei Illusionen mehr. Weil sie sich in der Nähe Mézières weiß, ― einer Stadt, die sich im Nirgendwo befindet; weil sie zwei oder dreihundert Piepmätzel durch ihre Straßen stolzieren sieht, fuchtelt diese Population spießbürgerlich mordlüstern mit den Armen [...]! Fürchterlich, diese Ruhestandskrämer, wenn sie sich die Uniform überstreifen! Echt dufte, was die für einen Schneid haben, die Notare, Glaser, Steuereintreiber, Schreiner und sonstigen Dickbäuche, die den Hinterlader am Herzen vor den Stadttoren von Mézières patridiotisch werden; mein Vaterland erhebt sich! … Mir aber ist’s lieber, wenn ich’s sitzen sehe; lauft Euch nicht die Sohlen ab! Das ist mein Grundsatz.“

A/ Gut. Halten wir hier fürs Erste fest, dass der Surrealismus sich zu diesem Zeitpunkt bereits ein gewisses Ansehen als Bewegung der Avantgarde verdient und Werke realisiert hatte, die gesehen und gelesen wurden, von einem recht breiten Publikum, und dass er einen beträchtlichen Einfluss insbesondere auf die jüngeren Leute hatte.

B/ Wie zum Beispiel die von Le Grand Jeu, Roger Gilbert-Lecomte, René Daumal, Roger Vailland.

A/ „Gottessucher“, so das Verdikt von Breton. Sein wenn man so möchte dogmatischer Surrealismus war mittlerweile doch sehr an konkreten Problemen ausgerichtet und unter ihnen gab es zwei, die man noch nicht wirklich zur Diskussion gestellt hatte: Sexualität (Nr. 11, 1928) und Liebe (Nr. 12, 1929) ...

B/ ... kamen nun auf die Tagesordnung.  

A/ Vielleicht sollten wir bei der Gelegenheit etwas sehr Grundsätzliches hervorheben: Der Surrealismus als solcher manifestiert sich gewiss weniger in seinen veröffentlichten „Werken“ – sei es in der Literatur oder in der bildenden Kunst – als in seinen zahllosen Handzetteln und Flugschriften, mit denen er Paris übersäte.

B/ Und eben in seinen vielen Umfragen, die er durchführte. Mit der eben erwähnten Umfrage zur Liebe endet die Geschichte von Die Surrealistische Revolution.

A/ Zitieren wir die erste und die vierte Frage: „1. Welche Art von Hoffnung setzen Sie in die Liebe? [...] 4. Glauben Sie an den Sieg der bewundernswerten Liebe über das ärmliche Leben oder an den Sieg des ärmlichen Lebens über die bewundernswerte Liebe?“

B/ Wie diese Geschichte mit einer Umfrage angefangen hatte. Die Surrealistische Revolution, Nr. 1, S. 2:

A/ „Die Surrealistische Revolution erklärt folgende Umfrage für eröffnet: Man lebt, man stirbt. Welchen Anteil hat der Wille an alldem? Es scheint, dass man sich tötet, wie man träumt. Es ist keine moralische Frage, die wir stellen. IST DER SELBSTMORD EINE LÖSUNG?“

B/ Hier vielleicht auch wenigstens eine Antwort, und zwar von René Crevel: „Eine Lösung? ... ja. [...] Man bringt sich um vor Liebe, vor Angst, wegen der Syphilis, so heißt es. Das ist nicht wahr. Alle lieben, glauben zu lieben, alle haben Angst, alle sind mehr oder weniger syphilitisch. Der Selbstmord ist ein Mittel zur Auslese. Selbstmord begehen diejenigen, die nicht die quasi-universale Feigheit haben, gegen eine gewisse Gemütsempfindung zu kämpfen, die so heftig ist, dass man in ihr bis auf Weiteres eine wahre Empfindung sehen muss. Nur diese Empfindung erlaubt die wahrscheinlichste, angemessenste und endgültige Lösung, den Selbstmord.“
Bereits in der „vorsurrealistischen“ Phase hatten Aragon, Breton und Soupault zwei Umfragen gestartet, in ihrer Zeitschrift Littérature. Die erste lautete „Warum schreiben Sie?“, die zweite „Was machen Sie, wenn Sie allein sind?“

A/ Und vielleicht sollten wir auch noch die aus der Doppelausgabe 3/4 der Zeitschrift Minotaure vom Dezember 1933 erwähnen: „Was war die entscheidende Begegnung in Ihrem Leben?“

B/ Man kann in dieser kaum zu überschätzenden Bedeutung von Handzetteln, Flugschriften und Umfragen sowohl eine gewisse Despektierlichkeit gegenüber der Aura des Kunstwerks als auch den Aspekt der kollektiven Dimension der Reflexion hervorheben, ohne dabei freilich den parodistischen Effekt gegenüber einem sich konstituierenden Kulturbetrieb zu vergessen.

A/ Was man insbesondere an der einleitenden Bemerkung zur Veröffentlichung der eingegangenen Antworten auf ihre erste Umfrage „Warum schreiben Sie?“ (1919) sehen kann: „Heute beginnen wir mit der Veröffentlichung der uns zugestellten Briefe. Wir folgen in ihrer Wiedergabe der umgekehrten Reihenfolge unserer Präferenzen, um dem Interesse beim Lesen förderlich zu sein und unseren Korrespondenten die Überraschung durch einen Kommentar zu ersparen.“ (Littérature, Nr. 10, Dezember 1919).

B/ Wir waren vor dieser kleinen Abschweifung in Sachen Flugschriften und Umfragen beim Schlagwort Konkrete Probleme ... Aber stets im Sinne ein und derselben konkreten Maxime, wie Breton im „Zweiten Manifest des Surrealismus“ schreibt, das er in der letzten Ausgabe der Surrealistischen Revolution vom Dezember 1929 veröffentlicht: „Alles bleibt zu tun, alle Mittel müssen gut dafür verwendbar sein, die Ideen der Familie, des Vaterlands, der Religion zu ruinieren.“ Und wenn es denn sein soll, dann eben mit historisch-materialistischer Note, denn „wie kann man nur annehmen, dass sich die dialektische Methode vollgültig nur zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme heranziehen lässt? Die ganze Ambition des Surrealismus besteht darin, ihr keineswegs konkurrierende Verwendungsmöglichkeiten im unmittelbarsten bewussten Bereich an die Hand zu geben. Ich sehe wirklich nicht, auch wenn dies einigen engstirnigen Revolutionären sauer aufstoßen dürfte, warum wir darauf verzichten sollten, nicht auch – insofern wir dies ausgehend vom selben Blickwinkel tun, von dem aus sie – wie wir auch – die Revolution ins Auge fassen – die Probleme der Liebe, des Traums, des Wahnsinns, der Religion zu stellen.“

A/ Wobei dieses zweite Manifest die Reaktion auf ein eklatantes Scheitern ist, gewissermaßen Bretons Rückblick auf das Jahr 1929. Anders gesagt, man trat auf der Stelle. Und da lag es nahe, sich umzuschauen und sich zu fragen, wie und vor allem auch mit wem die Frage zu beantworten wäre, welche Aktivitäten der Gruppe vereinbar sind mit dem revolutionären Werden, dem sie sich verpflichtet glaubte. Nadeau beschreibt recht treffend diesen Zeitpunkt: „Bretons Vorgehensweise ist eine Blaupause der Strategien der revolutionären Parteien: Er schlägt Gruppen oder Personen, die ideologisch oft weit auseinanderliegen, einen gemeinsamen Aktionsplan gemäß einem Programm vor, das sie akzeptieren können, und einer Disziplin, der sie nachzukommen sich verpflichten müssen. Wie der P.C.F. will er gewisse Personen, denen er nicht mehr traut, auf diese Weise bloßstellen und zugleich überprüfen, inwieweit er anderen Personen noch trauen darf.“

B/ Zu diesem Zweck wird am 12. Februar 1929 eine Art Fragebogen verschickt – also eine weitere, wenn auch dieses Mal beschränkte oder quasi interne Umfrage – sowohl an die Getreuen als auch an die bereits Ausgeschlossenen wie Artaud, an die Clarté-Gruppe und die Leute von Le Grand Jeu, und auch an einige ehemalige Dadaisten, darunter Tristan Tzara, sowie an die Redaktionsmitglieder der Zeitschrift l’Esprit und einige entferntere Freunde wie Roger Vidal oder Georges Bataille ...

A/ Das dieser Name endlich einmal fällt, wurde aber auch Zeit.

B/ Wir werden auf ihn noch ausführlich zurückkommen ...

A/ „Viel zu viele idealistische Klugscheißer“, so lautet Batailles Antwort.

B/ Während viele andere, etwa die bereits Ausgeschlossenen oder diejenigen, die Bataille nahestehen, etwa Leiris oder Masson, gar nicht antworten.

A/ Fast alle anderen, die sich in ihren Antworten gesprächsbereit zeigen, werden zu einer Versammlung am 11. März 1929 eingeladen.

B/ Machen wir es kurz: Bei der rein gar nichts herauskam.

A/ Und worauf Breton dann im „Zweiten Manifest des Surrealismus“ zu reagieren versucht. Zum einen mit einer heftigen Polemik gegen die Ausgeschlossenen bzw. Abtrünnigen, wobei die gegen Bataille bezeichnenderweise am längsten ausfällt. Und zum anderen, indem er den Widerspruch ein weiteres Mal weghebt. Breton schreibt dort: „Alles deutet darauf hin, dass es einen bestimmten Punkt im Geist gibt, von dem aus Leben und Tod, Reales und Imaginäres, Vergangenheit und Zukunft, Kommunizierbares und Unkommunizierbares, oben und unten nicht mehr als gegensätzlich wahrgenommen werden. Und vergebens wäre es, in der surrealistischen Aktivität nach einem anderen Antrieb zu suchen als der Hoffnung darauf, diesen Punkt zu bestimmen. Woraus wiederum klar ersichtlich wird, wie absurd es wäre, ihr eine nur destruktive oder eine nur konstruktive Ausrichtung zuzuschreiben: Denn der infrage stehende Punkt ist a fortiori derjenige, wo Destruktion und Konstruktion nicht mehr gegeneinander ins Feld geführt werden können. Klar ist ebenfalls, dass sich der Surrealismus nicht besonders dafür interessiert, was neben ihm produziert wird unter dem Vorwand der Kunst oder sogar der Anti-Kunst, der Philosophie oder der Anti-Philosophie, mit einem Wort alles, was nicht zum Zweck hat, das Lebewesen zu einem inneren und blinden Glanz zu vernichten, der nicht mehr die Seele des Eises als die des Feuers wäre.“   

B/ Antwort Bataille in der Schmähschrift mit dem Titel „Ein Kadaver“, die die von Breton Abgekanzelten ihm einen Monat später um die Ohren hauen – der Titel spielt auf die gleichnamige Flugschrift der Surrealisten an, die diese anlässlich des Staatsbegräbnisses von Anatole France im Oktober 1924 verbreitet hatten: „Das abscheuliche Bewusstsein, das ganz gleich welcher Mensch von einer so gut wie unausweichlichen mentalen Kastration besitzt, drückt sich unter normalen Bedingungen als religiöse Aktivität aus, denn besagter Mensch, um vor einer grotesken Gefahr zu fliehen und sich gleichwohl den Geschmack am Dasein zu bewahren, überträgt seine Aktivität in den mythischen Bereich. Da er auf diese Weise eine falsche Freiheit erlangt, fällt es ihm auch nicht mehr schwer, sich männliche Gestalten auszumalen, die nichts als Schatten sind, und folglich sein Leben feige mit einem Schatten zu verwechseln, aber alle Welt weiß, dass die Abschaffung der modernen Gesellschaft nicht Wein in Wasser verwandeln wird, wie es am Ende der römischen Epoche mit dem Christentum geschehen ist. Mit Ausnahme einiger unappetitlicher Ästheten will sich niemand mehr in einer blinden und idiotischen Kontemplation beerdigen, wie auch niemand mehr eine mythische Freiheit will. Erstaunt darüber, dass diese Abschaffung nur auf der politischen Ebene geschah und einzig in revolutionären Bewegungen zu verzeichnen war, versuchte der Surrealismus, mit der unbewussten Verzögerungstaktik und der poetischen Betrügerei des Kadavers Breton, sich in die Gepäckwagen des Kommunismus zu schleichen.  Da dieses Manöver gescheitert ist, bleibt besagtem Breton nichts anderes übrig, als sein religiöses Unterfangen durch eine armselige revolutionäre Phrasendrescherei zu tarnen. Aber wie sollte die revolutionäre Haltung eines Bretons einen anderen Eindruck erwecken als den einer Gaunerei?“

A/ Jedenfalls zeigt sich Breton Anfang 1930 ziemlich beflissen, was revolutionäre Phrasendrescherei anbelangt. Aus der Zeitschrift La Revolution surréaliste wird die Zeitschrift Le surréalisme au service de la révolution. Der Surrealismus im Dienst der Revolution. Es werden insgesamt fünf Ausgaben erscheinen, die letzte im Mai 1933.

B/ Während Louis Aragon mit dem erst vor Kurzem zu den Surrealisten hinzugestoßenen Georges Sadoul nach Moskau reist. Und es zu einem sehr förmlichen Austausch kommt zwischen der orthodox-kommunistischen Internationalen Vereinigung revolutionärer Schriftsteller in Moskau und der surrealistischen „Parteizentrale“ in Paris. Auf die Frage, auf welcher Seite die Surrealisten stehen würden, wenn der kapitalistische Imperialismus der Sowjetunion den Krieg erklären würde, lautet die surrealistische Antwort: „Genossen, wenn Imperialismus Krieg erklärt gegen Sowjets, unsere Position im Einklang mit Anweisungen der III. Internationale und Position der Mitglieder kommunistische Partei Frankreichs. Falls mögliche bessere Verwendung unserer Vermögen, stehen wir zur Verfügung für präzisen Auftrag mit jeglicher Verwendung von uns als Intellektuellen. Stop. Ihnen dazu Vorschläge unterbreiten hieße wahrlich auf unsere Rolle und die Umstände vorgreifen. In der jetzigen Situation eines unbewaffneten Konflikts ist es unseres Erachtens nicht geraten, damit zu warten, die Mittel, die im Besonderen die unseren sind, in den Dienst der Revolution zu stellen.“

A/ Doch sosehr der Surrealismus sich nun bemüht, im Dienst der Revolution zu stehen, sosehr ist dieses Jahr doch auch wieder eines der „literarischen Alibis“, wie es Breton selbst im Zweiten Manifest abschätzig formuliert. Kurzum ein Jahr der Werke.

B/ In der Tat. Es gibt nun nicht nur die surrealistische Malerei, sondern auch den surrealistischen Film. Kurz nach Der Andalusische Hund (1929) war soeben Das goldene Zeitalter von Luis Buñuel und Salvador Dalí erschienen und in aller Munde.

A/ Der Film wird sehr bald verboten. Das heißt nach gewaltsamen und offen antisemitischen Protesten gegen dieses Werk, das im Wesentlichen von Marie-Laure de Noailles finanziert wurde, die jüdischer Abstammung war.

B/ Und obwohl er von der französischen Kinemathek auf ihre 1949 veröffentlichte Liste der „Hundert Meisterwerke der Filmkunst“ gesetzt wird, durfte der Film erst ab 1981 in Frankreich wieder gezeigt werden, nach dem Amtsantritt von François Mitterand.

A/ Mit Salvador Dalí, später in den USA alias Avida Dollar, war jedenfalls jemand zur Bewegung gestoßen, der schon zu dieser Zeit kaum revolutionstauglich gewesen ist ...

B/ ... dem Surrealismus allerdings theoretisch weiterhalf ...

A/ ... mit seiner „paranoisch-kritischen Methode“.

B/ O, wir überspringen gerade die sogenannte Aragon-Affäre ...

A/ Hm. Ja, schlimm?

B/ Nun ja, ganz kurz vielleicht?

A/ Also gut. Aragon nimmt 1930 am Internationalen Kongress der proletarischen Schriftsteller in Charkiw teil und distanziert sich dort ganz explizit sowohl von der Psychoanalyse Freuds wie auch von den Positionen Trotzkis. Was auf einen Verrat am Surrealismus hinausläuft.

B/ In der Tat. Wir haben es noch gar nicht explizit gesagt: Sigmund Freud und Leo Trotzki sind zwei ganz besonders hohe Tiere im Pantheon der Surrealisten – und zudem waren sie ja auch noch am Leben ...

A/ Freud hat sogar einer Veröffentlichung eines Auszugs aus seiner Schrift Die Frage der Laienanalyse in einer Übersetzung von Marie Bonaparte zugestimmt, erschienen in der Doppelausgabe 9/10 von Die Surrealistische Revolution.

B/ Und Trotzki hatte wie bereits erwähnt seinen Ehrenplatz in dieser Zeitschrift bereits in der 5. Ausgabe (1925) erhalten.

A/ Trotzki, dem Breton einige Jahre später in Mexiko begegnen sollte ... Wobei sich Breton hocherfreut zeigte über die Aufgeschlossenheit des exilierten Revolutionärs, der ihm zu verstehen gab, dass in seinen Augen die Kunst nur revolutionär sein könne, wenn sie unabhängig von allen Regierungsformen allein ihrem eigenen Werden folge. Nur als Kampf für die künstlerische Wahrheit, nur durch die unerschütterliche Treue des Künstlers gegenüber sich selbst könne der proletarischen Befreiung im Rahmen der Kunst gedient werden.

B/ Doch nicht nur, dass Aragon öffentlich Freud und Trotzki desavouiert. Zudem veröffentlicht er auch ein Gedicht, das er als Beweis für seine Linientreue geschrieben hat: „Front Rouge“ (Rotfront).  Darin heißt es zum Beispiel: „Es gibt immer noch Waffenhändler in der Stadt / Autos vor den Türen der Spießbürger / Senst die Laternen um wie Strohhalme / Jagt die Kioske, die Banken, die Wallace-Brunnen in die Luft / Knallt die Bullen ab“ – Tja ... Es war der falsche Zeitpunkt, denn „das bestehende System“ hatte längst schon angefangen, die Surrealisten ernst zu nehmen. Also schwebten fünf Jahre Knast über Herrn Aragon ...

A/ Was seinen Freund André Breton dazu veranlasst, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um ihm aus der Patsche zu helfen – was ihm auch gelingt. Eine Petition, die er verfasst, wird binnen weniger Tage von über dreihundert Personen unterzeichnet.

B/ Von einflussreichen Personen wie zum Beispiel André Gide. Und „das System“ zieht es angesichts der breiten Öffentlichkeit dann doch vor, die Sache lieber auf sich beruhen zu lassen.

A/ Während Breton eine Verteidigung Aragons verfasst, in der er gleichwohl auf Distanz zum Gedicht geht: Misère de la poésie (l’affaire Aragon devant l’opinion publique).

B/ Mit der sich Aragon wiederum solidarisiert – gegenüber Breton. Und gleichzeitig dem Parteiorgan des P.C.F., der Tageszeitung L’Humanité, steckt, dass er die Schrift als ganze wegen der in ihr enthaltenen Angriffe auf die Partei missbillige – die dies wiederum öffentlich macht.

A/ Exit Aragon – neben Robert Desnos wohl der bedeutendste Dichter des Surrealismus – wenn ich mir diese bürgerliche Bemerkung erlauben darf.

B/ Geschenkt. Nun denn, Salvador Dalí, später alias Avida Dollar und die paranoisch-kritische Methode ...

A/ Im Grunde eine Alchemie ... Während Breton, wie es bezeichnenderweise auch auf seiner Trauerkarte steht, das „Gold der Zeit“ gesucht hat, behauptet Dalí, mit seiner paranoisch-kritischen Methode insbesondere das „Gold des Raums“ gesucht zu haben. „Das war das Ziel meines ganzen Lebens, in der Nachfolge der Alchemisten und Mystiker des Mittelalters [...], das heißt die Verwandlung der schnöden Materie in Gold, insofern es nur eine einzige Art und Weise gibt, die Materie zu vergeistigen: sie zu vergolden. Und so betrachtet muss ich sagen, dass André Bretons Anagramm Avida Dollar mir von unmittelbarem Nutzen war, denn seither prasselt eine regelrechte Diarrhö aus Gold auf mich herab“, witzelt Dalí im Rückblick ...

A/ Nun ja, was das Gold des Raums anbelangt, begnügen wir uns damit, auf das große schamanische Poem Der Sturz des Himmels von Davi Kopenawa und Bruce Albert zu verweisen ...

B/ ... und fügen wir diesem Verweis noch hinzu, was wir hier aussparen werden: die Frage, ob der Surrealismus eine Form von Schamanismus ist ...

A/ Gut. Jetzt aber die paranoisch-kritische Methode. Sagen wir mit Nadeau dies: „Während der Automatismus und der Traum für Dalí passive Zustände sind, insbesondere wenn man sie von der Außenwelt isoliert, auf die sie eher in aller Freiheit losgelassen werden sollten, weshalb sie zu Refugien werden, zu idealistischen Fluchten, ist die Paranoia eine systematisierte Aktivität, die darauf abzielt, die Wünsche oder Begehren der Menschen in skandalöser Weise in die Welt eindringen zu lassen.“ Denn wie Dalí in La Femme visible (1930) schreibt: „Die Paranoia bedient sich der Außenwelt, um der Zwangsvorstellung Geltung zu verschaffen, aber mit der verwirrenden Besonderheit, die anderen von der Realität dieser Vorstellung zu überzeugen. Die Realität der Außenwelt dient als Veranschaulichung und Beweis und steht also in Diensten der Realität unseres Geistes.“ Und in Bretons Worten Aus Was ist Surrealismus (1934): „Es geht um eine inbrünstige Spekulation über die Eigenschaft des ununterbrochenen Werdens eines jeden Objekts, auf das die paranoische Aktivität ausgeübt wird, anders gesagt die ultra-konfuse Aktivität, die ihre Quelle in der Zwangsvorstellung hat. Dieses ununterbrochene Werden erlaubt dem Paranoiker, der sein Zeuge ist, die Bilder der Außenwelt selbst für unbeständig und flüchtig, wenn nicht gar für suspekt zu halten, und es steht merkwürdigerweise in seiner Macht, die Realität seines Eindrucks von anderen prüfen zu lassen. [...] Wir stehen hier vor einer weiteren Bestätigung, mit Beweisen auf der Hand, der Allmacht des Begehrens, die seit seinen Ursprüngen der einzige Glaubensartikel des Surrealismus bleibt.“

B/ Mit anderen Worten: Bahn frei für das surrealistische Objekt. Das heißt für jedes aus seinem gewöhnlichen Rahmen herausgelöste Objekt, also „für jedes Objekt, das außerhalb seiner eigentlichen Zweckbestimmung in Betracht gezogen wird, wie auch für jedes ohne anderen Zweck als das Vergnügen seines Produzenten hergestellte Objekt und für jedes nach den Wünschen des Unbekannten, des Traums hergestellte Objekt“, wie Nadeau schreibt.

A/ Wie allerdings schon in den ready-mades von Marcel Duchamp oder den Gemälden von Picasso, in die er die unterschiedlichsten Materialien wie Zeitungspapier, Draht, usw. integriert hat, ganz zu schweigen von Max Ernsts Collagen.

B/ Ja, nur dass es nun so etwas wie eine wenn auch relative Profanierung des Traums in diesen Aktivitäten zu verzeichnen gibt, insofern in den surrealistischen Objekten, die Dalí, Breton oder auch Man Ray zu dieser Zeit haufenweise fabrizieren, eine geträumte Form sozusagen in die Materie übersetzt wird. „Wie immer es um Erfindung, Willen, Absicht, Aufmerksamkeit bestellt sein mag“, meint Nadeau – „auch hier herrscht das Primat, im Dienst des Unbewussten zu stehen, der automatischen Übersetzung eines bereits Wort für Wort gelesenen Textes.“

A/ Automatische Übersetzung ... Können wir da einen Brückenschlag zur K.I. machen?

B/ Ich denke nicht. Denn die surrealistische Voraussetzung für die automatische Übersetzung lautet: Der Gedanke wird im Mund gemacht. Es ging zu diesem Zeitpunkt wirklich, zumindest dachten das die Surrealisten, um etwas ganz Konkretes, um ihren Einzug ins alltägliche Leben: „das Leben im Dienst des Unbewussten“, wie es Nadeau zuspitzt.

A/ Wobei wir mit Nadeaus Wendung „eines bereits Wort für Wort gelesenen Textes“ vielleicht einen Brückenschlag erwägen könnten, bei dem sich die surrealistischen Würdenträger wohl im Grabe herumdrehen würden: Waren sie, ohne es zu wissen, kurz davor, zu Philologen des Lebens zu werden, wenn Philologie als Verstehen eines bereits Verstandenen definiert werden kann?

B/ Lassen wir das lieber ... und heben auch hier trotz allem den Widerspruch hervor. Denn die Profanisierung oder Profanierung schlägt auch in Dalís paranoisch-kritischer ­­Methode geradezu dialektisch in ihr Gegenteil um, denn sie bezeugt letztlich doch gerade die Allmacht des Geistes, der dank seines Deliriums in der Lage ist, auf die Welt der Fakten oder der „wirschen Wirklichkeit“, um mit Rimbaud zu sprechen, einzuwirken.

A/ Der Schwung, den Dalí mitbrachte, war also die Überzeugung, dass die Surrealisten auf die Dinge in der Wirklichkeit einwirken, ja Objekte verwirklichen können nach Maßgabe ihrer eigenen ihnen unbekannten Begehren.  

B/ Jedenfalls könnte man sagen, dass in dieser relativen Profanisierung oder Profanierung des Traums, die zugleich zwangsläufig eine Machtprobe ist, eine Möglichkeit aufscheint, die als „Politik des Surrealismus“ bezeichnet werden könnte. Wenn Traum und Wirklichkeit in Wahrheit kommunizierende Röhren sind – dies zu zeigen, ist der Anspruch von Bretons gleichnamigem Buch aus dem Jahr 1932 – dann muss es auch so etwas wie eine Politik des Surrealismus geben, denn dann sind auch die soziale Revolution und der Surrealismus kommunizierende Röhren.

A/ Und diese Politik musste zwangsläufig dazu führen, dass Breton, Éluard und Crevel bald schon (Ende 1933) aus dem P.C.F. ausgeschlossen wurden.

B/ Genau. Anlass war ein Brief von Ferdinand Alquié an André Breton, abgedruckt in der 5. Ausgabe von Der Surrealismus im Dienst der Revolution (Mai 1933), in dem es unter anderem heißt, dass die Sowjetunion sich in systematischer Verdummung ergehe und mehr und mehr das vermeintliche revolutionäre Anliegen in die Hände von Moralisten lege, die der Überzeugung seien, dass die Arbeit, und sogar noch die Zwangsarbeit, ein Jungbrunnen für den Menschen wären.

A/ Zum völligen Bruch kommt es dann auf dem Ersten internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur. Pierre-Héli Monot schreibt in Hundert Jahre Zärtlichkeit:Man traf sich, um eine gemeinsame Haltung der europäischen Intellektuellen gegen den Faschismus zu entwerfen. Im Publikum saßen die Mächtigen unter den Ohnmächtigen: Louis Aragon, Ilja Ehrenburg, E. M. Forster, Virginia Woolf, André Gide, Aldous Huxley, Egon Erwin Kisch, Thomas Mann, Heinrich Mann, Golo Mann, Klaus Mann, Ernest Hemingway, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Tristan Tzara, Boris Pasternak, Bertolt Brecht, Max Brod, Robert Musil, André Malraux.“

B/ Zitieren wir auch Monots Bewertung des Großereignisses: „Öffentlich wetteifert man um Kulturfrömmigkeit, privat glaubt man an nichts und pflichtet somit der These Kojèves bei [...]: Man lebt in einer christlichen Welt, ist aber selber Atheist geworden. Die oxymoronischen Effekte dieser inneren Zäsur (und Zensur) dürften offenkundig sein, auch für die Beteiligten selbst – zumindest episodisch. Diese drückt sich, zugleich als engagierte Gleichgültigkeit und als gleichgültige Engagiertheit, wie eine zweite Natur aus. Sie ermöglicht dem europäischen Schriftstellertum, die Strukturen zu denunzieren, an denen es teilnimmt, und an den Strukturen teilzunehmen, die es denunziert.“

A/ Und Monot führt auch Belege an. Unter anderem Brecht, der nach seiner Rückkehr aus Paris an George Grosz schreibt: „Wir haben soeben die Kultur gerettet. Es hat vier Tage in Anspruch genommen und wir haben beschlossen, lieber alles zu opfern, als die Kultur untergehen zu lassen. Nötigen Falles wollen wir 10-20 Millionen Menschen dafür opfern. Gott sei Dank haben sich genügend gefunden, die bereit waren, die Verantwortung dafür zu übernehmen.“

B/ Kommentar Monot: „Er gehört allerdings selbst dazu.“

A/ Anders als die Surrealisten. Die wollten nur dazu gehören unter zwei Bedingungen, wie sie den Organisatoren am 20. April 1935 mitteilten: „1. die Aufmerksamkeit darauf lenken, was die Worte ‚Verteidigung der Kultur‘ nur für sich genommen an Unbedingtem und Gefährlichem in sich bergen können; 2. dafür Sorge tragen, dass sich die geplanten Sitzungen nicht in mehr oder minder verschwommenem antifaschistischen oder pazifistischen Geschwafel ergehen, sondern eine gewisse Anzahl an Grundfragen ernsthaft erörtert werden, die strittig bleiben und, wenn sie systematisch ausgeklammert werden sollten, nur dazu führen werden, dass jede Bekräftigung einer gemeinsamen Tendenz, jeder Wille zu einer abgestimmten Aktion nichts weiter als Gerede sein wird.“

B/ Schließlich einigte man sich darauf, dass einem Vertreter der Surrealisten auf dem Kongress das Wort erteilt werden würde: André Breton.

A/ Der aber traf kurz vor der Eröffnung des Kongresses auf der Straße zufällig auf ein Mitglied der sowjetischen Delegation, Ilja Ehrenburg, der zudem zusammen mit André Malraux, André Gide, Jean-Richard Blich und Paul Nizon das Organisationskomitee bildete. Und da Ehrenburg in einem recht polemischen Artikel die Surrealisten als „päderastisch“ bezeichnet hatte, verpasste ihm der ausgesprochen homophobe Breton eine Ohrfeige, worauf der Geohrfeigte den Ausschluss Bretons vom Kongress erwirkte.

B/ Wogegen René Crevel, der tags zuvor erfahren hatte, dass er unheilbar krank war, und der im Vorfeld des Kongresses in engem Austausch mit dem Organisationskomitee gestanden hatte, um eine Teilnahme der Surrealisten zu erwirken, nachdrücklich protestierte, bevor er am 18. Juni den Gashahn aufdrehte und mit einem hastig auf ein Blatt Papier gekritzelten „Prière de m’incinérer. Dégoût“ das Zeitliche segnete.

A/ Was dann wohl dazu führte, dass sich die Organisatoren zu einer Kompromisslösung durchrangen: Éluard sollte Bretons Text auf dem Kongress vorlesen dürfen. Wozu es dann tatsächlich kam. Am 25. Juni 1935 als letzter Redner kurz vor Ende des Kongresses war Éluard an der Reihe, wurde allerdings bald schon vom Sitzungsleiter mit der Bemerkung unterbrochen, dass man leider zum Schluss kommen müsse, da der Saal nur bis 0 Uhr 30 gemietet sei und bald der Strom abgestellt werde.

B/ So zumindest schildern es die Surrealisten in ihrer auf diesen Kongress zurückblickenden Flugschrift vom August 1935.

A/ Darin heißt es kurz und bündig: „Beschränken wir uns darauf, den Prozess rapider Regression zur Kenntnis zu nehmen, der bezweckt, dass nach dem Vaterland auch die Familie unbeschadet aus der vor sich hinsiechenden russischen Revolution hervorgehen möge. So bleibt dort eigentlich nur noch, der Religion wieder auf die Beine zu verhelfen und, warum nicht, dem Privateigentum, damit es um die schönsten Errungenschaften des Sozialismus geschehen ist. Auch wenn es bedeutet, den Furor ihrer Weihrauchschwenker zu provozieren, fragen wir, ob es nicht eines anderen Fazits bedarf, um ein Regime anhand seiner Werke zu beurteilen, in diesem Fall das derzeitige Regime Sowjetrusslands und den allmächtigen Führer, unter dem dieses Regime in die Negation dessen umschlägt, was es sein sollte und was es war. Diesem Regime, diesem Führer gegenüber können wir nur unser Misstrauen zum Ausdruck bringen.“

B/ Und kurz darauf kommt es dann zu Contre-Attaque. Im Wesentlichen ein Zusammenschluss der Getreuen um Breton mit Georges Bataille und einigen seiner Weggefährten – im Grunde ein mehr als unwahrscheinlicher Zusammenschluss, wenn man an die Heftigkeit der Auseinandersetzungen aus dem Jahr 1929 zurückdenkt, der ihnen aber aufgrund der Dringlichkeit der politischen Lage geradezu geboten erschien.

A/ Die erste Flugschrift dieses „Kampfbundes revolutionärer Intellektueller“ vom 7. Oktober 1935 endet wir folgt:Wir stellen fest, dass die nationalistische Reaktion in anderen Ländern die von der Arbeiterbewegung erschaffenen politischen Waffen zu nutzen gewusst hat. Wir beabsichtigen, unsererseits die Waffen des Faschismus zu nutzen, der in der Lage war, das grundlegende Streben der Menschen nach affektiver Begeisterung und Fanatismus für sich zu nutzen. Aber wir behaupten, dass die Begeisterung, die in den Dienst des allgemeinen Interesses der Menschheit gestellt werden muss, unendlich ernster und erschütternder sein muss und von einer ganz anderen Größe als die der Nationalisten, die sich der bestehenden Gesellschaft und den selbstsüchtigen Interessen der Vaterländer unterworfen haben.
Ohne jeden Vorbehalt muss die Revolution durch und durch aggressiv sein, kann sie nur durch und durch aggressiv sein. Sie kann, wie die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zeigt, zum Nutzen der aggressiven Forderungen eines unterdrückten Nationalismus missbraucht werden; aber der Wunsch, die Revolution auf den nationalen Rahmen eines dominierenden und kolonialisierenden Landes zu beschränken, zeugt nur von der intellektuellen Schwäche und politischen Ängstlichkeit derjenigen, die diesen Weg einschlagen. Durch ihre tiefe menschliche Bedeutung, durch ihre universale Tragweite wird die Revolution den Menschen aufhelfen, nicht aber durch ein schüchternes Zugeständnis an ihren Egoismus oder ihren lokalen Konservatismus. Alles, was unseren Willen rechtfertigt, uns gegen die herrschenden Sklaven aufzulehnen, interessiert ohne Unterschied der Hautfarbe die Menschen auf der ganzen Erde.“

B/ Das klingt nicht gerade nach O-Ton Breton.

A/ Nein. Damit sind wir bei Georges Bataille.

B/ Und müssen eine lange Klammer öffnen und nochmals in die Zeit der Zeitschrift Die surrealistische Revolution zurückkehren. Genauer gesagt zunächst ins Jahr 1924. Denn da lernt der zu diesem Zeitpunkt als Archivar in der französischen Nationalbibliothek verbeamtete Absolvent der Elitehochschule für Urkundenforschung, l’École nationale des chartes, Georges Bataille, der noch nichts veröffentlicht hat, also ein unbeschriebenes Blatt ist, Michel Leiris kennen, der ihn wiederum in die surrealistische Gruppe aus der Rue Blomet um den Maler André Masson einführt. Hier verkehren neben Leiris unter anderem Georges Limbour, Roland Tual, Max Jacob, aber auch Antonin Artaud, Joan Miró oder Jean Dubuffet. Und nicht zuletzt ein alter Freund von André Breton: Théodore Fraenkel. Insbesondere Leiris, Masson und Fraenkel wird Bataille bald schon freundschaftlich verbunden sein. Und mehr oder minder flüchtig begegnet er 1925 dann auch den Koryphäen der Bewegung, Breton und Aragon. 1926 kommt es sogar zu einer Mitarbeit von Bataille an der 6. Ausgabe von Die Surrealistische Revolution: Breton hatte Bataille über den Vermittler Leiris gebeten, „ein oder zwei der signifikantesten Fatrasien aus dem Mittelalter ins moderne Französisch zu übersetzen.“ Der Name des Übersetzers wird allerdings nicht in der Zeitschrift genannt.

A/ Bataille selbst schildert diese Zeit in seinem 1951 geschriebenen Text „Der Surrealismus tagein tagaus“: „Ich persönlich war nichts, außer der Ort einer leeren Aufwallung. Ich wollte nichts, ich konnte nichts. Es war da nichts in mir, was mir das Recht hätte verleihen können, den Mund aufzumachen, und sei es auch nur flüsternd. [...] Unversehens fand ich mich vor Leuten wieder, die im Tonfall der Autorität sprachen [...]. Ich war schüchtern und viel zu sehr darauf bedacht, mich unsichtbar zu machen, um mich mit diesen entrückten Wesen auseinandersetzen zu können, die mir das Gefühl eines großartigen Lebens vermittelten, das doch nur eine Laune war: Ich wusste, dass ich nicht die Kraft hatte, vor ihnen zu sein, was ich war. Sie drohten, mich in dem Maße, wie ich sie liebte (bewunderte), zu erdrücken, ja buchstäblich zu ersticken.“

B/ 1928 veröffentlicht der schüchterne Archivar unter Pseudonym dann Die Geschichte des Auges. Das Pseudonym Lord Auch bedeutet so viel wie „Gott auf dem Klo“.

A/ Nun ja, Veröffentlichung ist vielleicht etwas zu viel gesagt. Es wurden 134 Exemplare gedruckt, ohne Angabe eines Verlags; und sie wurden nur unter der Hand verkauft. Eine erste Veröffentlichung im eigentlichen Sinn hat er dann aber 1928 doch vorzuweisen. Im eigentlichen Sinn will hier heißen: als Georges Bataille, so wie er heute bekannt ist, im Sinne eines ersten öffentlichen Zeugnisses seines Werks, seines Denkens, in der Fachzeitschrift Cahiers de la République des Lettres, des Sciences et des Arts. Der Titel seines Textes: „Das verschwundene Amerika“. Es geht im Wesentlichen um die blutrünstigen Opferriten der Azteken und ihren „schwarzen Humor“.

B/ Zugleich hat er aber 1928 auch schon einige Fachartikel über mongolische Münzen in einer Zeitschrift für Archäologie namens Aréthuse (auf Deutsch Arethusa) veröffentlicht.

A/ Die 1929 eingestellt und durch eine neue Zeitschrift ersetzt wird: Documents, deren erste Ausgabe am 1. April 1929 erscheint.

B/ Wir können jetzt aber nicht allzu ausführlich auf diese Zeitschrift eingehen. Die Michel Surya als „Eselstritt gegen den Surrealismus“ bezeichnet hat.

A/ Nein. Aber wir müssen doch kurz schildern, worum es dabei ging. Der Mäzen dieser Publikation, Georges Wildenstein, war ein angesehener Kunsthändler und der Herausgeber eines Hochglanzmagazins, La Gazette des Beaux-Arts. Die ehemaligen Chefredakteure von Aréthuse hatten ihn von einem Projekt überzeugen können, bei dem neben der Archäologie auch die Ethnologie in den Vordergrund gerückt werden sollte.

B/ Und dazu hatten sie Georges-Henri Rivière gewonnen, der seinerzeit der stellvertretende Direktor des ethnografischen Museums in Paris war, dessen Nachfolger heute das Musée du quai Branly ist. Rivière, mit dem Bataille zu diesem Zeitpunkt dank Michel Leiris bereits bekannt war, erwirkte, dass Bataille, der junge talentierte Wissenschaftler und Archivar, zum „Generalsekretär“ erkoren wurde und somit zusammen mit dem namentlichen „Chefredakteur“, dem deutschen Schriftsteller Carl Einstein, das Programm der neuen Zeitschrift bestimmen sollte.

A/ Wobei die Ethnologie ein Thema ganz für sich wäre, das wir hier auch recht willkürlich aussparen.

B/ Aber dann doch wenigstens dies dazu sagen: Was in ethnologischer oder ethnografischer Hinsicht in Documents erscheinen sollte, lässt sich auf ein doppeltes Tun zusammenfassen: Erzeugnisse der europäischen „Hochkultur“ wurden wie „völkerkundliche“ Objekte betrachtet. Und was herkömmlich als ein solches Objekt betrachtet wurde, also insbesondere Erzeugnisse außereuropäischer Kulturen, das wurde der Exotisierung entzogen.

A/ Jedenfalls schlugen dank Bataille bald schon eine ganze Reihe von Surrealisten in den Redaktionsräumen auf, die kurz zuvor bei Breton mehr oder weniger in Ungnade gefallen waren, als Redaktionssekretär zunächst Georges Limbour, der später dann von Michel Leiris abgelöst wurde, aber auch Jacques-André Boiffard, Roger Vitrac oder Robert Desnos.

B/ Ein äußerst seriöses wissenschaftliches Zeitschriftenprojekt, bei dem Akademie-Mitglieder, Museums- und Bibliothekskonservatoren sowie Kunstgeschichtler im Redaktionskomitee vertreten waren, wurde unterwandert.

A/ Und schon am 15. April, also kurz nach Erscheinen der ersten Ausgabe, schreibt einer der Initiatoren, Pierre Espézel, an Bataille: „Es ist erforderlich, sich auf den Geist zu besinnen, der uns das erste Projekt dieser Zeitschrift hat ins Auge fassen lassen, als wir mit Monsieur Wildenstein darüber sprachen, Sie und ich.“

B/ Allerdings lässt sich Bataille, der „sture Bauer“, wie Leiris ihn hier und da nannte, nicht beirren. Im Editorial zur ersten Ausgabe hieß es, gleichsam im Sinne einer werbewirksamen Ankündigung einer erweiterten Ausrichtung im Vergleich zu Aréthuse: „Die verstörendsten, noch nicht klassifizierten Kunstwerke und gewisse bislang vernachlässigte uneinheitliche Schöpfungen werden zum Gegenstand von Studien, die so streng und so wissenschaftlich sein werden wie die der Archäologen.“

A/ Doch wie Michel Surya in seiner Bataille-Biografie (Georges Bataille, la mort à l’oeuvre, 1992) treffend schreibt: „Recht bald schon stand es gar nicht mehr zur Debatte, dass man aus dem, was gegen die ‚Anstandsregeln‘ verstößt oder nicht dem guten Geschmack entspricht, ein Anhängsel, eine Kuriosität, ein ‚Mehr‘ macht, auf das die Zeitschrift im Unterschied zur Konkurrenz stolz sein konnte: Es wurde zum Wesentlichen. Das Ungereimte, Uneinheitliche, ja Unheimliche wurde zum Markenkern.“

B/ „Dokumente statt Träume, [...] Wissenschaft statt Poesie oder gar ‚Literatur‘, materielle Kultur statt autonomer Kunst, Ethnografie statt ‚primitiver Kunst‘, Gebrauchswerte statt Ästhetik“, wie Irene Albers zusammenfasst (Der diskrete Charme der Anthropologie. Michel Leiris‘ ethnologische Poetik, 2018). Geradezu ein Wunder, dass der Mäzen Wildenstein es zwischen April 1929 und Januar 1931 zu insgesamt fünfzehn Ausgaben kommen ließ, bevor er den Geldhahn abdrehte.

A/ In der Tat.

B/ Und was man da insbesondere aus der Feder Batailles zu lesen bekam, dürfte Breton mit seinem Hang zum Anmutigen und Charmanten kaum geschmeckt haben. Die Motive, die bei ihm immer wieder auftauchen, wie Julien Gracq einmal betonte: „der Vogel, der Farnzweig, der Kolibri, die Muschel, kurzum die Diamanten der Natur“ ... Hier nun aber der große Zeh!

A/ Zitieren wir Surya: „Der große Zeh (erschienen in Documents, Nr. 6, November 1929) ist eine rückhaltlose Parodie auf den poetischen Idealismus. Der gewählte Gegenstand ist keine Blume, sondern nach gängiger Meinung der niedrigste von allen, der unwürdigste. Unwürdig? Bataille protestiert vehement. Sein Schicksal, in den Schmutz, in den Dreck gezogen zu werden, mit Hühneraugen, Schwielen und Ballen geschlagen, dieses Schicksal ist das des Menschen, das man fälschlicherweise als erhaben betrachtet. Während jenes sich an seiner Erektion gen Sonne ergötzt, verschafft ihm der große Zeh in Schmutz und Dreck den notwendigen Stand. Als solcher verweist der Zeh darauf, dass das Leben aus einem Auf und Ab vom Schmutz zum Ideal und vom Ideal zum Schmutz besteht. Der Fuß ist so niedrig, dass er, wie der Sturz (wenn der Fuß das Gleichgewicht nicht halten kann), der Tod ist. Und weil er der Tod ist, ist er am menschlichsten und am begehrenswertesten.“

B/ O-Ton Georges Bataille: „Der Sinn dieses Artikels beruht auf dem Beharren, das Verführerische unmittelbar und ausdrücklich infrage zu stellen, ohne die poetische Küche zu beachten, die definitiv nichts anderes ist als eine Unterschlagung (die meisten Menschen sind debil und können sich ihren Trieben nur im poetischen Zwielicht überlassen). Eine Rückkehr zur Realität beinhaltet keinerlei erneute Bewältigung, sondern bedeutet, dass man vom Niederen, Gemeinen verführt wird, ohne Transposition und bis zum Schreien, mit weit aufgerissenen Augen beim Anblick eines großen Zehs.“

A/ Halten wir also fest, dass Documents binnen sechs Monaten zu einer regelrechten „Kriegsmaschine“ gegen den Surrealismus wurde, wie Surya schreibt, und klar an den Tag brachte, was der Surrealismus nicht war, was er unter der Ägide Bretons nicht sein konnte.

B/ Unter der Ägide des Wunderbaren, wie es im Ersten Surrealistischen Manifest heißt: „Sagen wir es in aller Entschiedenheit: „Das Wunderbare ist immer schön. Ganz gleich welches Wunderbare ist immer schön, nur das Wunderbare ist schön.“

A/ Kommentar Michel Surya: „Das Wunderbare des Surrealismus verschleierte nur mühsam das Gemetzel des Ersten Weltkriegs. Batailles ‚Bestialität‘ machte mehr Aufhebens um die Verzweiflung und Abscheu, in die er eine ganze Generation getrieben hatte. Und so scheußlich dieser Krieg auch gewesen war, versprach Bataille nicht, dass es eine Welt ohne Krieg geben werde.“

B/ Es musste demnach zum Konflikt kommen. Breton polemisiert im Zweiten Surrealistischen Manifest dann wie schon gesagt lang und breit gegen Bataille.

A/ Der mit seinem Beitrag zur Flugschrift „Ein Kadaver“ kräftig dagegenhält, wie wir ja ebenfalls schon gesehen haben. Wobei er Jahre später, 1951 im Rückblick, sehr versöhnlich klingt im Vergleich zur beleidigen Polemik aus dem Jahr 1929. „Ich gab schließlich mein Schweigen auf“, schreibt Bataille 1951, „und nahm am horrenden Spiel teil, wobei ich mich vor meiner Anmaßung ekelte, die ja nur darauf beruhte, die Anmaßung eines anderen zurückzuweisen. Ich musste mich also meinerseits aufplustern, immer mehr aufplustern, immer dämlicher, um einen Schwulst zu geifern, aus dem ich hinausragte. Welch ungeheure Summe an moroser Energie ich da wohl verausgabt habe, um eine Mischung aus Schweigen und herausgebrüllter Dämlichkeit zu ertragen, der ich damals frönte!“

B/ Ja, nach dem Zweiten Weltkrieg wird Bataille in zahlreichen Stellungnahmen zum Surrealismus nuancierter. Bereits in einem Artikel vom Januar 1946 schreibt er: „Ich habe mich bei jeder Gelegenheit dem Surrealismus widersetzt. Jetzt möchte ich ihn aber von innen bejahen als Anforderung, die ich erlitten habe, und als Unzufriedenheit, die ich bin. Aber daraus wird Folgendes klar ersichtlich: Der Surrealismus wird bestimmt durch die Möglichkeit seines alten Feindes von innen, der ich bin, ihn tatsächlich zu definieren. Er ist das wirklich virile Bestreiten (ohne irgendetwas Versöhnliches, Göttliches) der anerkannten Grenzen, ein rigoroser Wille zur Unbeugsamkeit.“

A/ Lass uns diese Frage nach dem Versöhnlicheren in Batailles Auslassungen zum Surrealismus nach 1945 etwas zurückstellen. Denn wir sollten ja ohnehin nochmals auf etwas zurückkommen, was man vielleicht die grundsätzlichen Differenzen zwischen Bataille und dem Surrealismus nennen könnte und viel mit ihrer jeweiligen Auffassung von Sprache zu tun hat, mit ihren jeweiligen, aber verschiedenen Misologien.

B/ Misologie: Hass auf die Sprache. Gegenteil von Philologie. Einverstanden. Oje, wir waren, weißt du noch, eigentlich mitten aus dem intellektuellen Kampfbund Contre-Attaque zu dieser unserer Abschweifung ausgeschert.

A/ Ja, ich erinnere mich.

B/ Gut. Schweifen wir dennoch vorerst weiter ab. Und halten zumindest kurz fest, worum es 1929, neben der Polemik, in der Sache ging.

A/ Um den Marquis de Sade.

B/ Die Ausnahmeerscheinung für André Breton. Ich meine der Einzige, der für Breton über alle moralischen Forderungen hinsichtlich einer ebensolchen „Haltung“ erhaben war, da der Marquis wie niemand sonst sich von allen Dienstbarkeiten zu befreien gesucht habe und aufgrund dieser Radikalität seiner subversiven Praxis auf jedes Mittel zurückgreifen durfte, auch wenn dieses für jeden anderen eine moralische Verurteilung nach sich gezogen hätte.

A/ Wenn man liest, was Breton in der 11. Ausgabe der Surrealistischen Revolution in den „Forschungen über Sexualität“ zum Besten gibt, kann man sich nur wundern, dass er aus Sade seinen Säulenheiligen zu machen versucht. Und im Grunde reibt ihm Bataille diese Verwunderung unter die Nase. „Es scheint heute üblich geworden zu sein, Sades Schriften (und mit ihnen die Person ihres Verfassers) über alles (über fast alles) zu stellen, was man ihnen entgegensetzen könnte: Aber es kommt nicht infrage, ihnen den geringsten Platz sei es im privaten, sei es im gesellschaftlichen Leben einzuräumen, weder in der Theorie noch in der Praxis. [...] Er ist nur insoweit Gegenstand einer überfrachteten Begeisterung, als dies seine Ausscheidung erleichtert.“

B/ Bataille reibt es Breton unter die Nase? Ja und nein. Denn all das, was er wahrscheinlich zurzeit dieser polemischen Auseinandersetzung zu Papier gebracht hat, blieb ja sozusagen in Batailles Schublade und wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht.

A/ Stimmt. Und doch zeichnet sich in diesen zu Lebzeiten Batailles nie veröffentlichten Texten so etwas wie eine Politik der Ausscheidung ab. Oder der Verschwendung. Um verständlich zu machen, worauf ich hinauswill, muss ich kurz auf den Unterschied zu sprechen kommen, der Bataille zufolge zwischen der „libertinage“ besteht, für welche Sade einsteht, und der „débauche“, also der Zügellosigkeit oder der rückhaltlosen Verausgabung, die Bataille dem Marquis entgegensetzt. Michel Surya bringt das präzise auf den Punkt, wenn er schreibt: „Im Unterschied zu Sade ist Bataille kein libertin, sondern ein débauché [...]. Die Erotik, die Bataille ins Spiel bringt, besudelt, schadet und ruiniert. Sie ist von vorneherein mit einer obsessiven Vorstellung vom Tod verbunden. Er ruiniert: eine Erinnerung, eine Selbstgefälligkeit, einen Schwur, die Möglichkeit von Schönheit oder Heil, eine Treue, eine Erziehung, eine Moral, eine Frau, Gott ... Ganz gleich! Der libertin bezieht, der débauché verprasst; Ersterer ist in einer Ökonomie der Anhäufung: von Lust und Besitz, Letzterer in einer Ökonomie der Verschwendung, des Verlusts, der Verausgabung, des Ruins.“ Ersterer ist aneignend, Letzterer verausgabt sich, indem er sich dem aussetzt, was unter keinen Umständen angeeignet werden kann.

B/ Weshalb Bataille eine Wissenschaft über das, was ganz anders ist, ins Auge gefasst hat, die er auf den Namen Heterologie tauft. Dabei handelt es sich in letzter Instanz, insofern das, was ganz anders ist, immer auch unwiderruflich abstoßend ist, um eine Skatologie, die aber auch das Heilige mit einbezieht: Gott auf dem Klo.

A/ Und das ist in gewisser Weise schon Politik. Gegen die libertinäre Logik von Aneignung und Anhäufung eine Rückbesinnung auf das Niedere, sozusagen getreu nach Karl Marx: „In der Geschichte wie in der Natur ist Fäulnis das Labor des Lebens.“

B/ Eine Politik, die sich dezidiert gegen eine Präposition richtet: Gegen die Präposition „sur“. Also kein Surréalisme, kein Überrealismus, sondern eher ein Sousréalisme, ein „Unter-realismus“, und natürlich vor allem kein Schwelgen im Übermenschlichen.

A/ Programmatisch schreibt Bataille (für seine Schublade): „Wenn man unter dem Namen Materialismus eine derbe Emanzipation des in seinem moralischen System eingekerkerten menschlichen Lebens verstünde, einen Rekurs auf alles Schockierende, unmöglich zu Zerstörende, ja Abstoßende, auf alles, was den Geist niederstreckt, auf Abwege bringt und lächerlich macht, wäre es möglich, den Surrealismus als Kinderkrankheit dieses niederen Materialismus zu definieren.“

B/ Gegen alle surrealistischen Überideen, sei es der Geist oder das Denken, die Poesie, das Absolute oder das Surreale, in deren Namen der im Dienst der Revolution stehende Surrealismus die Welt, wie sie ist, verneint ...

A/ ... Bataille würde sagen, dass er sich mehr von dieser Welt abkehrt, als sie verneint ...

B/ ... Gut, von ihr also abkehrt, um allem Niederen in dieser Welt den hehren Mythos einer vermeintlich souveränen Subversion entgegenzusetzen, um die „beiden scheinbar so gegensätzlichen Zustände, welche der Traum und die Realität sind, zu einer Art absoluter Realität“ aufzulösen.

A/ Und mithin auch den Gegensatz zwischen Kunst und Leben, zwischen Poesie und Leben.

B/ Was eben nur mit einer gehörigen Portion Misologie geht ...

A/ Die Breton und Bataille gemeinsam war.

B/ Misologen waren sie beide. Aber wohl nicht auf die gleiche Art und Weise ...

A/ Wenden wir uns zunächst einer charakteristischen Stelle aus einer kurzen Sammelrezension zu, die Bataille 1933 über drei kurz zuvor erschienene Bücher von Breton, Tzara und Éluard geschrieben hat. Dort heißt es: „Tristan Tzaras Gedichte zeugen von einer unbestrittenen Größe. Und wenn sie den Anschein erwecken, dem Leben fremd zu sein, außerhalb desselben zu stehen, ist dieser Charakter der Abgeschiedenheit, weit davon entfernt, an Ohnmacht zu gemahnen, zweifelsfrei das Blendendste, das es auf der Welt gibt. Der Ausdruck in den Grenzen der Poesie erreicht so seinen äußersten Punkt. Doch zugleich erweist er sich als unfähig, den Lauf irgendeiner Existenz zu verändern und den vom Surrealismus bekundeten grundlegenden Bedürfnis zu entsprechen. Der Bruch mit dem Leben in seiner Gesamtheit bleibt, so verführerisch er sein mag, nichts weiter als die Vollendung der verarmenden Tendenzen der Poesie Mallarmés.“

B/ Was mit den „verarmenden Tendenzen“ der Poesie Mallarmés gemeint ist, kann man aus einem Brief entnehmen, den Mallarmé im Juni 1863 an Henri Cazalis schreibt. Dort heißt es: „Die Dummheit eines modernen Dichters [gemeint ist Baudelaire in seinem Gedicht „Die Verleugnung des Heiligen Petrus“] ging so weit, darüber untröstlich zu sein, dass die Tat nicht des Traumes Schwester war. [...] Mein Gott, wenn es anders wäre, wenn der Traum in dieser Weise entjungfert und erniedrigt wäre, wohin sollten wir uns dann retten, wir Unglücklichen, die sich vor der Erde ekeln und nur den Traum als Zuflucht haben.“

A/ Mallarmé hält also zumindest in einer Hinsicht – und auf diese wollen wir uns hier beschränken – am Gegensatz oder an der Differenz zwischen Traum einerseits und Tat – oder Leben oder Wirklichkeit – andererseits fest. Für ihn braucht es ein der Wirklichkeit als Negation, sei diese abstrakt oder bestimmt, gegenüberstehendes Korrektiv.

B/ Während sowohl Bataille als auch die Surrealisten diesen Widerspruch oder Gegensatz auflösen möchten ...

A/ Zumindest ist diese Auflösung das explizite Ziel der Surrealisten. Bataille hingegen stellt zum einen eher beschreibend fest, also 1933, nach ungefähr zehn Jahren Surrealismus, „dass der Surrealismus keinen anderen Sinn aufweisen kann als den, die Erschöpfung, die Leere und die Verzweiflung, durch die das geistige Leben der modernen Gesellschaften geprägt sind, auf die Spitze zu treiben. Er wird jedenfalls sein Versprechen, aus dieser Existenz hinauszugelangen, nicht einlösen können, da er nicht dazu fähig ist, eine Verbindung zwischen der Poesie und dem Leben zu verwirklichen.“ Und zum anderen zielt er in allem, was er je geschrieben hat, eigentlich immer darauf ab zu zeigen, dass eine solche Verwirklichung unmöglich sein muss, so verführerisch der Gedanke daran auch sein mag.

B/ Schreiben oder leben. Malen oder leben ...

A/ Darauf lässt es sich in der Tat hinunterbrechen. Solange wir schreiben oder malen, können wir nur den reinen Augenblick oder die Unmittelbarkeit des Lebens verneinen. Der Gegensatz oder Widerspruch bleibt unlösbar. „Alles, was wir vermögen“, schreibt Bataille 1946 in einem Text über André Masson, „ist zu akzeptieren, dass er uns bis zu den Grenzen der Spannung trägt. Nutzlos ist es, darauf zu hoffen, den Verstand beseitigen zu können (ohne ihn bliebe nur Leere, Ohnmacht, Wahn – oder aber das rein Ästhetische): Wir können daher nur im Unmöglichen verweilen.“

B/ Das könnte das Fazit dessen sein, was er im selben Jahr in seinem Artikel „Der Surrealismus und sein Unterschied zum Existenzialismus“ seine „ballistische Studie über einen Schuss“ nennt. Der Surrealismus von Breton sei ein einziger Wutausbruch gegen die Dienstbarkeit oder Unterwürfigkeit des Geistes. Bataille macht aus Breton seinen Bruder im Geiste, wobei der Unterschied zwischen den Brüdern darin bestehe, dass Ersterer sich über die Unmöglichkeit, mit einem Kugelschreiber zu schießen, bewusst ist.

A/ Das ist in der Tat die Position Batailles zum Surrealismus nach dem zweiten Weltkrieg.

B/ Er schreibt also in dieser seiner ballistischen Studie: „Bretons Anliegen war der Schuss selbst. Von der Tragweite seiner Entscheidung getroffen, war ihm weniger daran gelegen, seine Motive zu erläutern, als der Gewalt seiner Gefühle zum Ausdruck zu verhelfen. [...] Er folgte der Anforderung der Leidenschaft, nicht dem intellektuellen Anstand. In seinen Schriften war die Darstellung des Gegenstands immer mit den unterdrückten Wallungen des Zorns verbunden. [...] All das konnte kaum auf Anhieb ‚klar und deutlich‘ sein. [...] Die Moral, an die sich André Breton gehalten hat, ist ziemlich schlecht definiert. Aber es handelt sich, falls so etwas möglich ist, um eine Moral des Augenblicks. Sie beruht im Wesentlichen auf der erhobenen Forderung zu wählen zwischen dem Augenblick, dem Wert des jetzigen Augenblicks – der freien Aktivität des Geistes – und der Sorge um die Resultate, die sogleich den Wert und in gewissem Sinne sogar die Existenz des Augenblicks aufhebt. [...] Die Freiheit ist keine Wahlfreiheit mehr, sondern die Wahl ermöglicht eine Freiheit, die freie Aktivität, die verlangt, dass ich, nachdem die Entscheidung einmal für sie gefallen ist, keine weitere Wahl mehr zulasse, denn eine Wahl zwischen den verschiedenen Möglichkeiten der entfesselten Aktivität würde im Hinblick auf spätere Resultate getroffen. Die surrealistische Entscheidung besteht also darin, nicht mehr zu entscheiden.“

A/ Anders gesagt: Vom automatischen Schreiben führt kein Weg zum Werk: „Eine freie Kunst“ ist ein Widerspruch in sich. Frei ist nur, wer den Augenblick lebt, sich an ihn verliert, „dans le fond des nuits“, wie Batailles Formel lautet, „in der Tiefe der Nächte“.  

B/ Und darum braucht es für ihn eine Entscheidung ganz anderer Art, die eben auf dem Bewusstsein beruht, dass der Widerspruch nicht zu lösen ist. Und diese Entscheidung lautet im Grunde: Dass jede Kunst diesen Widerspruch reflektieren muss, wobei ihr zwangsläufig klarwerden muss, dass sie immer nur die Komödie seiner Überwindung spielen kann, dass sie bestenfalls einen Nachhall ihres eigenen Gelächters über sich selbst als Kunst retten kann, wenn sie denn eine Form von Kommunikation bleiben möchte, die, wie Bataille an anderer Stelle schreibt, „einzig dazu fähig ist, uns auf die Ebene der Bedeutung gelangen zu lassen, ohne die sich alles in der Äquivalenz verliert.“

A/ Wobei sich selbst Bataille 1946 zu einem Blick in die Zukunft hinreißen lässt: „Die Bücher stehen geordnet in den Regalen, die Gemälde schmücken die Wände. Daher kann ich sagen, dass der große Surrealismus beginnt.“

B/ Alcheringa!

A/ Worte zu Firmennamen! Wie Walter Benjamin es gesagt hat:Die Dichtung der Surrealisten behandelt die Worte wie Firmennamen und ihre Texte sind im Grunde Prospekte von Unternehmungen, die noch nicht etabliert sind.“

B/ Strenggenommen muss es aber bei den Firmennamen bleiben. Die Moral des Augenblicks verlangt nach einer Zerschlagung der Syntax. Die Worte dürfen im Grunde nicht mehr verkettet sein oder anders gesagt: Jedes Wort als reiner Augenblick.

A/ Es muss sinnlich schillern und Bedeutungseffekte suggerieren, aber ohne auf etwas anderes zu verweisen als auf dieses Schillern, als auf sich selbst, ohne etablierte Referenz. Und die Poesie kann damit nur die Praxis sein, die den Diskurs als Sinnverkettung auf dem Opfertisch zerlegt.

B/ Wobei diese Praxis, Gattungsnamen sozusagen zu Eigennamen zu machen, kaum tauglich ist, die Schlagworte des Diskurses zum Beispiel im Jahr 1935 oder 1936 zu erschlagen ...

A/ Du meinst, wir sollten diese lange Abschweifung zu Georges Bataille nun schließen und uns lieber Vaterland und Familie zuwenden?

B/ Genau.

A/ Also gut. Ein Flugblatt mit dem Titel „Contre-Attaque. Vaterland und Familie“ kündigt für den 5. Januar 1936 Vorträge von Bataille, Breton, Maurice Heine und Benjamin Péret an. Gönnen wir uns den kompletten O-Ton?

B/ Gerne. „Ein Mensch, der das Vaterland anerkennt, ein Mensch, der für die Familie kämpft, ist ein Mensch, der Verrat begeht. Was er verrät, ist das, was für uns der Grund ist, zu leben und zu kämpfen. Das Vaterland richtet sich zwischen dem Menschen und den Reichtümern der Erde auf. Es verlangt, dass die Erzeugnisse aus dem Schweiß der Menschen in Kanonen verwandelt werden. Es macht aus dem Menschen einen Verräter an seinesgleichen. Die Familie ist das Fundament des gesellschaftlichen Zwangs. Das Fehlen jeglicher Brüderlichkeit zwischen Vater und Kind diente als Modell für alle auf der Autorität und der Verachtung der Vorgesetzten für ihresgleichen beruhenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Vater, Vaterland und Vorgesetzte, so lautet die Trilogie, die der alten patriarchalen Gesellschaft als Grundlage dient, und heute der faschistischen Schweinerei. Die vor Angst verlorenen, einem Elend und einer Vernichtung, deren Ursachen sie nicht begreifen können, ausgelieferten Menschen werden sich einiges Tages erheben, in rasender Verzweiflung. Sie werden es vollbringen, die alte patriarchale Trilogie zu zertrümmern: Sie werden die brüderliche Gesellschaft der Gefährten in der Arbeit, die Gesellschaft der Kraft und der menschlichen Solidarität begründen.“

A/ Contre-Attaque, um es vielleicht auf den Punkt zu bringen, lehnte es ganz entschieden ab, im Namen eines antifaschistischen Bündnisses gegen Hitler zu vergessen, dass der deutsche Nationalsozialismus kein Bruch mit einer Kultur war, die über Jahrhunderte versucht hatte, ihre inneren Widersprüche durch einen mörderischen Kolonialismus und einen immer mehr entfesselten Kapitalismus zu kaschieren. Im letzten Flugblatt dieses sehr kurzlebigen „Kampfbundes revolutionärer Intellektueller“ vom März 1936 heißt es recht hellsichtig, als sähen sie bereits den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 vorher: „Der Krieg zwischen den imperialistischen Hunden rief Ekel hervor: Heute versuchen die Kommunisten ihn mit einem Kreuzzug zu verschleiern. Über einer unterjochten Welt hissen sie die Fahne eines antifaschistischen Kreuzzugs: Vorbote eines blutigen Schwindels ...“

B/ Und weiter, in Großbuchstaben: „WIR HABEN NICHTS GEMEIN MIT DER INFANTILEN DEMENZ DES DEUTSCHEN NATIONALISMUS, NICHTS GEMEIN MIT DER SENILEN DEMENZ DES FRANZÖSISCHEN NATIONALISMUS.“

A/ Im selben Monat beenden die Surrealisten das Projekt, natürlich mit einem Flugblatt:
„Die Mitglieder der Gruppe „Contre-Attaque“ nehmen mit Genugtuung die Auflösung besagter Gruppe zur Kenntnis, in der sich sogenannte „sur-faschistische“ Tendenzen gezeigt haben, deren rein faschistischer Charakter immer deutlicher zum Vorschein gekommen ist. [...] Und bei dieser Gelegenheit bekräftigen sie ihre unerschütterliche Verbundenheit mit den revolutionären Traditionen der internationalen Arbeiterbewegung.“

B/ Wobei der Begriff des „sur-fachisme“ von Jean Dautry stammt, der zum erweiterten Umfeld von Georges Bataille zählte, das heißt zum aufgelösten „cercle démocratique“ von Boris Souvarine. Eine gewiss unglückliche Wortschöpfung, um eine Aufhebung oder Überwindung des Faschismus zu bezeichnen.

A/ Michel Surya kommentiert das in seiner Edition der Flugschriften von „Contre-Attaque“ wie folgt: „Rein politisch betrachtet hat Breton nicht unrecht: Es ist gewiss nicht mehr die Zeit, um nichts gemein zu haben. Es ist vielmehr sogar schon die Zeit, sich auf das zurückzuziehen, was angesichts der ‚infantilen Demenz des deutschen Nationalismus‘ noch bleibt, und sei es die ‚senile Demenz des französischen Nationalismus‘. [...] Dann hätte man aber, zumal so kurz davor, nichts unternehmen dürfen, was voraussetzte, beide Nationalismen in strategischer Hinsicht auf einer Ebene zu verorten, auf der es dann geboten sein musste, ihnen aus denselben Gründen eine populäre Begeisterung entgegenzusetzen [...] (was ich als Batailles Sur-Antifaschismus bezeichne [...]): Der Krieg ist zweifellos unvermeidlich, aber es wird ein Religionskrieg werden. Und die offene Frage ist, welche Religion der nationalsozialistischen entgegenzustellen ist.“

B/ Siehe Batailles Studie von 1933, „Die psychologische Struktur des Faschismus“ ...

A/ Im Rückblick darf man zumindest sagen, dass Batailles Hoffnung auf eine Umkehrung der Kräfte, auf die libidinöse Konversion des Verlangens der Massen nach dem Faschismus in ein Begehren nach der Revolution nicht aufgegangen ist.

B/ In der Tat. Doch blicken wir wieder auf den Surrealismus: In all diesen Jahren einer dezidierten „Politik des Surrealismus“ zieht er in anderer Hinsicht immer weitere Kreise. Die internationalen Ausstellungen häufen sich, wobei sie immer weniger zum Skandal und umso mehr zu einträglichen Erfolgen führen.

A/ Und Breton selbst wird mehr und mehr zum Vortragsreisenden: Prag, Zürich, London, Kopenhagen, Barcelona, New York, Buenos Aires. Und in Paris veranstalten die Surrealisten 1935 einen „systematischen Konferenzzyklus über die jüngsten Positionen des Surrealismus“. Bei der Eröffnung dieser Vortragsreihe sagt Breton: „Der Surrealismus würde sich in seinen Augen selbst verneinen, behauptete er, irgendein Problem definitiv gelöst zu haben. Einzig durch den Einwand, der sein Aufkommen ist, sein Werden, glauben wir, das uns entgegengebrachte Vertrauen zu stützen und zu erneuern.“

B/ Siehe Editorial zur ersten Ausgabe von Die surrealistische Revolution, 1. Dezember 1924: „Der Surrealismus präsentiert sich nicht als die Darlegung einer Lehre. Bestimmte Ideen, die ihm gerade Halt verschaffen, erlauben keineswegs, auf seine weitere Entwicklung vorzugreifen. Diese erste Ausgabe von Die Surrealistische Revolution spendet also keinerlei endgültige Erleuchtung. Die zum Beispiel durch das automatische Schreiben, den Traumbericht erzielten Ergebnisse werden vorgestellt, aber noch ist keinerlei auf Umfragen, Erfahrungen oder Arbeiten basierendes Ergebnis vermerkt: Von der Zukunft bleibt alles zu erwarten.“

A/ Hm, das könnte man auf der Stelle treten nennen.

B/ Oder keinen Schimmel ansetzen. Beziehungsweise, wenn es um Breton geht, den „Menschen aus Stein“ (Julien Gracq), kein Moos.

A/ Wie geht es weiter?

B/ Mit dem spanischen Bürgerkrieg, dann mit dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere mit der deutschen Besatzung Frankreichs. Man könnte die in Frankreich weilenden Surrealisten beinahe in zwei Gruppen aufteilen: Diejenigen, die ins Exil gehen, und diejenigen, die bleiben und sich mehr oder minder im Widerstand engagieren, viele eher mehr und oft um den Preis ihres Lebens.

A/ Für Breton und einige seiner Getreuen führt der Weg über Marseille nach New York und Mexico-Stadt. Damit kommt es zu einer weiteren großen Welle der Internationalisierung. Der Surrealismus erobert die Neue Welt.

B/ Breton, der im Exil zum Radiosprecher für das von Voice of America auf Französisch gesendete Programm wird, viele Reisen durch Nordamerika unternimmt, unter anderem zu den Hopi-Indianern, und sich noch mehr den afro-karibischen Weggefährten wie Aimé Césaire oder Wilfredo Lahm annähert ...

A/ ... ein Aspekt, den wir insgesamt viel zu wenig, ja eigentlich gar nicht berücksichtigt haben: die Faszination der Surrealisten für „außereuropäische Kulturen“ und insbesondere die Bedeutung „afrikanischer Kunst“ für alle Erscheinungsformen der künstlerischen Avant-Garden in der westlichen Welt vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ...

B/ Stimmt. – Breton jedenfalls kehrt erst Ende Mai 1946 nach Paris zurück und ist auch dort sofort wieder Feuer und Flamme. Und wird es im Dienst des Surrealismus bis zu seinem Tod bleiben. 1960 gehört er zu den Unterzeichnern des „Manifests der 121“, das Dionys Mascolo und Maurice Blanchot verfasst hatten und mit dem Satz endet: „Die Sache des algerischen Volks, das in entscheidender Weise dazu beiträgt, das koloniale System zu ruinieren, ist die Sache aller freien Menschen.“

A/ 1965, ein Jahr vor seinem Tod, organisiert Breton die 9. Internationale Ausstellung des Surrealismus in Paris. Titel „Absoluter Abstand“.

B/ Alcheringa, Alcheringa! ... „Es geht also darum, auf absoluten Abstand zu dieser Welt zu gehen, mehr noch als in der Vergangenheit, und zuallererst ganz entschieden nutzlos im Funktionieren ihrer Maschinerie zu sein, bevor man mit den Freuden der gesellschaftlichen Fahnenflucht und der kreativen Faulheit stetig das Imaginäre und Irrationale erkundet, um eine andere Vernunft zu bereichern, die, ohne sich davor zu fürchten, sich von den Schwingen des Revolutionsmythos tragen zu lassen, uns zu verstehen gibt, dass das Reale alles ist, was die Realität übersteigt.“

A/ Schließen wir mit einem kurzen Auszug aus Bretons erstem öffentlichen Auftritt in Paris nach seiner Rückkehr aus dem Exil. Wir schreiben den 7. Juni 1946 und befinden uns im Pariser Théâtre Sarah Bernardt zu einer Ehrung Antonin Artauds, der kurz zuvor aus der Psychiatrie in Rodez freigekommen war. Breton sagt in seiner Hommage: „Gerade aufgrund der Ereignisse der letzten Jahre [...] scheint mir jede Form von ‚Engagement‘ zur Belanglosigkeit verurteilt, die unterhalb dieses dreifachen und unteilbaren Ziels verbleibt: die Welt verändern, das Leben ändern, den menschlichen Verstand von Kopf bis Fuß erneuern. [...] Ich grüße in Antonin Artaud die verzweifelte, heroische Negation all dessen, woran wir beim Leben sterben.“

B/ Fazit?

A/ Für die Surrealisten, schreibt Maurice Nadeau, muss die Poesie „die Seele sein, die zur Seele spricht“.

B/ Tja. Siehe Schiller. „Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.“

A/ Tja, Schiller. Sein Name findet sich auf einem surrealistischen Flugblatt vom Dezember 1931 mit dem Titel „Lesen Sie: Lesen Sie nicht:“ Lies: Es gibt auf diesem Flugblatt zwei Listen: auf der einen stehen Autoren, die zu lesen sind, auf der anderen Autoren, die nicht zu lesen sind. Und auf Letzterer steht „Schiller“ ...

B/ Also, Fazit?

A/ Hm. Moment. Auch wenn wir hier eine Geschichte im Plauderton innerhalb außerhalb von Vater, Vaterland, Vorgesetzten erzählt haben ...

B/ Gut. Ich weiß, worauf du hinauswillst ... aber es war halt ein Männergesangsverein. Also jetzt bitte kein Alibi ...

A/ Einfach nur ein paar Namen ... ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, Willkürlichkeit oder Unwillkürlichkeit ...

B/ Vollkommen objektiv, pardon:  Gabrielle Buffet (*1881).

A/ Nicht weniger objektiv: Valentine Hugo (*1887).

B/ Und Claude Cahun (*1894 in der Geburtsstadt des Surrealismus, Nantes).

A/ Hm. Da müssen wir dann schon noch sagen, dass sie sich ab 1930 spätestens weder als Frau noch als Mann betrachtete und das auch von anderen für ihre Person so erwartete.

B/ Alice Rohan (*1904 – das spricht für uns: der Name ihres ersten Ehemanns ist noch gar nicht gefallen ...).

A/ Frida Kahlo (*1907), die wohl berühmteste ...

B/ ... neben Dora Maar (*1907).

A/ Jacqueline Lamba (*1910).

B/ Louise Bourgeois (*1911).

A/ Mittlerweile auch schon sehr berühmt. Wie Meret Oppenheim (*1913).

B/ Oder Unica Zürn (*1916), Nora Mitrani (*1921), Judit Reigl (*1923) oder, vielleicht heutzutage berühmter als alle anderen, Kahlo ausgenommen, Joyce Mansour (*1928).

A/ Und warum geben wir jetzt für die Frauen immer das Geburtsdatum an?

B/ Kein Kommentar.

A/ Gut. Also nochmal: Fazit?

B/ Wir wollen doch jetzt am Schluss nicht mit der Fiktion unserer Unpersönlichkeit brechen ... Stattdessen schlage ich vor, dass wir uns einen O-Ton gönnen, wie er 1967 noch möglich war, ein Fazit sozusagen zur „Avantgarde“ im 20. Jahrhundert, was immer dies auch heißen mag.

A/ Einverstanden.

B/ Straßburg im März 1967. Unter dem Titel „Für eine Kritik der Avantgarde“ veröffentlichen Théo Frey, Jean Garnault, Herbert Holl und Edith Frey ein kurzes Traktat, das in gewisser Weise die Selbstauflösung der Situationistischen Internationale einläuten sollte. Darin heißt es: „Alle Avantgarden sind abhängig von der alten Welt, deren Niedergang sie mit ihrer eigenen illusorischen Jugend verhüllen. Eine der Bedingungen, dass die neue Theorie und die neue revolutionäre Praxis vorankommen, ist eine radikale Kritik der Avantgarde als ultimative Verkleidung der neotheologischen alten Welt der Ware in ihren ständigen Versuchen, unter dem Anschein von Veränderung mit sich identisch zu bleiben. Der verworrene Ausdruck Avantgarde ist kein Begriff, außer im Militärischen und somit im Politischen. Der ökonomische und gesellschaftliche Zusammenhang, in dem ein solcher Ausdruck aufkommen und sich verbreiten kann, ist hingegen vollkommen klar: die herrschende Welt, die zu immer mehr Schnitten, Trennungen und Ungleichheiten in der globalen Entwicklung führt – und somit auch zu Verspätungen in allen Bereichen. Theorie und Praxis der Avantgarden erlauben es, diese harte moderne Wirklichkeit magisch zu fliehen. Es gilt aber, sich entschlossen in ihr zu befinden, natürlich nicht, um sie zu billigen und sich in ihr zu gefallen, sondern um sie radikal zu bekämpfen. Als verzweifelter Versuch, sich mit der Welt zu vereinen in einer Welt, in der dies radikal unmöglich ist, kann die Avantgarde nur eine falsche Wirklichkeit sein und muss Theorie als Mystizimus betreiben, um das Fehlen einer globalen Protestbewegung besser zu ertragen.“

A/ Das könnte man heute wohl eine unzeitgemäße Betrachtung nennen. Ich versuche mal ein anderes Fazit. Was ist Surrealismus? Antwort? Siehe Die Surrealistische Revolution, Nr. 7, S. 6. Ich zitiere: „Genau dann, da sind wir uns immer noch genauso sicher, wenn der Zug zur angekündigten Stunde eintrifft, [...] wird sich das Buch, dessen Einband wir solange versunken betrachtet haben, an der vorherbestimmten Stelle öffnen.“

B/ Worauf willst Du hinaus?

A/ Surrealismus heißt auf den Zug warten. Mit Bahnhofsliteratur.

B/ Du meinst, sie lesen die Fahrpläne, die sind ungenauer?

A/ Na ja, sie kannten ja die Deutsche Bahn nicht.

B/ Ist das jetzt idiotisch genug als Schlusswort?

A/ Vielleicht.


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