Tim Trzaskalik: Firmennamen und Flugschriften
Moderne
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Tim Trzaskalik
Firmennamen und Flugschriften.
100 Jahre Surrealismus in Paris.
À Maurice NadeauDie Dichtung der Surrealisten behandelt die Worte wie Firmennamen und ihre Texte sind im Grunde Prospekte von Unternehmungen, die noch nicht etabliert sind.Walter BenjaminIn der Poesie herrscht immer Krieg.Ossip Mandelstam
A/
100 Jahre Surrealismus in Paris.
B/
In Paris. Damit das gleich klar ist. Wir plaudern hier jetzt eigentlich nur
über Paris.
A/Genau.
Also, ein vor Kurzem erschienenes Buch von Pierre-Héli Monot (Hundert Jahre
Zärtlichkeit. Surrealismus, Bürgertum, Revolution) ...
B/
Erschienen nicht in Paris, sondern in Berlin ...
A/
... endet wie folgt: „2024 wird der Surrealismus hundert Jahre alt. Das
Bürgertum wird ihn feiern. Wendet euch ab.“ Gut gebrüllt, Löwe, würde Man Ray
sagen, der Fotograf der Bewegung, der in André Bretons Antlitz etwas von einem
Löwenhaupt zu erkennen glaubte. Wenn wir uns nun für die kommenden drei Stunden
schweigend vom Surrealismus abwenden würden, wäre das allerdings eine ziemliche
Hinwendung zu ihm.
B/
In der Tat. Es wäre ein unmittelbarer Brückenschlag. Und wir würden uns
sozusagen aus unserem Heute mitten hinein katapultieren in das, was Breton im Zweiten
Manifest des Surrealismus „die surrealistische Geisteshaltung“ nennt: „mehr
auf den jetzigen Augenblick unseres Denkens vertrauen als auf all das, was man
einem vollendeten Werk, einem an seinem Ende angelangten menschlichen Leben an
Bedeutung unterzuschieben versucht.“
A/
Wobei diese Geisteshaltung, ob nun die von Breton damals oder die unsere heute,
ihrerseits zwei Voraussetzungen hat, die wir nicht unter den Tisch fallen
lassen sollten:
Einerseits
den Glauben an ein in uns allen, also im Innern von Herrn und Frau Jedermann zu
entdeckendes Leuchten ...
B/ ... ein „Leuchten
[...] in unserem tiefsten Innern“ wie Breton schreibt, ja, schön, wie lyrisch
...
A/ ... und die tiefe
Verzweiflung über unsere gegenwärtige Lage andererseits.
B/ Womit wir im
Grunde schon kurz vor der bündigsten Definition dessen stehen, was der
Surrealismus war, ist oder wird – je nach der historischen oder zeitlichen
Perspektive, die wir einnehmen wollen.
A/ Alcheringa,
Alcheringa. Ja, was der Surrealismus ist und wird, da es ihn ja
noch zu geben scheint, wie die Zeitschrift Alcheringa der heutigen
Pariser Surrealisten belegt, deren fünfte Ausgabe vor Kurzem erschienen
ist. Zitieren wir also kurz, wovon
niemand Kenntnis nimmt, aus dem Editorial der ersten Ausgabe von 2018: „Es geht
also darum, auf absoluten Abstand zu dieser Welt zu gehen, mehr noch als
in der Vergangenheit, und zuallererst ganz entschieden nutzlos im Funktionieren
ihrer Maschinerie zu sein, bevor man mit den Freuden der gesellschaftlichen
Fahnenflucht und der kreativen Faulheit stetig das Imaginäre und Irrationale
erkundet, um eine andere Vernunft zu bereichern, die, ohne Furcht davor, sich
von den Schwingen des Revolutionsmythos tragen zu lassen, uns zu verstehen
gibt, dass das Reale alles ist, was die Realität übersteigt. [...] Wir richten
uns an alle, die den Surrealismus woanders als in Museen, Auktionen oder
Universitätstagungen erwarten. [...] Wir behaupten, dass seine reale Bewegung [...]
darin besteht, der notwendige Mythos zu sein, um die absurde Geschichte dieser
Zeit zu unterlaufen und auf eine Wiederverzauberung der Welt hinzuwirken. [...]
Darum rufen wir heute: Alcheringa! Denn die Traumzeit – so lautet die
Bedeutung dieses Wortes aus einer Sprache der australischen Aborigines – ist
auch die Zeit aller Metamorphosen.“
B/
Das klingt in der Tat nach O-Ton Breton. Also der Surrealismus, eine ungemein
heterogene, in sich widersprüchliche, vollkommen zerstrittene Bewegung globalen
Ausmaßes, von Paris und Brüssel bis nach Prag, von Zürich bis nach Berlin, von
Wien bis nach London, von Madrid, Katalonien und Andalusien bis nach Mexiko,
von New York bis nach Brasilien, was war das oder was ist das oder was wird
das?
A/
Eine kategorische Ablehnung der Bedingungen des Lebens und Denkens, wie sie uns
heute,
am 21. Februar 2025, auferlegt sind.
B/
Mit anderen Worten: Surrealismus bedeutet: „Die Hölle ist nichts, was uns
bevorsteht. Die Hölle ist das Leben, das wir hier führen.“ Strindberg war
Surrealist.
A/
Wenn wir es ins Positive wenden wollen: Ein rigoroser Wille zur Unbeugsamkeit.
Und
zum dichterischen Leben.
B/
Poetisiert euch!
A/
Gut. Dann wäre das also auch gesagt.
B/
Genug des hinwendenden Abwendens. Und los gehts mit dem abwendenden Hinwenden.
A/
Philologisiert euch!
B/
Werdet zu Hyänen. Lasst uns Leichen fleddern!
A/
Ich fange mal ganz klassisch an. Das Wort Surrealismus taucht erstmals 1917
auf, bei Guillaume Apollinaire, in einem Brief aus dem März an Paul Dermée. Es
geht um einen möglichen Untertitel für sein Drama Les mamelles de Tirésias:
„Nach eingehender Abwägung glaube ich tatsächlich, dass Surrealismus besser
passt als Surnaturalismus, worauf ich zuerst zurückgegriffen habe. Das Wort ‚Surrealismus‘
gibt es noch nicht in den Wörterbüchern, daher wird es einfacher zu handhaben
sein als der bereits bei den Herren Philosophen gebräuchliche Surnaturalismus.“
Wenig später macht Apollinaire seine
Wortschöpfung dann öffentlich, im Mai 1917, im Rahmen der Uraufführung eines Balletts, das sich auf ein Gemälde aus dem
Jahr 1888 bezieht, La parade de cirque von Georges Seurat. Eine illustre
Allianz verschiedenster Künstler. Der Text stammt von Jean Cocteau, die Musik
von Éric Satie, das Bühnenbild von Picasso, um nur die heute noch geläufigsten
Namen unter den Mitwirkenden zu nennen. Titel des Stücks „Parade réaliste“.
Im Programmheft schreibt Apollinaire: „Aus dieser neuen
Allianz [...] resultiert in Parade eine Art Sur-Realismus, worin ich den
Ausgangspunkt einer Reihe von Manifestationen jenes neuen Geistes sehe, der
heute den Anlass findet, sich zu bekunden, und es nicht versäumen wird, die
Elite zu verführen sowie die Künste und Sitten mit universalen Freudenjauchzern
von Grund auf zu verändern, denn der gesunde Menschenverstand verlangt, dass
sie zumindest auf der Höhe der wissenschaftlichen und industriellen Fortschritte
sind.“
B/ Das klingt
allerdings eher nach Futurismus. Was sich wohl auch die federführenden Köpfe
der Surrealisten, die sich als solche noch nicht erkannt hatten, gedacht haben
dürften. Und was dann am 24. Juni 1917 bei der Uraufführung von Apollinaires
Stück Les mamelles de Tirésias klar zum Ausdruck kam: Es kommt zur
mythischen Urszene des Surrealismus.
A/ Nun ja. Das ist
so ziemlich missverständlich gesagt. In gewisser Weise, aller
Wahrscheinlichkeit nach erst im Nachhinein. Also sieben Jahre später, 1924 in Les
Pas perdus, erinnert sich Breton an diesen Abend im Jahr 1917, an dem er
zum ersten Mal nach den im Jahr zuvor mit Jacques Vaché verbrachten Wochen in
Nantes diesem Sonderling wieder begegnet: „Der erste Akt war gerade zu Ende
gegangen“, schreibt Breton. „Ein englischer Offizier krakeelte im Saal: Das
konnte nur [Vaché] sein. [...] er hatte den Saal mit gezücktem Revolver
betreten und sprach davon, ins Publikum zu ballern.“
B/ Breton huldigt
auch in Erinnerungen einer grenzenlosen Einbildungskraft. Was man zumindest
sagen kann: Keiner der anwesenden Rezensenten scheint damals Vachés Krakeelen
mitbekommen zu haben, denn nicht eine einzige Kritik sollte darauf zu sprechen
kommen.
A/ Louis Aragon hat
sich aber auch daran erinnert. In einem diesem Abend gewidmeten Artikel aus dem
März 1918 schreibt er: „Mein legendärer Freund Jacques Vaché wollte auf das
Publikum schießen.“
B/ Allerdings kannte
Aragon zu diesem Zeitpunkt weder Breton noch Vaché und war auch an jenem Abend
gar nicht zugegen ...
A/ Jedenfalls hat
die Fiktion über Jacques Vaché als Terrorist im Theater zumindest Breton
nachhaltig umgetrieben. Noch in der letzten Ausgabe der Zeitschrift Die
surrealistische Revolution (1929) kommt er darauf zurück, wenn er schreibt:
„Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit gezückten Revolvern auf
die Straße zu gehen und wahllos so viel man kann in die Menge zu ballern. Wer
nicht wenigstens ein einziges Mal Lust hatte, auf diese Weise mit dem
bestehenden kleinen System der Erniedrigung und Verdummung Schluss zu machen,
hat seinen angewiesenen Platz in jener Menge, mit dem Bauch in Höhe des Laufs.
Die Rechtfertigung einer solchen Tat ist meines Erachtens keineswegs
inkompatibel mit dem Glauben an jenes Leuchten, das der Surrealismus in unserem
tiefsten Innern zu entdecken versucht. Ich wollte hier lediglich die
menschliche Verzweiflung einbeziehen, unterhalb derer nichts diesen Glauben
rechtfertigen könnte. Diesem Glauben zuzustimmen, aber nicht der Verzweiflung,
ist unmöglich. Jeder, der vorgäbe, diesen Glauben anzunehmen, ohne wirklich
jene Verzweiflung zu teilen, würde in den Augen derer, die es wissen, sogleich
zum Feind werden.“
B/ Womit wir das
Leuchten in unserm tiefsten Innern, Glauben und Verzweiflung ausreichend
kontextualisiert hätten.
A/ Und etwas
schelmisch behaupten: Jacques Vaché ist der Erfinder des Surrealismus. Oder
zumindest die eigentliche Initialzündung.
B/ Also zurück ins
Jahr 1916. Bzw. zunächst 1915. Am ersten Tag der Herbstschlacht in der
Champagne, am 25. September, wird der 21-jährige Soldat Jacques Vaché,
seinerseits Sohn eines Artillerie-Hauptmanns, bei einer Granatenexplosion am
Bein verwundet. Zur Genesung kommt er in ein Militärkrankenhaus nach Nantes.
Dort begegnet ihm Mitte Januar 1916 der gleichaltrige Heeresarzt André Breton.
Es muss ziemlich schnell gefunkt haben. Zwei Monate sollten ihnen bleiben, um
Freundschaft zu schließen. Breton dürfte wohl mehrfach kaum seinen Ohren
getraut haben. Denn dieser Vaché glich einem Meteoriten. Der allerdings von
seinen Zwillingen aus dem Cabaret Voltaire in Zürich nie etwas wissen sollte.
In seinen Kriegsbriefen, die André Breton, nach Vachés Tod aufgrund
einer Überdosis Opium am 6. Januar 1919 in Nantes, im selben Jahr ediert hat,
schreibt Vaché: „Wir lieben weder die Kunst noch die Künstler (nieder mit
Apollinaire). Mallarmé ignorieren wir, ohne Hass, aber er ist tot. Apollinaire
kennen wir nicht mehr – DENN – wir haben ihn im Verdacht, zu absichtlich Kunst
zu machen, die Romantik mit Telefondraht zurechtzuflicken [...]. Schon wieder
vom Himmel geholte Sterne! – Ärgerlich – und außerdem reden sie manchmal alles
andere als seriös! Ein Mensch, der
glaubt, ist kurios.“
A/ Oder dies hier,
vom 18. August 1917: „Die Kunst ist eine Torheit – Fast nichts ist eine Torheit
– die Kunst dürfte eine drollige und ein bisschen langweile Angelegenheit sein
– weiter nichts. [...] Übrigens gibt es die Kunst nicht – Also ist es nutzlos,
davon zu singen – dennoch: man macht Kunst – weil es eben so und nicht anders
ist – Well – was wollen Sie da machen?“
B/ Sagen wir, aller
guten Dinge sind drei und schicken wir dies dem folgenden O-Ton Vaché vorweg:
Charles Baudelaire, Max Jacob, Pierre Reverdy: ein Ahne und zwei ältere
Zeitgenossen von Breton, die er in Ehren hielt ... – Vaché: „[...] mein alter
verfaulter Baudelaire! Es brauchte unsere trockene Luft ein bisschen: nach Öl
stinkende Rotationsmaschinerien – dröhn – dröhn – dröhn – pfeif! Reverdy,
spaßig der Pohet, öde in Prosa; Max Jacob, mein alter Schaumschläger – HAMPELMÄNNER
– HAMPELMÄNNER – HAMPELMÄNNER – wollt ihr schöne bunt bemalte HAMPELMÄNNER aus
Holz? Zwei Augen mit erloschener Flamme und dem Kristallgestell eines Monokels
– mit einer Kraken-Schreibmaschine – Das gefällt mir besser.“
A/ Starker Tobak für
einen jungen Heeresarzt, der zudem nach Kriegsende in Paris zu einer Gruppe
gehört, die sich Littérature nennt und eine gleichnamige Zeitschrift
herausgibt. Chefredakteure: Louis Aragon, Philippe Soupault und er selbst,
André Breton. Zu den Autoren zählen ... Reverdy und Max Jacob.
B/ Jedenfalls dürfte
Breton ziemlich hin- und hergerissen gewesen sein zwischen seiner Pariser
Literatenexistenz und dem Faszinosum aus der Provinz. Am 6. Januar 1919, als
Vaché wegen einer Überdosis Opium das Zeitliche segnet, hält sich Breton bei
seinen Eltern in Lorient auf, der Geburtsstadt von Vaché. Vom selben Tag stammt
der erste Brief von einem der unbekannten Zürcher Zwillinge, Tristan Tzara, an
André Breton, der diesen Brief eine Woche später zurück in Paris in der
Redaktion der von Pierre Reverdy herausgegebenen Zeitschrift Nord-Sud
vorfindet. Breton weiß noch nichts von Vachés Tod und schreibt ihm einen Brief,
der im Wesentlichen auf folgende in Großbuchstaben geschriebene Aussage
hinausläuft: „ICH ERWARTE SIE“. Lies: die Einladung zur revolutionären Aktion
in der Hauptstadt und der Wunsch nach einer zweiten Zeit der Verzauberung, nach
dem gemeinsamen Frühjahr 1916 in Nantes.
Zwischen dem 15. und
dem 18. Januar 1919 dürfte Breton von Vachés Ableben erfahren haben. Am 22.
Januar antwortet er auf Tzaras Brief. „Ich war im Begriff, Ihnen zu antworten,
als mich ein großer Kummer davon abhielt. Was ich am meisten auf dieser Welt geliebt
habe, ist soeben von mir gegangen: Mein Freund Jacques Vaché ist tot. In der
letzten Zeit war es meine Freude, mir auszumalen, welchen Gefallen Sie
aneinander gefunden hätten; er hätte in Ihnen einen Bruder im Geiste erkannt
und in einem gemeinsamen Einvernehmen hätten wir Großes bewirken können.“
A/ Indem Breton
Tzara bezirzt, verliert er Jacques Vaché nicht, sondern findet ihn wieder.
B/ Genau. Lesen wir
weiter in diesem Brief: „Ich bin wirklich begeistert von Ihrem Manifest. Ich
wusste nicht mehr, von wem ich diese Courage erwarten konnte, die Sie an den
Tag legen.“ Und nach diesem Kompliment setzt er sich selbst in ein
aussagekräftiges Licht: „Sie wissen nicht, wer ich bin. Ich bin 22 Jahre alt.
Ich glaube an das Genie von Rimbaud, von Lautréamont, von Jarry; unendlich
geliebt habe ich Guillaume Apollinaire; ich empfinde eine tiefe Zärtlichkeit
für Reverdy. Meine Lieblingsmaler sind Ingres, Derain; für Chiricos Kunst bin
ich sehr empfänglich.“ Um schließlich noch hinzuzusetzen: „Ich bin nicht so
naiv, wie es scheint.“
A/ Tzara wird im
Großen und Ganzen auf Bretons Werben eingehen. Nicht ganz ohne
Sicherheitsvorkehrungen. So bindet er seinem gleichaltrigen Gegenüber den Bären
auf, dass er bereits 27 Jahre zähle. Was Breton in einem Brief vom 4. April
1919 zu der Bemerkung veranlasst: „Wenn ich wohl etwas weniger Abscheu
empfinde, da ich jünger bin als Sie, so strebe ich doch so wie Sie nach nichts
anderem, als mich meiner künstlerischen Vorurteile zu entledigen, der einzigen,
die ich noch habe.“
B/ Der einzigen, die
Vaché, trotz all seiner Verwünschungen, überlebt hatten. Tzara war also für
Breton dazu berufen, das in ihm zu vollenden, was Vaché begonnen hatte.
Ausdrücklicher geht es wohl kaum: Breton an Tzara, 28. Juli 1919 (die
Juli-Ausgabe von Littérature war übrigens Vaché (8 Seiten) und Tzara (4
Seiten) gewidmet): „Ich denke an Sie so, wie ich sonst noch nie an jemanden
gedacht habe – außer an Jacques Vaché [...] (das heißt, dass ich mich, bevor
ich zur Tat schreite, fast immer erst mit Ihnen ins Einvernehmen setze).“
A/ Und als sich dann
Ende 1919 abzeichnet, dass Tzara tatsächlich nach Paris kommen würde, greift
Breton den Wortlaut aus seinem letzten Schreiben an Vaché vom 13. Januar 1919
wieder auf: „Mein lieber Tristan, Ich erwarte Sie, ich erwarte nichts mehr, nur
Sie.“
B/ Es folgen zwei
umtriebige Jahre, 1919 und 1920, in denen Aragon, Breton und Soupault zusammen
mit Tzara eine dadaistische Aktion nach der anderen veranstalten. Doch allzu
lange währt diese Allianz nicht. Breton sehnt sich dafür viel zu sehr danach,
den „verneinenden Geist“ von Dada „in den Dienst einer exekutiven Macht zu
stellen“, wie es in seiner Anklageschrift zum Dada-Schauprozess gegen Maurice
Barrès im Mai 1921 heißt, um sich mit der Rolle des Bürgerschrecks zu begnügen.
Es kommt zum Bruch mit Tzara ...
A/ ... und folglich
zu einer weiteren Ausgestaltung des Vaché-Mythos. In Les pas perdus
erklärt Breton Vaché kurzerhand zum Dadaisten: „Das Glück von Jacques Vaché
war, nichts produziert zu haben. Immer trat er das Kunstwerk, diesen Klotz am
Bein, der die Seele nach dem Tod zurückhält, mit Füßen. Als Tristan Tzara in
Zürich eine entscheidende Verkündigung tat, das Dada-Manifest von 1918,
überprüfte Jacques Vaché, ohne es zu wissen, die wichtigsten Artikel.“
B/ Unwissenheit
schützt vor Dada nicht ...
A/ Und schon zwei
Jahre zuvor, in einem Editorial für eine weitere Ausgabe von Littérature mit
dem Titel „Clairement“ bringt Breton seine Prioritäten klar zum Ausdruck: „Eine
gewisse Dunkelheit umhüllt heute diese Wende in der Geschichte von Littérature,
als Dada sozusagen Besitz ergriff von einer kleinen Zeitschrift mit gelbem
Einband, die in ihren Anfängen einen erlesenen Ruf genoss. Natürlich ist es
ärgerlich, dass es so scheint, als sei Tristan Tzara, nach seiner Ankunft in
Paris, bei dieser Veränderung nicht ganz unbeteiligt gewesen, obwohl dies
meines Erachtens unendlich weniger wichtig war als zum Beispiel meine Begegnung
mit Jacques Vaché im Jahr 1915 und vor allem die Nachricht von seinem Tod, die
mich im Februar 1919 mitten ins Herz traf.“
B/ Breton dehnt die
Zeit ...
A/ Je mehr er sie
dehnt, desto mehr Bedeutung kann er einem an seinem Ende angelangten
menschlichen Leben unterschieben. Im „Geständnis“ lodert der Mythos auf:
„Gleichwohl gestehe ich“, schreibt Breton in „Clairement“, „dass ich ziemlich
verrückt auf Tzara einige Hoffnungen übertragen habe, die Vaché niemals
enttäuscht hätte, wenn denn das Lyrische sein Element gewesen wäre.“
B/ Lassen wir uns
diesen Widerspruch auf der Zunge zergehen. Und blättern wir um, mit diesen
Zeilen Bretons aus Les pas perdus: „Weg mit allem. Weg mit Dada. Weg mit
eurer Frau. Weg mit eurer Geliebten. Weg mit euren Hoffnungen und Ängsten.
Setzt eure Kinder im Wald aus. Gebt die Beute weg für den Schatten. Gebt, wenn
es sein muss, euer Wohlstandsleben weg, das, was man euch als zukünftige
Stellung vorgaukelt. Los, macht euch auf den Weg!“
A/ Weg mit allem –
außer einigen Toten, einer ganzen Legion, der die Surrealisten Bedeutung
unterschieben ...
B/ Sade.
A/ Der Heilige Geist
des Surrealismus.
B/ Aloysius
Bertrand.
A/ Gérard de Nerval.
B/ Zum Teil über
ihn: die deutschen Romantiker, Jean Paul, Hölderlin, vor allem Achim von Arnim.
A/ Baudelaire. Dann
Rimbaud, Lautréamont und, last but not least, Alfred Jarry.
B/ Was Jarry
anbelangt, hat es Maurice Nadeau in seiner Geschichte des Surrealismus
(1945 erstmals veröffentlicht) auf den Punkt gebracht: „Jarry hat nie eine
Rolle gespielt, nicht mehr als er sein Leben gelebt hat. Er hat sich ein
anderes Leben gemacht, am Rand, und es vollkommen erfüllt. So hat er ein
Beispiel gesetzt, dem nur schwer zu folgen war, das Vaché verinnerlicht hatte,
das nachzuahmen sich die Surrealisten zuweilen bemühten.“ Daher auch die
Faszination für den Revolver oder die Pistole. Jarry trug immer zwei Revolver
bei sich.
A/ In Les Pas
perdus findet sich dann schließlich auch der Satz, der den Widerspruch für
in der Zukunft auflösbar erklärt: Die Poesie, und mithin die Kunst überhaupt,
sie ist erlaubt unter den Bedingungen dieses Imperativs, der sich im Durchgang
durch Dada ergeben hatte: „Wir wissen nun, dass die Poesie irgendwo hinführen
muss.“
B/ Aber mit
verlorenen Schritten ...
A/ Jedenfalls ein
willkürlicher Aufbruch ins Unwillkürliche um den Preis einer Indienstnahme:
Keine neue Ästhetik, sondern Kunst als Mittel der Erkenntnis, insbesondere der
bis dahin noch nicht systematisch erschlossenen Bereiche: Unbewusstes, Traum, Wahnsinn, Halluzination,
alles, was sozusagen hinter den Kulissen der Logik sein Unwesen treibt. Wobei
nun dezidiert auf Distanz zu Dada der systematische, wissenschaftliche,
experimentelle Charakter des Projekts in den Vordergrund rückt.
B/ Es schlägt die
Stunde der „heroischen Phase“, um es mit Nadeau zu sagen.
11. Oktober 1924,
Anzeige, in der Zeitschrift Journal Littéraire: „Die Initiatoren der
surrealistischen Bewegung wollen den größten Aufruf zum Unbekannten tun und den
Surrealismus die freiesten Bahnen einschlagen lassen. Darum eröffnen sie ab
sofort eine Zentrale, in der alle willkommen sein werden, die sich für die Manifestationen
des von jeder intellektuellen Besorgnis freien Denkens interessieren. / 15, rue
de Grenelle,
täglich zwischen
16h30 bis 18h.“
A/ Das ist gelebter
Lautréamont: „Die Poesie muss von allen gemacht werden.“ Oder populäre
Basisdemokratie. Im Dienst einer ersehnten Synthese, die Breton am 15. Oktober
1924 veröffentlicht, in „Das Manifest des Surrealismus“, ursprünglich das
Vorwort zu Poisson soluble: „Ich glaube an die zukünftige Auflösung
dieser beiden scheinbar so gegensätzlichen Zustände, welche der Traum und die
Realität sind, zu einer Art absoluter Realität.“
B/ Darauf kommen wir
zurück.
A/ Ja. Aber zunächst
weiter im „Manifest“. Der Lexikologe André Breton schreibt: „Surrealismus,
Substantiv, maskulin. Reiner psychischer Automatismus, durch den man das reale
Funktionieren des Denkens auszudrücken sucht, sei es sprachlich, schriftlich
oder auf jede andere Weise. Diktat des Denkens ohne jegliche von der Vernunft
ausgeübte Kontrolle, außerhalb jeglichen ästhetischen oder moralischen
Ansinnens.“
B/ Aragon bringt das
auf die geradezu idealistische Formel: „Was gedacht ist, ist.“
A/ Erstaunlich, dass
von diesem naiven Idealismus der Allmacht des Geistes über die Materie die
Surrealisten, zumindest in praktischer Hinsicht, zu einem revolutionären
Materialismus gelangen, der viele von ihnen in die Arme einer politischen
Partei treibt, die sich der kommunistischen Revolution verschrieben hatte, und
noch viele mehr zu einer im Zeichen des Antifaschismus stehenden Revolte gegen
die Politik als solche, gegen die getrennte Praxis oder die Praxis der
Trennung.
B/ Du greifst vor.
1. Dezember 1924: Die erste Ausgabe von La Révolution Surréaliste.
erscheint. Sozusagen die offizielle Geburtsstunde der Bewegung.
A/ Und damit die
Stunde ihres Todes. Aber gut. Irgendwann muss man sich halt aufstellen.
Umso mehr, wenn es darum geht, in die Ferne zu träumen. Und sich aufstellen,
das bedeutet, dass man ein offizielles Organ braucht, eine Zeitschrift, also
Exit Littérature und Incipit La Revolution surréaliste, und ein
Büro, aber das hatten sie ja schon seit ungefähr sechs Wochen. Es geht um
Öffentlichkeit und um die öffentliche Mehrzahl, man könnte sagen um kollektive
Lebenskunst.
B/ Oder Kunstleben.
A/ Nun ja. Wie dem
auch sei, frage ich mich schon, ob man die insgesamt zwölf Ausgaben, die
zwischen 1924 und 1929 erschienen sind, nicht zugespitzt mit diesem einen
Vermerk aus der zweiten Ausgabe vom 15. Januar 1925 zusammenfassen kann: „Es
wurde beschlossen, dass Forschungsbüro für die Öffentlichkeit zu schließen.“ –
Nicht stören. Der Dichter arbeitet ...
B/ Wobei „arbeitet“
hier ein wunderbares Beispiel für das ist, was „Resemantisierung“ genannt
werden kann. „Arbeitet“ bedeutet nämlich „schläft“. Dennoch, aus der
historischen Distanz betrachtet, ein erstaunliches Phänomen, diese
Schlafepidemie, die die Surrealisten in dieser heroischen Phase überkommt. Sie
nächtigen sozusagen in ihrem Widerspruch. Auf einem der zahlreichen damals in
Paris verbreiteten surrealistischen Handzettel oder Flugschriften liest man:
„Der Dichter, der auf sein Unbewusstes hört, kann er etwas für den Reichtum
dieses seines Unbewussten? Alle sind Dichter, sobald sie einwilligen, zu
Diensten zu stehen, und wenn der Surrealismus nichts anderes meint als „zu
Diensten zu stehen“, so können alle diese „magische Kunst“ praktizieren.“
A/ Die vielleicht
niemand besser beschrieben hat als Octavio Paz, um zumindest einmal eine fernab
von Paris gelegene Quelle zu zitieren.
B/ In der Tat. Wobei
Paz ja ab 1946 auch einige Zeit in Paris lebte. Du aber meinst bestimmt seinen
1954 in Mexiko-Stadt gehaltenen Vortrag „Der Surrealismus“.
A/ Vielleicht einer
der ergreifendsten Versuche zum Thema.
B/ „Die großen
Themen unserer Zeit“, so lautete die Veranstaltungsreihe, in deren Rahmen Paz
seinen Vortrag hielt.
A/ Halten wir am
Rande fest: In Mexiko gehörte der Surrealismus also 1954 zu den großen Themen
unserer Zeit.
B/ Jedenfalls
schreibt Paz dort: „Die Objektivierung des Subjekts wird mittels verschiedener
Techniken erreicht. Die bemerkenswerteste und wirksamste ist das automatische
Schreiben, mit anderen Worten: das Diktat des nicht gesteuerten Denkens, das
sich nicht bevormunden lässt von der Moral, der Vernunft oder dem
künstlerischen Geschmack. Nichts ist schwieriger, als diesen Zustand höchsten
Gelöst-Seins zu erreichen. Alles widersetzt sich dieser passiven Phrenesie,
angefangen mit dem Druck von außen bis zu unserer eigenen inneren Zensur und
dem sogenannten ‚kritischen Verstand‘. Vielleicht ist es nicht unangebracht,
hier zu sagen, wie ich über das ‚automatische Schreiben‘ denke, nachdem ich es
einige Male praktiziert habe. Obgleich man versichert, dass es eine
experimentelle Methode sei, glaube ich nicht, dass es experimentell noch
überhaupt eine Methode ist. Als Experiment erscheint es mir unrealisierbar,
wenigstens absolut betrachtet. Und statt als eine Methode sehe ich es eher als
ein Ziel: Es ist kein Verfahren, um einen Zustand vollkommener Spontaneität oder
Unschuld zu erreichen, sondern wäre bereits, wenn er sich erreichen ließe,
dieser Zustand. Jedoch, wenn wir diese Unschuld erlangen – wenn sprechen,
träumen, denken und tun schon eins geworden sind – wozu schreiben? Der Zustand,
nach dem das ‚automatische Schreiben‘ trachtet, schließt jedes Schreiben aus.“
A/ „Passive
Phrenesie“. Was wohl Salvador Dalí dazu und zur persönlichen Einschätzung von Paz sagen würde?
B/ Dazu kommen wir
später, wenn Dalí an der Reihe ist.
A/ Gut. Kehren wir
aus Mexiko und den 1950er-Jahren zurück zum revolutionären Schlaf Mitte der
1920er-Jahre nach Paris, zur magischen Kunst für alle. Von der Aragon nur
wenige Jahre später im Rückblick, in seinem Traité du style von 1928
schreiben wird: „Der Surrealismus ist erkannte, akzeptierte und praktizierte
Inspiration. Nicht mehr als unerklärliche Heimsuchung, sondern als ein zu
übendes Vermögen. Gewöhnlich durch die Erschöpfung begrenzt. Von veränderlicher
Tragweite entsprechend den individuellen Kräften. Und die Resultate sind nicht
alle von gleichem Interesse. [...] Wenn Sie triste Dummheiten nach einer
surrealistischen Methode schreiben, bleiben es triste Dummheiten,
unverzeihlich.“
B/ Ganz schön viel
Unverzeihliches in den zwölf Ausgaben von Die surrealistische Revolution
...
A/ Aber auch viele
nun ja, wie soll ich sagen, Perlen?
B/ Gönnen wir uns
ein paar Auszüge?
A/ Also los. „Was
ist der Wehrdienst?
B/ Das Geräusch
eines die Treppe hinabstürzenden Stiefelpaars.“
A/ „Die finsteren
Hänge der Pflicht zerbröckeln beim Beben der Müdigkeit / Noch einmal hat sich
die Dämmerung in der Nacht aufgelöst / Nachdem sie an die Wände schrieb: NICHT
TRÄUMEN VERBOTEN“
B/ „Segler der
Stille, das Dock ist farblos und formlos dieser Kai, von dem heute Abend das
Gespensterschiff ablegen wird, dein Geist.“
A/ „Alle meine
Begehren stammen aus meinen Träumen. Und ich habe meine Liebe mit Worten
bewiesen. Welcher fantastischen Kreatur habe ich mich also anvertraut, in
welcher schmerzlichen und meine Einbildungskraft raubenden Welt hat sie mich
also eingeschlossen? Ich bin sicher, im mysteriösesten aller Bereiche, dem
meinen, geliebt worden zu sein. Die Sprache meiner Liebe gehört nicht zur
menschlichen Sprache, mein menschlicher Körper rührt nicht an das Fleisch
meiner Liebe. Meine liebende Einbildungskraft war immer beständig und erhaben
genug, als dass irgendwer es hätte versuchen dürfen, mich des Irrtums zu
überführen.“
B/ „Ich habe so sehr
von dir geträumt / von dir gesprochen, mit deinem Gespenst geschlafen, dass mir
vielleicht nichts anderes mehr bleibt, wer weiß, als Gespenst unter Gespenstern
zu sein / und hundert Mal mehr Schatten als der Schatten, der heiter über die
Sonnenuhr deines Lebens huscht und huschen wird.“
A/ „Das haben Sie
nur geträumt, werden Sie mir sagen. – Wer? Ich? Oder Sie?“
B/ „Drapeau – der
Popo.“
A/ „Mehr noch als
der Patriotismus, der eine Form von Hysterie wie jede andere ist, abgesehen
davon, dass sie hohler und tödlicher ist, widert uns die Vorstellung vom
Vaterland an, die wirklich die bestialischste Vorstellung ist, die man unserem
Denken je einzubläuen versuchte.“
B/ „Der Wahn ist die
Vorherrschaft des Abstrakten und Allgemeinen über die Poesie. Der Wahn ist nur
ein Bezug, wie das Vernünftige, das Reale. Er ist eine Realität, eine
Vernunft. Ich finde die wissenschaftliche Tätigkeit ein bisschen wahnsinnig,
aber menschlich vertretbar. Meine Sache ist die Metaphysik. Ich exponiere mich
hier nicht. Aber die erste Person Singular drückt für mich das gesamte Konzert
des Menschen aus.“
A/ „Verflucht / Sei
der Vater der Frau / des Schmiedes der das Eisen der Axt schmieden sollte / mit
welcher der Holzfäller die Eiche fällte / aus der man das Bett zimmerte / in
dem der Urgroßvater des Mannes gezeugt wurde / der den Wagen fuhr, in dem deine
Mutter / deinem Vater begegnete!“
B/ „Das Begehren,
etwas zu verstehen, das zu leugnen ich nicht die Absicht habe, hat mit den
anderen Begehren gemein, dass es, um andauern zu können, danach verlangt, nicht
vollständig befriedigt zu werden.“
A/ „Die
Vorherrschaft Europas stützt sich nur auf die Waffen und das Kreuz, das Kreuz
im Dienst der Waffen.“
B/ „Ja, dies ist der
einzige Gebrauch, zu dem die Sprache sich fortan anbieten kann, ein Mittel zum
Wahnsinn, zur Eliminierung des Denkens, zum Bruch, das Labyrinth der Irrsinne,
und kein WÖRTERBUCH, in dem gewisse Pedanten am Seineufer ihre geistigen Engstirnigkeiten
kanalisieren.“
A/ Nun denn. Genug
der Auszüge.
B/ Einverstanden.
A/ Nadeau bringt es
auf den Punkt: Die Surrealisten „sind Aufrührer, die nicht nur die
traditionellen Bedingungen der Poesie ändern möchten, sondern auch und vor
allem die des Lebens. Sie haben keine Lehre, aber gewisse Werte, die sie wie
Fahnen hissen: die Allmacht des Unbewussten und seiner Erscheinungsweisen:
Traum, automatisches Schreiben und auf diesem Weg die Zerstörung der Logik und
all dessen, was sich auf sie stützt. Zerstörung der Religion, der Moral, der
Familie, diesen Zwangsjacken, die den Menschen daran hindern, nach seinem
Begehren zu leben. Ihre Illusion ist so groß, dass sie glauben, ihre Feinde
würden allein schon beim Klang ihrer Stimme oder beim Lesen ihrer Schriften
zusammenbrechen. Sie glauben noch an ‚die Allmacht des Geistes‘ (Breton). Ihr
Idealismus ist rein, aber wirkungslos.“
B/ Und der
Widerspruch steht mit beiden Beinen fest im Leben. Pierre Naville spitzt ihn in
der dritten Ausgabe der Surrealistischen Revolution zu: „Der Geschmack
schmeckt für mich abgeschmackt. Meister, Sangesmeister, verschmiert eure
Gemälde. Es gibt niemanden mehr, der nicht wüsste, dass es keine
surrealistische Malerei gibt. Weder die Striche eines vom Zufall der Geste
geführten Bleistifts noch das die Traumfiguren nachzeichnende Bild noch die
Fantasien der Einbildungskraft können so bezeichnet werden, was sich natürlich
von selbst versteht.“
A/ Es gab doch noch
jemanden, und der hieß André Breton. Wie Robert Lebel, der von 1940-1944
Bretons Nachbar in Greenwich-Village war, in einem 1970 erstmals ausgestrahlten
Dokumentarfilm von Robert Benayoun mit dem Titel Passage Breton in
Erinnerung ruft: „Bretons Verhältnis zur Malerei war ein magisches Verhältnis.
Man kann sagen, dass die surrealistische Malerei von Breton in seinem Geist
erschaffen worden ist, noch bevor sie überhaupt existierte. Er war ihr
Inspirator, ihr Erfinder. Bereits im Jahr 1921 hat er auf die Frage, wer für
ihn die bedeutendsten Künstler der Gegenwart seien, diese Namen genannt:
Picasso, Chirico, Duchamp, Man Ray und Picabia.“
B/ Und Lebel führt
als Beleg dieses magischen Verhältnisses das Beispiel Joan Miró an, der seit
1924 mit Breton in Kontakt stand und ab dann ganz anders malte als zuvor.
A/ Gegen Naville
veröffentlicht Breton jedenfalls über mehrere Ausgaben der Surrealistischen
Revolution verstreut seinen langen Essay „Der Surrealismus und die
Malerei“, um zu beweisen, dass es eine surrealistische Malerei geben kann.
Wobei er, der ab der vierten Ausgabe, in welcher der erste Teil seines Essays
zur Malerei erscheint, die Chefredaktion der Zeitschrift an sich reißt, sich
bemüht zeigt, den Widerspruch produktiv werden zu lassen: „Ist der Surrealismus
eine Kraft absoluter Opposition oder eine Gesamtheit rein theoretischer
Aussagen oder ein auf der Vermischung aller Ebenen beruhendes System oder der
erste Stein einer neuen gesellschaftlichen Struktur? Je nach der Antwort, die
ihm eine solche Frage abzuverlangen scheint, wird sich jeder anstrengen, aus
dem Surrealismus alles herauszuholen, was er nur kann: Der Widerspruch schreckt
uns nicht ab.“
B/ Aber man fängt
doch an, auf die schiefe Bahn zu geraten, sprich: Kunst zu machen. In dieser
vierten Ausgabe finden sich nur noch zwei Träume und vier automatische Texte
... Éluard und Aragon genossen bereits das Ansehen von Dichtern. Und längst
waren die Gemälde von Max Ernst und André Masson bei den Kunsthändlern
hochbegehrt.
A/ Allerdings ganz
entschieden, ohne den Sinn für den Skandal zu verlieren. Erinnern wir an die
Hommage an den französischen Dichter Saint Pol-Roux am 2. Juli 1925. Da die
Surrealisten in ihm einen Dichter sahen, der in besonderer Weise auf sein
Unbewusstes hörte, verehrten sie ihn und nahmen an dieser vom Mercure de France
organisierten Ehrung teil.
B/ Die Veranstaltung
gerät recht bald aus den Fugen. Es ist eine gezielte Provokation der
Surrealisten. Auf den Tischen haben sie ihren „Offenen Brief an Paul Claudel,
französischer Botschafter in Japan“ ausgelegt: Darin schreiben sie: „Die
Kreation interessiert uns nicht, wir wünschen inbrünstig, dass die
Revolutionen, die Kriege und die Aufstände in den Kolonien diese abendländische
Zivilisation, deren Geschmeiß Sie bis in den Orient verteidigen, vernichten
werden, und wir bezeichnen diese Zerstörung als den am wenigsten inakzeptablen
Stand der Dinge für den Geist. [...] Und bei dieser Gelegenheit
entsolidarisieren wir uns öffentlich von allem, was in Worten und Taten
französisch ist.“
A/ Und aus Protest
gegen den französischen Chauvinismus vieler geladener Gäste und dezidiert
antideutsche Töne beginnen die Surrealisten – unter ihnen Max Ernst aus Brühl –
„Hoch lebe Deutschland“ zu skandieren.
B/ Soupault hängt am
Kronleuchter wie Tarzan an seiner Liane, um die Banketttische abzuräumen. Eine
Massenschlägerei setzt ein, oder eher eine Jagd auf die Surrealisten, trotz
aller Beschwichtigungsversuche des alten Saint Pol-Roux. Am schlimmsten erwischt
es Michel Leiris, der sich mit der Menge vor dem Saal einlässt und knapp dem
Lynchmord entgeht, allerdings von der Polizei geschnappt und auf dem
Kommissariat übel zugerichtet wird.
A/ Um sie einmal –
fast alle – aufzuzählen, die Pariser Surrealisten, lesen wir die Liste der
Unterzeichner dieses offenen Briefs an Claudel vor?
B/ Gut. – Maxime
Alexandre.
A/ Louis Aragon.
B/ Antonin Artaud.
A/ Jacques-André
Boiffard.
B/ Joë Bousquet.
A/ André Breton.
B/ Jean Carrive.
A/ René Crevel.
B/ Robert Desnos.
A/ Paul Éluard.
B/ Max Ernst.
A/ Théodore
Fraenkel.
B/ Francis Gérard
A/ Éric de
Haulleville.
B/ Michel Leiris.
A/ Georges Limbour.
B/ Mathias Lübeck.
A/ Georges Malkine.
B/ André Masson.
A/ Max Morise.
B/ Marcel Noll.
A/ Benjamin Péret.
B/ Georges
Ribemont-Dessaignes.
A/ Philippe
Soupault.
B/ Dédé Sunbeam.
A/ Roland Tual.
B/ Jacques Viot.
A / Roger
Vitrac.
B/ Illustre Truppe.
Die sich zu dieser Zeit in ihrem Antipatriotismus in dem Maße weiter
radikalisiert, wie Frankreich sich im Krieg gegen die Rif-Republik engagiert,
unterstützt von „Priestern, Medizinern, Professoren, Literaten, Poeten,
Philosophen, Journalisten, Richtern, Advokaten, Politikern und
Akademiemitgliedern aller Art“, die sich in ihrem Manifest „Die Intellektuellen
auf der Seite des Vaterlands“ mit der Kolonialmacht solidarisiert hatten, im
Gegensatz zur kommunistischen Partei Frankreichs, dem P.C.F., vor dem die
Surrealisten zu diesem Zeitpunkt allerdings noch geschlossen auf der Hut sind.
Es ist diese ihre – zumindest auf der Ebene ihrer Aussagen – dezidiert
antikolonialistische Haltung, die sie recht unvermittelt dazu bewegt, ihre
politischen Vorbehalte – bzw. ihre Vorbehalte gegen das Politische – zu
überdenken. Zusammen mit einigen dissidenten Kommunisten, die anders als der
P.C.F. eher Lenins oder Trotzkis Lehren folgen, der Gruppe Clarté, und
einigen jüngeren dezidiert systemkritischen Philosophen aus der Gruppe Philosophies,
unter ihnen Henri Lefebvre, unterzeichnen sie das Manifest „La révolution
d‘abord et toujours“ (Zuerst und immer die Revolution), veröffentlicht am 15.
Oktober 1925 in der fünften Ausgabe der Surrealistischen Revolution.
A/ Dem im Übrigen
eine Hommage an Trotzki und Lenin aus Bretons Feder so gut wie unmittelbar
vorhergeht.
B/ Man könnte es auf
die Formel bringen: Zu einer wahrhaftigen Revolution des Geistes braucht es
zunächst eine Revolution der kolonialgesellschaftlichen Klassenverhältnisse.
A/ Breton drückt es
anders aus, im Rückblick, das heißt in seiner Schrift „Was ist der Surrealismus?“
von 1934: Das Manifest aus dem Jahr 1925, schreibt Breton, „sollte die gesamte
spätere Haltung der Bewegung prägen. Angesichts dieses brutalen, aufrührenden, undenkbaren
Sachverhalts [der Krieg in Marokko] hinterfragte die surrealistische Aktivität
ihre eigenen Ressourcen und wurde sich ihrer Grenzen bewusst; sie sollte uns
dazu zwingen, einen präzisen Standpunkt zu beziehen, außerhalb ihrer selbst, um
sich weiterhin dem entgegenzustellen, was ihre Grenzen überschritt. Es war der
Zeitpunkt, da diese Aktivität in ihre reflexive Phase eintrat. Sie empfand
plötzlich das Bedürfnis, den Graben zwischen dem absoluten Idealismus und dem
historischen Materialismus zu überwinden.“
B/ Im Prinzip
durften sie jetzt machen, was sie auch machten: Kunst.
A/ Im Spagat über
dem Graben. Je mehr ich mich auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Fragen
der Revolution einlasse, desto mehr kann ich in umgekehrter Richtung eine
gewisse ... nun ja ... Autonomie behaupten. 1926, im ersten Artikel, den André
Breton bei den neuen Freunden von Clarté veröffentlicht, entscheidet er
sich zumindest in diesem Sinne: „Ich denke nicht, dass es zum gegenwärtigen
Zeitpunkt einen Anlass gibt, die Sache des reinen Geistes der Sache der
Revolution entgegenzusetzen und von uns, oder einigen von uns, eine noch
größere Spezialisierung zu verlangen. Noch weniger könnte ich es verstehen,
wenn man im Namen der Nützlichkeit versuchte, mich dazu zu bewegen, zum
Beispiel die surrealistische Aktivität zu missbilligen.“
B/ Pierre Naville
seinerseits beharrt 1927 darauf: Da ist kein Graben, sondern ein Abgrund. Und
so sehr man sich winden mag, es braucht eine Entscheidung in der von Breton
gleichsam ausgehebelten Frage nach der Revolution. In seinem Buch Die
Intellektuellen und die Revolution fragt Naville: „Kann es so etwas geben
wie eine der Abschaffung der bürgerlichen Bedingungen des materiellen Lebens
vorraufgehende Befreiung des Geistes, die bis zu einem gewissen Punkt
unabhängig von diesem materiellen Leben wäre, oder aber ist die Abschaffung der
bürgerlichen Bedingungen des materiellen Lebens eine notwendige Bedingung für
die Befreiung des Geistes?“
A/ Und seine Antwort
ist unmissverständlich. Die zweite Hypothese ist richtig. Daher muss sich der
Surrealismus „resolut auf den Weg der Revolution begeben, auf den einzigen
revolutionären Weg, die marxistische Stimme. Das heißt, sich klarzumachen, dass
die geistige Kraft, die Teil und Ganzes des Individuums ist, aufs Engste an
eine gesellschaftliche Realität gebunden ist, die sie effektiv voraussetzt.“
B/ Für Breton Anlass
zur Notwehr – Légitime défense. In der achten Ausgabe der Surrealistischen
Revolution. Nach dem Motto „Ich sage Spagat, ich meine Spagat“.
Unnachgiebig. Er schreibt: „Im Bereich der Tatsachen kann es unsererseits keine
Zweideutigkeit geben: Es gibt niemanden unter uns, der nicht wünschte, dass die
Macht aus den Händen des Bürgertums in die Hände des Proletariats überginge.
Bis es so weit ist, ist es aber darum nicht weniger notwendig, dass die
Erfahrungen des inneren Lebens weitergehen, und zwar ohne äußere Kontrolle, sei
sie auch marxistisch.“
A/ Der sie dann
allerdings unter anderem Antonin Artaud opfern. Was Sie in ihrem Traktat „Au
grand jour“ öffentlich machen. Sie: Louis Aragon, André Breton, Paul Éluard,
Benjamin Péret und Pierre Unik. Die sogenannten „Fünf“.
B/ Und ihren
Eintritt in den P.C.F. verkünden.
A/ Beinah zum Ärger
der Partei, könnte man sagen.
B/ Durchaus. Denn in
einer Hinsicht bleiben die Fünf sich treu. Von ihrer Warte aus, also von der
Höhe dessen aus, was sie ihre „moralische Haltung“ nennen, können sie in der
Tat keinen Abgrund sehen, sondern eben nur einen Graben.
A/ Es mutet alles
ein wenig wie ein Alibi an. Als wollten sie ihren internen Kritikern wie
Naville zu verstehen geben: Seht ihr? Wir sind sogar bereit, in die Partei
einzutreten. Wo wir nicht einmal als Surrealisten auftreten möchten, wie sie in
ihrem Brief „An die Kommunisten“ vom 29. April 1927 schreiben.
B/ „Der
Surrealismus“, bemerkt Nadeau, „schien sich in sich selbst zurückzuziehen.
Nachdem er ohne jegliche Zweideutigkeit der politischen Aktivität ihren Platz
eingeräumt hat, will er seine Reihen enger um den von ihm entdeckten autonomen
Schatz versammeln und ihn um so mehr umhegen, je heftiger sein Wert infrage
gestellt wird.“
A/ Wobei Pierre
Naville nicht davon ablässt, Brückenschläge über den Abgrund oder den Graben zu
erproben. In der Doppelausgabe 9/10 der Surrealistischen Revolution vom
1. Oktober 1927 schreibt er: „Die Organisierung des Pessimismus ist wahrlich
eine der seltsamsten Devisen, denen ein bewusster Mensch folgen kann. Indessen
ist es diese Devise, der zu folgen wir von ihm verlangen. Diese [...] Tendenz
erlaubt uns – und wird uns vielleicht weiterhin erlauben – die höchste
Parteilichkeit zu beachten, jene, die uns immer schon von der Welt abgeschnitten
hat; sie wird uns zugleich daran hindern, uns festzulegen, zu verenden – das
heißt, dass wir entschlossen auf unserem Existenzrecht in dieser Welt beharren.
Denn der Pessimismus kann sich nicht durch seine schlichte sprachliche Bejahung
entwickeln, seine Wirkung entfalten [...]. Nur lebendige Ressourcen erlauben
es, dem Pessimismus einen Sinn abzugewinnen, der den zu unseren Füßen
angehäuften Jahren entspricht. Der Pessimismus muss organisiert werden. [...] Wie
er aber jetzt organisiert werden muss, damit ihm gefolgt werde kann, ist eine
Frage, die sich erst später stellen wird.“
B/ Glauben und
Verzweiflung ...
A/ Zugleich der
letzte Beitrag von Naville in der Surrealistischen Revolution. Er wird
das Lager wechseln, Chefredakteur von Clarté werden und die Zeitschrift
zur leninistisch-trotzkistischen Gegenstimme zum P.C.F. machen und dort zum
Beispiel das von Stalin unter Verschluss gehaltene sogenannte „Testament von
Lenin“ veröffentlichen.
B/ Zuvor wird er
aber auch noch einen von Raymond Queneau verfassten surrealistischen Text
signieren, der zugleich eine politische Intervention ist. Ein offener Brief an
den Bürgermeister von Charleville und die dort anlässlich der Einweihung eines
Denkmals zu Ehren Rimbauds auf dem Bahnhofsplatz des Städtchens in den Ardennen
versammelten Würdenträger.
A/ In gewisser Weise
eine Einführung in Rimbauds Werk für die Herren Honoratioren.
B/ Mit erlesenen
Auszügen, wie zum Beispiel Rimbauds Brief an seinen Lehrer Georges Izambard vom
25. August 1870. „Meine Geburtsstadt ist an Idiotie allen anderen kleinen
Provinzstädten überlegen. Diesbezüglich habe ich, wie Sie verstehen werden,
keinerlei Illusionen mehr. Weil sie sich in der Nähe Mézières weiß, ― einer
Stadt, die sich im Nirgendwo befindet; weil sie zwei oder dreihundert
Piepmätzel durch ihre Straßen stolzieren sieht, fuchtelt diese Population
spießbürgerlich mordlüstern mit den Armen [...]! Fürchterlich, diese
Ruhestandskrämer, wenn sie sich die Uniform überstreifen! Echt dufte, was die
für einen Schneid haben, die Notare, Glaser, Steuereintreiber, Schreiner und
sonstigen Dickbäuche, die den Hinterlader am Herzen vor den Stadttoren von
Mézières patridiotisch werden; mein Vaterland erhebt sich! … Mir aber ist’s
lieber, wenn ich’s sitzen sehe; lauft Euch nicht die Sohlen ab! Das ist mein
Grundsatz.“
A/ Gut. Halten wir
hier fürs Erste fest, dass der Surrealismus sich zu diesem Zeitpunkt bereits
ein gewisses Ansehen als Bewegung der Avantgarde verdient und Werke realisiert
hatte, die gesehen und gelesen wurden, von einem recht breiten Publikum, und dass
er einen beträchtlichen Einfluss insbesondere auf die jüngeren Leute hatte.
B/ Wie zum Beispiel
die von Le Grand Jeu, Roger Gilbert-Lecomte, René Daumal, Roger
Vailland.
A/ „Gottessucher“,
so das Verdikt von Breton. Sein wenn man so möchte dogmatischer Surrealismus
war mittlerweile doch sehr an konkreten Problemen ausgerichtet und unter ihnen
gab es zwei, die man noch nicht wirklich zur Diskussion gestellt hatte: Sexualität
(Nr. 11, 1928) und Liebe (Nr. 12, 1929) ...
B/ ... kamen nun auf
die Tagesordnung.
A/ Vielleicht
sollten wir bei der Gelegenheit etwas sehr Grundsätzliches hervorheben: Der
Surrealismus als solcher manifestiert sich gewiss weniger in seinen
veröffentlichten „Werken“ – sei es in der Literatur oder in der bildenden Kunst
– als in seinen zahllosen Handzetteln und Flugschriften, mit denen er Paris
übersäte.
B/ Und eben in
seinen vielen Umfragen, die er durchführte. Mit der eben erwähnten Umfrage zur
Liebe endet die Geschichte von Die Surrealistische Revolution.
A/ Zitieren wir die
erste und die vierte Frage: „1. Welche Art von Hoffnung setzen Sie in die
Liebe? [...] 4. Glauben Sie an den Sieg der bewundernswerten Liebe über das
ärmliche Leben oder an den Sieg des ärmlichen Lebens über die bewundernswerte
Liebe?“
B/ Wie diese
Geschichte mit einer Umfrage angefangen hatte. Die Surrealistische
Revolution, Nr. 1, S. 2:
A/ „Die Surrealistische
Revolution erklärt folgende Umfrage für eröffnet: Man lebt, man stirbt.
Welchen Anteil hat der Wille an alldem? Es scheint, dass man sich tötet, wie
man träumt. Es ist keine moralische Frage, die wir stellen. IST DER SELBSTMORD
EINE LÖSUNG?“
B/ Hier vielleicht
auch wenigstens eine Antwort, und zwar von René Crevel: „Eine Lösung? ... ja.
[...] Man bringt sich um vor Liebe, vor Angst, wegen der Syphilis, so heißt es.
Das ist nicht wahr. Alle lieben, glauben zu lieben, alle haben Angst, alle sind
mehr oder weniger syphilitisch. Der Selbstmord ist ein Mittel zur Auslese.
Selbstmord begehen diejenigen, die nicht die quasi-universale Feigheit haben,
gegen eine gewisse Gemütsempfindung zu kämpfen, die so heftig ist, dass man in
ihr bis auf Weiteres eine wahre Empfindung sehen muss. Nur diese Empfindung
erlaubt die wahrscheinlichste, angemessenste und endgültige Lösung, den
Selbstmord.“
Bereits in der „vorsurrealistischen“ Phase hatten Aragon,
Breton und Soupault zwei Umfragen gestartet, in ihrer Zeitschrift Littérature.
Die erste lautete „Warum schreiben Sie?“, die zweite „Was machen Sie, wenn Sie
allein sind?“
A/ Und vielleicht
sollten wir auch noch die aus der Doppelausgabe 3/4 der Zeitschrift Minotaure
vom Dezember 1933 erwähnen: „Was war die entscheidende Begegnung in Ihrem
Leben?“
B/ Man kann in
dieser kaum zu überschätzenden Bedeutung von Handzetteln, Flugschriften und
Umfragen sowohl eine gewisse Despektierlichkeit gegenüber der Aura des
Kunstwerks als auch den Aspekt der kollektiven Dimension der Reflexion
hervorheben, ohne dabei freilich den parodistischen Effekt gegenüber einem sich
konstituierenden Kulturbetrieb zu vergessen.
A/ Was man
insbesondere an der einleitenden Bemerkung zur Veröffentlichung der
eingegangenen Antworten auf ihre erste Umfrage „Warum schreiben Sie?“ (1919)
sehen kann: „Heute beginnen wir mit der Veröffentlichung der uns zugestellten
Briefe. Wir folgen in ihrer Wiedergabe der umgekehrten Reihenfolge unserer
Präferenzen, um dem Interesse beim Lesen förderlich zu sein und unseren
Korrespondenten die Überraschung durch einen Kommentar zu ersparen.“ (Littérature,
Nr. 10, Dezember 1919).
B/ Wir waren vor
dieser kleinen Abschweifung in Sachen Flugschriften und Umfragen beim
Schlagwort Konkrete Probleme ... Aber stets im Sinne ein und derselben
konkreten Maxime, wie Breton im „Zweiten Manifest des Surrealismus“ schreibt,
das er in der letzten Ausgabe der Surrealistischen Revolution vom
Dezember 1929 veröffentlicht: „Alles bleibt zu tun, alle Mittel müssen gut
dafür verwendbar sein, die Ideen der Familie, des Vaterlands, der Religion zu
ruinieren.“ Und wenn es denn sein soll, dann eben mit historisch-materialistischer
Note, denn „wie kann man nur annehmen, dass sich die dialektische Methode
vollgültig nur zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme heranziehen lässt?
Die ganze Ambition des Surrealismus besteht darin, ihr keineswegs konkurrierende
Verwendungsmöglichkeiten im unmittelbarsten bewussten Bereich an die Hand zu
geben. Ich sehe wirklich nicht, auch wenn dies einigen engstirnigen
Revolutionären sauer aufstoßen dürfte, warum wir darauf verzichten sollten,
nicht auch – insofern wir dies ausgehend vom selben Blickwinkel tun, von dem
aus sie – wie wir auch – die Revolution ins Auge fassen – die Probleme der
Liebe, des Traums, des Wahnsinns, der Religion zu stellen.“
A/ Wobei dieses zweite
Manifest die Reaktion auf ein eklatantes Scheitern ist, gewissermaßen Bretons
Rückblick auf das Jahr 1929. Anders gesagt, man trat auf der Stelle. Und da lag
es nahe, sich umzuschauen und sich zu fragen, wie und vor allem auch mit wem
die Frage zu beantworten wäre, welche Aktivitäten der Gruppe vereinbar sind mit
dem revolutionären Werden, dem sie sich verpflichtet glaubte. Nadeau beschreibt
recht treffend diesen Zeitpunkt: „Bretons Vorgehensweise ist eine Blaupause der
Strategien der revolutionären Parteien: Er schlägt Gruppen oder Personen, die
ideologisch oft weit auseinanderliegen, einen gemeinsamen Aktionsplan gemäß
einem Programm vor, das sie akzeptieren können, und einer Disziplin, der sie
nachzukommen sich verpflichten müssen. Wie der P.C.F. will er gewisse Personen,
denen er nicht mehr traut, auf diese Weise bloßstellen und zugleich überprüfen,
inwieweit er anderen Personen noch trauen darf.“
B/ Zu diesem Zweck
wird am 12. Februar 1929 eine Art Fragebogen verschickt – also eine weitere,
wenn auch dieses Mal beschränkte oder quasi interne Umfrage – sowohl an die
Getreuen als auch an die bereits Ausgeschlossenen wie Artaud, an die Clarté-Gruppe
und die Leute von Le Grand Jeu, und auch an einige ehemalige Dadaisten,
darunter Tristan Tzara, sowie an die Redaktionsmitglieder der Zeitschrift l’Esprit
und einige entferntere Freunde wie Roger Vidal oder Georges Bataille ...
A/ Das dieser Name
endlich einmal fällt, wurde aber auch Zeit.
B/ Wir werden auf
ihn noch ausführlich zurückkommen ...
A/ „Viel zu viele
idealistische Klugscheißer“, so lautet Batailles Antwort.
B/ Während viele
andere, etwa die bereits Ausgeschlossenen oder diejenigen, die Bataille
nahestehen, etwa Leiris oder Masson, gar nicht antworten.
A/ Fast alle
anderen, die sich in ihren Antworten gesprächsbereit zeigen, werden zu einer
Versammlung am 11. März 1929 eingeladen.
B/ Machen wir es
kurz: Bei der rein gar nichts herauskam.
A/ Und worauf Breton
dann im „Zweiten Manifest des Surrealismus“ zu reagieren versucht. Zum einen
mit einer heftigen Polemik gegen die Ausgeschlossenen bzw. Abtrünnigen, wobei
die gegen Bataille bezeichnenderweise am längsten ausfällt. Und zum anderen, indem
er den Widerspruch ein weiteres Mal weghebt. Breton schreibt dort: „Alles
deutet darauf hin, dass es einen bestimmten Punkt im Geist gibt, von dem aus
Leben und Tod, Reales und Imaginäres, Vergangenheit und Zukunft,
Kommunizierbares und Unkommunizierbares, oben und unten nicht mehr als
gegensätzlich wahrgenommen werden. Und vergebens wäre es, in der
surrealistischen Aktivität nach einem anderen Antrieb zu suchen als der
Hoffnung darauf, diesen Punkt zu bestimmen. Woraus wiederum klar ersichtlich
wird, wie absurd es wäre, ihr eine nur destruktive oder eine nur konstruktive
Ausrichtung zuzuschreiben: Denn der infrage stehende Punkt ist a fortiori
derjenige, wo Destruktion und Konstruktion nicht mehr gegeneinander ins Feld
geführt werden können. Klar ist ebenfalls, dass sich der Surrealismus nicht besonders
dafür interessiert, was neben ihm produziert wird unter dem Vorwand der Kunst
oder sogar der Anti-Kunst, der Philosophie oder der Anti-Philosophie, mit einem
Wort alles, was nicht zum Zweck hat, das Lebewesen zu einem inneren und blinden
Glanz zu vernichten, der nicht mehr die Seele des Eises als die des Feuers
wäre.“
B/ Antwort Bataille
in der Schmähschrift mit dem Titel „Ein Kadaver“, die die von Breton
Abgekanzelten ihm einen Monat später um die Ohren hauen – der Titel spielt auf
die gleichnamige Flugschrift der Surrealisten an, die diese anlässlich des
Staatsbegräbnisses von Anatole France im Oktober 1924 verbreitet hatten: „Das
abscheuliche Bewusstsein, das ganz gleich welcher Mensch von einer so gut wie
unausweichlichen mentalen Kastration besitzt, drückt sich unter normalen
Bedingungen als religiöse Aktivität aus, denn besagter Mensch, um vor einer
grotesken Gefahr zu fliehen und sich gleichwohl den Geschmack am Dasein zu
bewahren, überträgt seine Aktivität in den mythischen Bereich. Da er auf diese
Weise eine falsche Freiheit erlangt, fällt es ihm auch nicht mehr schwer, sich
männliche Gestalten auszumalen, die nichts als Schatten sind, und folglich sein
Leben feige mit einem Schatten zu verwechseln, aber alle Welt weiß, dass die
Abschaffung der modernen Gesellschaft nicht Wein in Wasser verwandeln wird, wie
es am Ende der römischen Epoche mit dem Christentum geschehen ist. Mit Ausnahme
einiger unappetitlicher Ästheten will sich niemand mehr in einer blinden und
idiotischen Kontemplation beerdigen, wie auch niemand mehr eine mythische
Freiheit will. Erstaunt darüber, dass diese Abschaffung nur auf der politischen
Ebene geschah und einzig in revolutionären Bewegungen zu verzeichnen war,
versuchte der Surrealismus, mit der unbewussten Verzögerungstaktik und der
poetischen Betrügerei des Kadavers Breton, sich in die Gepäckwagen des
Kommunismus zu schleichen. Da dieses
Manöver gescheitert ist, bleibt besagtem Breton nichts anderes übrig, als sein
religiöses Unterfangen durch eine armselige revolutionäre Phrasendrescherei zu
tarnen. Aber wie sollte die revolutionäre Haltung eines Bretons einen anderen
Eindruck erwecken als den einer Gaunerei?“
A/ Jedenfalls zeigt
sich Breton Anfang 1930 ziemlich beflissen, was revolutionäre Phrasendrescherei
anbelangt. Aus der Zeitschrift La Revolution surréaliste wird die
Zeitschrift Le surréalisme au service de la révolution. Der Surrealismus
im Dienst der Revolution. Es werden insgesamt fünf Ausgaben erscheinen, die
letzte im Mai 1933.
B/ Während Louis
Aragon mit dem erst vor Kurzem zu den Surrealisten hinzugestoßenen Georges
Sadoul nach Moskau reist. Und es zu einem sehr förmlichen Austausch kommt
zwischen der orthodox-kommunistischen Internationalen Vereinigung revolutionärer
Schriftsteller in Moskau und der surrealistischen „Parteizentrale“ in Paris.
Auf die Frage, auf welcher Seite die Surrealisten stehen würden, wenn der
kapitalistische Imperialismus der Sowjetunion den Krieg erklären würde, lautet
die surrealistische Antwort: „Genossen, wenn Imperialismus Krieg erklärt gegen
Sowjets, unsere Position im Einklang mit Anweisungen der III. Internationale
und Position der Mitglieder kommunistische Partei Frankreichs. Falls mögliche
bessere Verwendung unserer Vermögen, stehen wir zur Verfügung für präzisen
Auftrag mit jeglicher Verwendung von uns als Intellektuellen. Stop. Ihnen dazu
Vorschläge unterbreiten hieße wahrlich auf unsere Rolle und die Umstände
vorgreifen. In der jetzigen Situation eines unbewaffneten Konflikts ist es
unseres Erachtens nicht geraten, damit zu warten, die Mittel, die im Besonderen
die unseren sind, in den Dienst der Revolution zu stellen.“
A/ Doch sosehr der
Surrealismus sich nun bemüht, im Dienst der Revolution zu stehen, sosehr ist
dieses Jahr doch auch wieder eines der „literarischen Alibis“, wie es Breton
selbst im Zweiten Manifest abschätzig formuliert. Kurzum ein Jahr der Werke.
B/ In der Tat. Es
gibt nun nicht nur die surrealistische Malerei, sondern auch den
surrealistischen Film. Kurz nach Der Andalusische Hund (1929) war soeben
Das goldene Zeitalter von Luis Buñuel und Salvador Dalí erschienen und in aller Munde.
A/ Der Film wird
sehr bald verboten. Das heißt nach gewaltsamen und offen antisemitischen
Protesten gegen dieses Werk, das im Wesentlichen von Marie-Laure de Noailles
finanziert wurde, die jüdischer Abstammung war.
B/ Und obwohl er von
der französischen Kinemathek auf ihre 1949 veröffentlichte Liste der „Hundert
Meisterwerke der Filmkunst“ gesetzt wird, durfte der Film erst ab 1981 in
Frankreich wieder gezeigt werden, nach dem Amtsantritt von François Mitterand.
A/ Mit Salvador Dalí, später in den USA alias Avida Dollar,
war jedenfalls jemand zur Bewegung gestoßen, der schon zu dieser Zeit kaum
revolutionstauglich gewesen ist ...
B/ ... dem
Surrealismus allerdings theoretisch weiterhalf ...
A/ ... mit seiner
„paranoisch-kritischen Methode“.
B/ O, wir
überspringen gerade die sogenannte Aragon-Affäre ...
A/ Hm. Ja, schlimm?
B/ Nun ja, ganz kurz
vielleicht?
A/ Also gut. Aragon
nimmt 1930 am Internationalen Kongress der proletarischen Schriftsteller in
Charkiw teil und distanziert sich dort ganz explizit sowohl von der
Psychoanalyse Freuds wie auch von den Positionen Trotzkis. Was auf einen Verrat
am Surrealismus hinausläuft.
B/ In der Tat. Wir
haben es noch gar nicht explizit gesagt: Sigmund Freud und Leo Trotzki sind
zwei ganz besonders hohe Tiere im Pantheon der Surrealisten – und zudem waren
sie ja auch noch am Leben ...
A/ Freud hat sogar
einer Veröffentlichung eines Auszugs aus seiner Schrift Die Frage der
Laienanalyse in einer Übersetzung von Marie Bonaparte zugestimmt,
erschienen in der Doppelausgabe 9/10 von Die Surrealistische Revolution.
B/ Und Trotzki hatte
wie bereits erwähnt seinen Ehrenplatz in dieser Zeitschrift bereits in der 5.
Ausgabe (1925) erhalten.
A/ Trotzki, dem
Breton einige Jahre später in Mexiko begegnen sollte ... Wobei sich Breton
hocherfreut zeigte über die Aufgeschlossenheit des exilierten Revolutionärs,
der ihm zu verstehen gab, dass in seinen Augen die Kunst nur revolutionär sein
könne, wenn sie unabhängig von allen Regierungsformen allein ihrem eigenen
Werden folge. Nur als Kampf für die künstlerische Wahrheit, nur durch die
unerschütterliche Treue des Künstlers gegenüber sich selbst könne der
proletarischen Befreiung im Rahmen der Kunst gedient werden.
B/ Doch nicht nur,
dass Aragon öffentlich Freud und Trotzki desavouiert. Zudem veröffentlicht er
auch ein Gedicht, das er als Beweis für seine Linientreue geschrieben hat:
„Front Rouge“ (Rotfront). Darin heißt es
zum Beispiel: „Es gibt immer noch Waffenhändler in der Stadt / Autos vor den
Türen der Spießbürger / Senst die Laternen um wie Strohhalme / Jagt die Kioske,
die Banken, die Wallace-Brunnen in die Luft / Knallt die Bullen ab“ – Tja ...
Es war der falsche Zeitpunkt, denn „das bestehende System“ hatte längst schon
angefangen, die Surrealisten ernst zu nehmen. Also schwebten fünf Jahre Knast
über Herrn Aragon ...
A/ Was seinen Freund
André Breton dazu veranlasst, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um ihm aus der
Patsche zu helfen – was ihm auch gelingt. Eine Petition, die er verfasst, wird
binnen weniger Tage von über dreihundert Personen unterzeichnet.
B/ Von einflussreichen
Personen wie zum Beispiel André Gide. Und „das System“ zieht es angesichts der
breiten Öffentlichkeit dann doch vor, die Sache lieber auf sich beruhen zu
lassen.
A/ Während Breton
eine Verteidigung Aragons verfasst, in der er gleichwohl auf Distanz zum
Gedicht geht: Misère de la poésie (l’affaire Aragon devant l’opinion
publique).
B/ Mit der sich
Aragon wiederum solidarisiert – gegenüber Breton. Und gleichzeitig dem
Parteiorgan des P.C.F., der Tageszeitung L’Humanité, steckt, dass er die
Schrift als ganze wegen der in ihr enthaltenen Angriffe auf die Partei
missbillige – die dies wiederum öffentlich macht.
A/ Exit Aragon –
neben Robert Desnos wohl der bedeutendste Dichter des Surrealismus – wenn ich
mir diese bürgerliche Bemerkung erlauben darf.
B/ Geschenkt. Nun
denn, Salvador Dalí, später alias Avida Dollar und die paranoisch-kritische
Methode ...
A/ Im Grunde eine
Alchemie ... Während Breton, wie es bezeichnenderweise auch auf seiner
Trauerkarte steht, das „Gold der Zeit“ gesucht hat, behauptet Dalí, mit seiner
paranoisch-kritischen Methode insbesondere das „Gold des Raums“ gesucht zu
haben. „Das war das Ziel meines ganzen Lebens, in der Nachfolge der Alchemisten
und Mystiker des Mittelalters [...], das heißt die Verwandlung der schnöden
Materie in Gold, insofern es nur eine einzige Art und Weise gibt, die Materie
zu vergeistigen: sie zu vergolden. Und so betrachtet muss ich sagen, dass André
Bretons Anagramm Avida Dollar mir von unmittelbarem Nutzen war, denn seither
prasselt eine regelrechte Diarrhö aus Gold auf mich herab“, witzelt Dalí im
Rückblick ...
A/ Nun ja, was das
Gold des Raums anbelangt, begnügen wir uns damit, auf das große schamanische
Poem Der Sturz des Himmels von Davi Kopenawa und Bruce Albert zu
verweisen ...
B/ ... und fügen wir
diesem Verweis noch hinzu, was wir hier aussparen werden: die Frage, ob der
Surrealismus eine Form von Schamanismus ist ...
A/ Gut. Jetzt aber
die paranoisch-kritische Methode. Sagen wir mit Nadeau dies: „Während der
Automatismus und der Traum für Dalí passive Zustände sind, insbesondere
wenn man sie von der Außenwelt isoliert, auf die sie eher in aller Freiheit
losgelassen werden sollten, weshalb sie zu Refugien werden, zu idealistischen
Fluchten, ist die Paranoia eine systematisierte Aktivität, die darauf abzielt,
die Wünsche oder Begehren der Menschen in skandalöser Weise in die Welt
eindringen zu lassen.“ Denn wie Dalí in La Femme visible (1930)
schreibt: „Die Paranoia bedient sich der Außenwelt, um der Zwangsvorstellung
Geltung zu verschaffen, aber mit der verwirrenden Besonderheit, die anderen von
der Realität dieser Vorstellung zu überzeugen. Die Realität der Außenwelt dient
als Veranschaulichung und Beweis und steht also in Diensten der Realität
unseres Geistes.“ Und in Bretons Worten Aus Was ist Surrealismus (1934): „Es geht um eine inbrünstige
Spekulation über die Eigenschaft des
ununterbrochenen Werdens eines jeden Objekts, auf das die paranoische Aktivität
ausgeübt wird, anders gesagt die ultra-konfuse Aktivität, die ihre Quelle in
der Zwangsvorstellung hat. Dieses ununterbrochene Werden erlaubt dem
Paranoiker, der sein Zeuge ist, die Bilder der Außenwelt selbst für unbeständig
und flüchtig, wenn nicht gar für suspekt zu halten, und es steht
merkwürdigerweise in seiner Macht, die Realität seines Eindrucks von anderen
prüfen zu lassen. [...] Wir stehen hier vor einer weiteren Bestätigung, mit
Beweisen auf der Hand, der Allmacht des Begehrens, die seit seinen Ursprüngen
der einzige Glaubensartikel des Surrealismus bleibt.“
B/ Mit anderen
Worten: Bahn frei für das surrealistische Objekt. Das heißt für jedes
aus seinem gewöhnlichen Rahmen herausgelöste Objekt, also „für jedes Objekt,
das außerhalb seiner eigentlichen Zweckbestimmung in Betracht gezogen wird, wie
auch für jedes ohne anderen Zweck als das Vergnügen seines Produzenten
hergestellte Objekt und für jedes nach den Wünschen des Unbekannten, des Traums
hergestellte Objekt“, wie Nadeau schreibt.
A/ Wie allerdings
schon in den ready-mades von Marcel Duchamp oder den Gemälden von Picasso, in
die er die unterschiedlichsten Materialien wie Zeitungspapier, Draht, usw.
integriert hat, ganz zu schweigen von Max Ernsts Collagen.
B/ Ja, nur dass es
nun so etwas wie eine wenn auch relative Profanierung des Traums in diesen
Aktivitäten zu verzeichnen gibt, insofern in den surrealistischen Objekten, die
Dalí, Breton oder auch Man Ray zu dieser Zeit haufenweise fabrizieren, eine
geträumte Form sozusagen in die Materie übersetzt wird. „Wie immer es um
Erfindung, Willen, Absicht, Aufmerksamkeit bestellt sein mag“, meint Nadeau –
„auch hier herrscht das Primat, im Dienst des Unbewussten zu stehen, der
automatischen Übersetzung eines bereits Wort für Wort gelesenen Textes.“
A/ Automatische
Übersetzung ... Können wir da einen Brückenschlag zur K.I. machen?
B/ Ich denke nicht.
Denn die surrealistische Voraussetzung für die automatische Übersetzung lautet:
Der Gedanke wird im Mund gemacht. Es ging zu diesem Zeitpunkt wirklich,
zumindest dachten das die Surrealisten, um etwas ganz Konkretes, um ihren
Einzug ins alltägliche Leben: „das Leben im Dienst des Unbewussten“, wie es
Nadeau zuspitzt.
A/ Wobei wir mit
Nadeaus Wendung „eines bereits Wort für Wort gelesenen Textes“ vielleicht einen
Brückenschlag erwägen könnten, bei dem sich die surrealistischen Würdenträger
wohl im Grabe herumdrehen würden: Waren sie, ohne es zu wissen, kurz davor, zu Philologen
des Lebens zu werden, wenn Philologie als Verstehen eines bereits Verstandenen
definiert werden kann?
B/ Lassen wir das
lieber ... und heben auch hier trotz allem den Widerspruch hervor. Denn die
Profanisierung oder Profanierung schlägt auch in Dalís paranoisch-kritischer Methode
geradezu dialektisch in ihr Gegenteil um, denn sie bezeugt letztlich doch
gerade die Allmacht des Geistes, der dank seines Deliriums in der Lage ist, auf
die Welt der Fakten oder der „wirschen Wirklichkeit“, um mit Rimbaud zu
sprechen, einzuwirken.
A/ Der Schwung, den
Dalí mitbrachte, war also die Überzeugung, dass die Surrealisten auf die
Dinge in der Wirklichkeit einwirken, ja Objekte verwirklichen können nach
Maßgabe ihrer eigenen ihnen unbekannten Begehren.
B/ Jedenfalls könnte
man sagen, dass in dieser relativen Profanisierung oder Profanierung des
Traums, die zugleich zwangsläufig eine Machtprobe ist, eine Möglichkeit
aufscheint, die als „Politik des Surrealismus“ bezeichnet werden könnte. Wenn
Traum und Wirklichkeit in Wahrheit kommunizierende Röhren sind – dies zu
zeigen, ist der Anspruch von Bretons gleichnamigem Buch aus dem Jahr 1932 –
dann muss es auch so etwas wie eine Politik des Surrealismus geben, denn dann
sind auch die soziale Revolution und der Surrealismus kommunizierende Röhren.
A/ Und diese Politik
musste zwangsläufig dazu führen, dass Breton, Éluard und Crevel bald schon
(Ende 1933) aus dem P.C.F. ausgeschlossen wurden.
B/ Genau. Anlass war
ein Brief von Ferdinand Alquié an André Breton, abgedruckt in der 5. Ausgabe
von Der Surrealismus im Dienst der Revolution (Mai 1933), in dem es
unter anderem heißt, dass die Sowjetunion sich in systematischer Verdummung
ergehe und mehr und mehr das vermeintliche revolutionäre Anliegen in die Hände
von Moralisten lege, die der Überzeugung seien, dass die Arbeit, und sogar noch
die Zwangsarbeit, ein Jungbrunnen für den Menschen wären.
A/ Zum völligen
Bruch kommt es dann auf dem Ersten internationalen Schriftstellerkongress zur
Verteidigung der Kultur. Pierre-Héli Monot schreibt in Hundert Jahre
Zärtlichkeit: „Man traf sich, um eine gemeinsame Haltung der europäischen Intellektuellen gegen den
Faschismus zu entwerfen. Im Publikum saßen die Mächtigen unter den
Ohnmächtigen: Louis Aragon, Ilja Ehrenburg, E. M. Forster, Virginia Woolf,
André Gide, Aldous Huxley, Egon Erwin Kisch, Thomas Mann, Heinrich Mann, Golo
Mann, Klaus Mann, Ernest Hemingway, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Tristan
Tzara, Boris Pasternak, Bertolt Brecht, Max Brod, Robert Musil, André Malraux.“
B/ Zitieren wir auch
Monots Bewertung des Großereignisses: „Öffentlich wetteifert man um
Kulturfrömmigkeit, privat glaubt man an nichts und pflichtet somit der These
Kojèves bei [...]: Man lebt in einer christlichen Welt, ist aber selber Atheist
geworden. Die oxymoronischen Effekte
dieser inneren Zäsur (und Zensur) dürften offenkundig sein, auch für die
Beteiligten selbst – zumindest episodisch. Diese drückt sich, zugleich als
engagierte Gleichgültigkeit und als gleichgültige Engagiertheit, wie eine
zweite Natur aus. Sie ermöglicht dem europäischen Schriftstellertum, die
Strukturen zu denunzieren, an denen es teilnimmt, und an den Strukturen
teilzunehmen, die es denunziert.“
A/ Und Monot führt
auch Belege an. Unter anderem Brecht,
der nach seiner Rückkehr aus Paris an George Grosz schreibt: „Wir haben
soeben die Kultur gerettet. Es hat vier Tage in Anspruch genommen und wir haben
beschlossen, lieber alles zu opfern, als die Kultur untergehen zu lassen.
Nötigen Falles wollen wir 10-20 Millionen Menschen dafür opfern. Gott sei Dank
haben sich genügend gefunden, die bereit waren, die Verantwortung dafür zu
übernehmen.“
B/ Kommentar Monot:
„Er gehört allerdings selbst dazu.“
A/ Anders als die
Surrealisten. Die wollten nur dazu gehören unter zwei Bedingungen, wie sie den
Organisatoren am 20. April 1935 mitteilten: „1. die Aufmerksamkeit darauf
lenken, was die Worte ‚Verteidigung der Kultur‘ nur für sich genommen an
Unbedingtem und Gefährlichem in sich bergen können; 2. dafür Sorge tragen, dass
sich die geplanten Sitzungen nicht in mehr oder minder verschwommenem
antifaschistischen oder pazifistischen Geschwafel ergehen, sondern eine gewisse
Anzahl an Grundfragen ernsthaft erörtert werden, die strittig bleiben und, wenn
sie systematisch ausgeklammert werden sollten, nur dazu führen werden, dass
jede Bekräftigung einer gemeinsamen Tendenz, jeder Wille zu einer abgestimmten
Aktion nichts weiter als Gerede sein wird.“
B/ Schließlich
einigte man sich darauf, dass einem Vertreter der Surrealisten auf dem Kongress
das Wort erteilt werden würde: André Breton.
A/ Der aber traf
kurz vor der Eröffnung des Kongresses auf der Straße zufällig auf ein Mitglied
der sowjetischen Delegation, Ilja Ehrenburg, der zudem zusammen mit André
Malraux, André Gide, Jean-Richard Blich und Paul Nizon das Organisationskomitee
bildete. Und da Ehrenburg in einem recht polemischen Artikel die Surrealisten
als „päderastisch“ bezeichnet hatte, verpasste ihm der ausgesprochen homophobe
Breton eine Ohrfeige, worauf der Geohrfeigte den Ausschluss Bretons vom
Kongress erwirkte.
B/ Wogegen René
Crevel, der tags zuvor erfahren hatte, dass er unheilbar krank war, und der im
Vorfeld des Kongresses in engem Austausch mit dem Organisationskomitee
gestanden hatte, um eine Teilnahme der Surrealisten zu erwirken, nachdrücklich
protestierte, bevor er am 18. Juni den Gashahn aufdrehte und mit einem hastig
auf ein Blatt Papier gekritzelten „Prière de m’incinérer. Dégoût“ das Zeitliche
segnete.
A/ Was dann wohl
dazu führte, dass sich die Organisatoren zu einer Kompromisslösung durchrangen:
Éluard sollte Bretons Text auf dem Kongress vorlesen dürfen. Wozu es dann
tatsächlich kam. Am 25. Juni 1935 als letzter Redner kurz vor Ende des
Kongresses war Éluard an der Reihe, wurde allerdings bald schon vom
Sitzungsleiter mit der Bemerkung unterbrochen, dass man leider zum Schluss
kommen müsse, da der Saal nur bis 0 Uhr 30 gemietet sei und bald der Strom
abgestellt werde.
B/ So zumindest
schildern es die Surrealisten in ihrer auf diesen Kongress zurückblickenden
Flugschrift vom August 1935.
A/ Darin heißt es
kurz und bündig: „Beschränken wir uns darauf, den Prozess rapider Regression
zur Kenntnis zu nehmen, der bezweckt, dass nach dem Vaterland auch die Familie
unbeschadet aus der vor sich hinsiechenden russischen Revolution hervorgehen
möge. So bleibt dort eigentlich nur noch, der Religion wieder auf die Beine zu
verhelfen und, warum nicht, dem Privateigentum, damit es um die schönsten
Errungenschaften des Sozialismus geschehen ist. Auch wenn es bedeutet, den Furor ihrer
Weihrauchschwenker zu provozieren, fragen wir, ob es nicht eines anderen Fazits
bedarf, um ein Regime anhand seiner Werke zu beurteilen, in diesem Fall das
derzeitige Regime Sowjetrusslands und den allmächtigen Führer, unter dem dieses
Regime in die Negation dessen umschlägt, was es sein sollte und was es war. Diesem
Regime, diesem Führer gegenüber können wir nur unser Misstrauen zum Ausdruck
bringen.“
B/ Und kurz darauf
kommt es dann zu Contre-Attaque. Im Wesentlichen ein Zusammenschluss der
Getreuen um Breton mit Georges Bataille und einigen seiner Weggefährten – im
Grunde ein mehr als unwahrscheinlicher Zusammenschluss, wenn man an die
Heftigkeit der Auseinandersetzungen aus dem Jahr 1929 zurückdenkt, der ihnen
aber aufgrund der Dringlichkeit der politischen Lage geradezu geboten erschien.
A/ Die erste
Flugschrift dieses „Kampfbundes revolutionärer Intellektueller“ vom 7. Oktober
1935 endet wir folgt: „Wir stellen fest, dass die nationalistische Reaktion in
anderen Ländern die von der Arbeiterbewegung erschaffenen politischen Waffen zu
nutzen gewusst hat. Wir beabsichtigen, unsererseits die Waffen des Faschismus
zu nutzen, der in der Lage war, das grundlegende Streben der Menschen nach
affektiver Begeisterung und Fanatismus für sich zu nutzen. Aber wir behaupten,
dass die Begeisterung, die in den Dienst des allgemeinen Interesses der
Menschheit gestellt werden muss, unendlich ernster und erschütternder sein muss
und von einer ganz anderen Größe als die der Nationalisten, die sich der
bestehenden Gesellschaft und den selbstsüchtigen Interessen der Vaterländer
unterworfen haben.
Ohne jeden Vorbehalt
muss die Revolution durch und durch aggressiv sein, kann sie nur durch und
durch aggressiv sein. Sie kann, wie die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
zeigt, zum Nutzen der aggressiven Forderungen eines unterdrückten Nationalismus
missbraucht werden; aber der Wunsch, die Revolution auf den nationalen Rahmen
eines dominierenden und kolonialisierenden Landes zu beschränken, zeugt nur von
der intellektuellen Schwäche und politischen Ängstlichkeit derjenigen, die
diesen Weg einschlagen. Durch ihre tiefe menschliche Bedeutung, durch ihre
universale Tragweite wird die Revolution den Menschen aufhelfen, nicht aber
durch ein schüchternes Zugeständnis an ihren Egoismus oder ihren lokalen
Konservatismus. Alles, was unseren Willen rechtfertigt, uns gegen die
herrschenden Sklaven aufzulehnen, interessiert ohne Unterschied der Hautfarbe
die Menschen auf der ganzen Erde.“
B/ Das klingt nicht
gerade nach O-Ton Breton.
A/ Nein. Damit sind
wir bei Georges Bataille.
B/ Und müssen eine
lange Klammer öffnen und nochmals in die Zeit der Zeitschrift Die
surrealistische Revolution zurückkehren. Genauer gesagt zunächst ins Jahr
1924. Denn da lernt der zu diesem Zeitpunkt als Archivar in der französischen
Nationalbibliothek verbeamtete Absolvent der Elitehochschule für
Urkundenforschung, l’École nationale des chartes, Georges Bataille, der noch
nichts veröffentlicht hat, also ein unbeschriebenes Blatt ist, Michel Leiris
kennen, der ihn wiederum in die surrealistische Gruppe aus der Rue Blomet um
den Maler André Masson einführt. Hier verkehren neben Leiris unter anderem Georges
Limbour, Roland Tual, Max Jacob, aber auch Antonin Artaud, Joan Miró oder Jean
Dubuffet. Und nicht zuletzt ein alter Freund von André Breton: Théodore
Fraenkel. Insbesondere Leiris, Masson und Fraenkel wird Bataille bald schon
freundschaftlich verbunden sein. Und mehr oder minder flüchtig begegnet er 1925
dann auch den Koryphäen der Bewegung, Breton und Aragon. 1926 kommt es sogar zu
einer Mitarbeit von Bataille an der 6. Ausgabe von Die Surrealistische
Revolution: Breton hatte Bataille über den Vermittler Leiris gebeten, „ein
oder zwei der signifikantesten Fatrasien aus dem Mittelalter ins moderne
Französisch zu übersetzen.“ Der Name des Übersetzers wird allerdings nicht in
der Zeitschrift genannt.
A/ Bataille selbst
schildert diese Zeit in seinem 1951 geschriebenen Text „Der Surrealismus tagein
tagaus“: „Ich persönlich war nichts, außer der Ort einer leeren Aufwallung. Ich
wollte nichts, ich konnte nichts. Es war da nichts in mir, was mir das Recht
hätte verleihen können, den Mund aufzumachen, und sei es auch nur flüsternd.
[...] Unversehens fand ich mich vor Leuten wieder, die im Tonfall der Autorität
sprachen [...]. Ich war schüchtern und viel zu sehr darauf bedacht, mich
unsichtbar zu machen, um mich mit diesen entrückten Wesen auseinandersetzen zu
können, die mir das Gefühl eines großartigen Lebens vermittelten, das doch nur
eine Laune war: Ich wusste, dass ich nicht die Kraft hatte, vor ihnen zu sein, was
ich war. Sie drohten, mich in dem Maße, wie ich sie liebte (bewunderte), zu
erdrücken, ja buchstäblich zu ersticken.“
B/ 1928
veröffentlicht der schüchterne Archivar unter Pseudonym dann Die Geschichte
des Auges. Das Pseudonym Lord Auch bedeutet so viel wie „Gott auf
dem Klo“.
A/ Nun ja,
Veröffentlichung ist vielleicht etwas zu viel gesagt. Es wurden 134 Exemplare
gedruckt, ohne Angabe eines Verlags; und sie wurden nur unter der Hand
verkauft. Eine erste Veröffentlichung im eigentlichen Sinn hat er dann aber
1928 doch vorzuweisen. Im eigentlichen Sinn will hier heißen: als Georges
Bataille, so wie er heute bekannt ist, im Sinne eines ersten öffentlichen
Zeugnisses seines Werks, seines Denkens, in der Fachzeitschrift Cahiers de
la République des Lettres, des Sciences et des Arts. Der Titel seines
Textes: „Das verschwundene Amerika“. Es geht im Wesentlichen um die
blutrünstigen Opferriten der Azteken und ihren „schwarzen Humor“.
B/ Zugleich hat er
aber 1928 auch schon einige Fachartikel über mongolische Münzen in einer
Zeitschrift für Archäologie namens Aréthuse (auf Deutsch Arethusa)
veröffentlicht.
A/ Die 1929
eingestellt und durch eine neue Zeitschrift ersetzt wird: Documents, deren
erste Ausgabe am 1. April 1929 erscheint.
B/ Wir können jetzt
aber nicht allzu ausführlich auf diese Zeitschrift eingehen. Die Michel Surya
als „Eselstritt gegen den Surrealismus“ bezeichnet hat.
A/ Nein. Aber wir
müssen doch kurz schildern, worum es dabei ging. Der Mäzen dieser Publikation,
Georges Wildenstein, war ein angesehener Kunsthändler und der Herausgeber eines
Hochglanzmagazins, La Gazette des Beaux-Arts. Die ehemaligen
Chefredakteure von Aréthuse hatten ihn von einem Projekt überzeugen
können, bei dem neben der Archäologie auch die Ethnologie in den Vordergrund
gerückt werden sollte.
B/ Und dazu hatten
sie Georges-Henri Rivière gewonnen, der seinerzeit der stellvertretende
Direktor des ethnografischen Museums in Paris war, dessen Nachfolger heute das Musée
du quai Branly ist. Rivière, mit dem Bataille zu diesem Zeitpunkt dank Michel Leiris
bereits bekannt war, erwirkte, dass Bataille, der junge talentierte
Wissenschaftler und Archivar, zum „Generalsekretär“ erkoren wurde und somit zusammen
mit dem namentlichen „Chefredakteur“, dem deutschen Schriftsteller Carl
Einstein, das Programm der neuen Zeitschrift bestimmen sollte.
A/ Wobei die
Ethnologie ein Thema ganz für sich wäre, das wir hier auch recht willkürlich
aussparen.
B/ Aber dann doch
wenigstens dies dazu sagen: Was in ethnologischer oder ethnografischer Hinsicht
in Documents erscheinen sollte, lässt sich auf ein doppeltes Tun
zusammenfassen: Erzeugnisse der europäischen „Hochkultur“ wurden wie
„völkerkundliche“ Objekte betrachtet. Und was herkömmlich als ein solches
Objekt betrachtet wurde, also insbesondere Erzeugnisse außereuropäischer
Kulturen, das wurde der Exotisierung entzogen.
A/ Jedenfalls
schlugen dank Bataille bald schon eine ganze Reihe von Surrealisten in den
Redaktionsräumen auf, die kurz zuvor bei Breton mehr oder weniger in Ungnade gefallen
waren, als Redaktionssekretär zunächst Georges Limbour, der später dann von
Michel Leiris abgelöst wurde, aber auch Jacques-André Boiffard, Roger Vitrac
oder Robert Desnos.
B/ Ein äußerst
seriöses wissenschaftliches Zeitschriftenprojekt, bei dem Akademie-Mitglieder,
Museums- und Bibliothekskonservatoren sowie Kunstgeschichtler im
Redaktionskomitee vertreten waren, wurde unterwandert.
A/ Und schon am 15.
April, also kurz nach Erscheinen der ersten Ausgabe, schreibt einer der
Initiatoren, Pierre Espézel, an Bataille: „Es ist erforderlich, sich auf den
Geist zu besinnen, der uns das erste Projekt dieser Zeitschrift hat ins Auge
fassen lassen, als wir mit Monsieur Wildenstein darüber sprachen, Sie und ich.“
B/ Allerdings lässt
sich Bataille, der „sture Bauer“, wie Leiris ihn hier und da nannte, nicht
beirren. Im Editorial zur ersten Ausgabe hieß es, gleichsam im Sinne einer
werbewirksamen Ankündigung einer erweiterten Ausrichtung im Vergleich zu Aréthuse:
„Die verstörendsten, noch nicht klassifizierten Kunstwerke und gewisse bislang
vernachlässigte uneinheitliche Schöpfungen werden zum Gegenstand von Studien,
die so streng und so wissenschaftlich sein werden wie die der Archäologen.“
A/ Doch wie Michel
Surya in seiner Bataille-Biografie (Georges Bataille, la mort à l’oeuvre,
1992) treffend schreibt: „Recht bald schon stand es gar nicht mehr zur Debatte,
dass man aus dem, was gegen die ‚Anstandsregeln‘ verstößt oder nicht dem guten
Geschmack entspricht, ein Anhängsel, eine Kuriosität, ein ‚Mehr‘ macht, auf das
die Zeitschrift im Unterschied zur Konkurrenz stolz sein konnte: Es wurde zum
Wesentlichen. Das Ungereimte, Uneinheitliche, ja Unheimliche wurde zum
Markenkern.“
B/ „Dokumente statt
Träume, [...] Wissenschaft statt Poesie oder gar ‚Literatur‘, materielle Kultur
statt autonomer Kunst, Ethnografie statt ‚primitiver Kunst‘, Gebrauchswerte
statt Ästhetik“, wie Irene Albers zusammenfasst (Der diskrete Charme der
Anthropologie. Michel Leiris‘ ethnologische Poetik, 2018). Geradezu ein
Wunder, dass der Mäzen Wildenstein es zwischen April 1929 und Januar 1931 zu
insgesamt fünfzehn Ausgaben kommen ließ, bevor er den Geldhahn abdrehte.
A/ In der Tat.
B/ Und was man da
insbesondere aus der Feder Batailles zu lesen bekam, dürfte Breton mit seinem
Hang zum Anmutigen und Charmanten kaum geschmeckt haben. Die Motive, die bei
ihm immer wieder auftauchen, wie Julien Gracq einmal betonte: „der Vogel, der
Farnzweig, der Kolibri, die Muschel, kurzum die Diamanten der Natur“ ... Hier
nun aber der große Zeh!
A/ Zitieren wir
Surya: „Der große Zeh (erschienen in Documents, Nr. 6, November
1929) ist eine rückhaltlose Parodie auf den poetischen Idealismus. Der gewählte
Gegenstand ist keine Blume, sondern nach gängiger Meinung der niedrigste von
allen, der unwürdigste. Unwürdig? Bataille protestiert vehement. Sein
Schicksal, in den Schmutz, in den Dreck gezogen zu werden, mit Hühneraugen,
Schwielen und Ballen geschlagen, dieses Schicksal ist das des Menschen, das man
fälschlicherweise als erhaben betrachtet. Während jenes sich an seiner Erektion
gen Sonne ergötzt, verschafft ihm der große Zeh in Schmutz und Dreck den
notwendigen Stand. Als solcher verweist der Zeh darauf, dass das Leben aus
einem Auf und Ab vom Schmutz zum Ideal und vom Ideal zum Schmutz besteht. Der
Fuß ist so niedrig, dass er, wie der Sturz (wenn der Fuß das Gleichgewicht
nicht halten kann), der Tod ist. Und weil er der Tod ist, ist er am
menschlichsten und am begehrenswertesten.“
B/ O-Ton Georges
Bataille: „Der Sinn dieses Artikels beruht auf dem Beharren, das Verführerische
unmittelbar und ausdrücklich infrage zu stellen, ohne die poetische Küche zu
beachten, die definitiv nichts anderes ist als eine Unterschlagung (die meisten
Menschen sind debil und können sich ihren Trieben nur im poetischen Zwielicht
überlassen). Eine Rückkehr zur Realität beinhaltet keinerlei erneute
Bewältigung, sondern bedeutet, dass man vom Niederen, Gemeinen verführt wird,
ohne Transposition und bis zum Schreien, mit weit aufgerissenen Augen beim
Anblick eines großen Zehs.“
A/ Halten wir also
fest, dass Documents binnen sechs Monaten zu einer regelrechten
„Kriegsmaschine“ gegen den Surrealismus wurde, wie Surya schreibt, und klar an
den Tag brachte, was der Surrealismus nicht war, was er unter der Ägide Bretons
nicht sein konnte.
B/ Unter der Ägide
des Wunderbaren, wie es im Ersten Surrealistischen Manifest heißt: „Sagen wir
es in aller Entschiedenheit: „Das Wunderbare ist immer schön. Ganz gleich
welches Wunderbare ist immer schön, nur das Wunderbare ist schön.“
A/ Kommentar Michel
Surya: „Das Wunderbare des Surrealismus verschleierte nur mühsam das Gemetzel
des Ersten Weltkriegs. Batailles ‚Bestialität‘ machte mehr Aufhebens um die
Verzweiflung und Abscheu, in die er eine ganze Generation getrieben hatte. Und
so scheußlich dieser Krieg auch gewesen war, versprach Bataille nicht, dass es
eine Welt ohne Krieg geben werde.“
B/ Es musste demnach
zum Konflikt kommen. Breton polemisiert im Zweiten Surrealistischen Manifest
dann wie schon gesagt lang und breit gegen Bataille.
A/ Der mit seinem
Beitrag zur Flugschrift „Ein Kadaver“ kräftig dagegenhält, wie wir ja ebenfalls
schon gesehen haben. Wobei er Jahre später, 1951 im Rückblick, sehr versöhnlich
klingt im Vergleich zur beleidigen Polemik aus dem Jahr 1929. „Ich gab
schließlich mein Schweigen auf“, schreibt Bataille 1951, „und nahm am horrenden
Spiel teil, wobei ich mich vor meiner Anmaßung ekelte, die ja nur darauf
beruhte, die Anmaßung eines anderen zurückzuweisen. Ich musste mich also
meinerseits aufplustern, immer mehr aufplustern, immer dämlicher, um einen
Schwulst zu geifern, aus dem ich hinausragte. Welch ungeheure Summe an moroser
Energie ich da wohl verausgabt habe, um eine Mischung aus Schweigen und
herausgebrüllter Dämlichkeit zu ertragen, der ich damals frönte!“
B/ Ja, nach dem
Zweiten Weltkrieg wird Bataille in zahlreichen Stellungnahmen zum Surrealismus
nuancierter. Bereits in einem Artikel vom Januar 1946 schreibt er: „Ich habe
mich bei jeder Gelegenheit dem Surrealismus widersetzt. Jetzt möchte ich ihn
aber von innen bejahen als Anforderung, die ich erlitten habe, und als
Unzufriedenheit, die ich bin. Aber daraus wird Folgendes klar ersichtlich: Der
Surrealismus wird bestimmt durch die Möglichkeit seines alten Feindes von
innen, der ich bin, ihn tatsächlich zu definieren. Er ist das wirklich
virile Bestreiten (ohne irgendetwas Versöhnliches, Göttliches) der anerkannten
Grenzen, ein rigoroser Wille zur Unbeugsamkeit.“
A/ Lass uns diese
Frage nach dem Versöhnlicheren in Batailles Auslassungen zum Surrealismus nach
1945 etwas zurückstellen. Denn wir sollten ja ohnehin nochmals auf etwas
zurückkommen, was man vielleicht die grundsätzlichen Differenzen zwischen
Bataille und dem Surrealismus nennen könnte und viel mit ihrer jeweiligen
Auffassung von Sprache zu tun hat, mit ihren jeweiligen, aber verschiedenen
Misologien.
B/ Misologie: Hass
auf die Sprache. Gegenteil von Philologie. Einverstanden. Oje, wir waren, weißt
du noch, eigentlich mitten aus dem intellektuellen Kampfbund Contre-Attaque zu
dieser unserer Abschweifung ausgeschert.
A/ Ja, ich erinnere
mich.
B/ Gut. Schweifen
wir dennoch vorerst weiter ab. Und halten zumindest kurz fest, worum es 1929,
neben der Polemik, in der Sache ging.
A/ Um den Marquis de
Sade.
B/ Die Ausnahmeerscheinung
für André Breton. Ich meine der Einzige, der für Breton über alle moralischen
Forderungen hinsichtlich einer ebensolchen „Haltung“ erhaben war, da der
Marquis wie niemand sonst sich von allen Dienstbarkeiten zu befreien
gesucht habe und aufgrund dieser Radikalität seiner subversiven Praxis auf
jedes Mittel zurückgreifen durfte, auch wenn dieses für jeden anderen eine
moralische Verurteilung nach sich gezogen hätte.
A/ Wenn man liest,
was Breton in der 11. Ausgabe der Surrealistischen Revolution in den
„Forschungen über Sexualität“ zum Besten gibt, kann man sich nur wundern, dass
er aus Sade seinen Säulenheiligen zu machen versucht. Und im Grunde reibt ihm
Bataille diese Verwunderung unter die Nase. „Es scheint heute üblich geworden
zu sein, Sades Schriften (und mit ihnen die Person ihres Verfassers) über alles
(über fast alles) zu stellen, was man ihnen entgegensetzen könnte: Aber es
kommt nicht infrage, ihnen den geringsten Platz sei es im privaten, sei es im
gesellschaftlichen Leben einzuräumen, weder in der Theorie noch in der Praxis.
[...] Er ist nur insoweit Gegenstand einer überfrachteten Begeisterung, als
dies seine Ausscheidung erleichtert.“
B/ Bataille reibt es
Breton unter die Nase? Ja und nein. Denn all das, was er wahrscheinlich zurzeit
dieser polemischen Auseinandersetzung zu Papier gebracht hat, blieb ja sozusagen
in Batailles Schublade und wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht.
A/ Stimmt. Und doch
zeichnet sich in diesen zu Lebzeiten Batailles nie veröffentlichten Texten so
etwas wie eine Politik der Ausscheidung ab. Oder der Verschwendung. Um
verständlich zu machen, worauf ich hinauswill, muss ich kurz auf den
Unterschied zu sprechen kommen, der Bataille zufolge zwischen der „libertinage“
besteht, für welche Sade einsteht, und der „débauche“, also der Zügellosigkeit
oder der rückhaltlosen Verausgabung, die Bataille dem Marquis entgegensetzt.
Michel Surya bringt das präzise auf den Punkt, wenn er schreibt: „Im
Unterschied zu Sade ist Bataille kein libertin, sondern ein débauché
[...]. Die Erotik, die Bataille ins Spiel bringt, besudelt, schadet und
ruiniert. Sie ist von vorneherein mit einer obsessiven Vorstellung vom Tod
verbunden. Er ruiniert: eine Erinnerung, eine Selbstgefälligkeit, einen Schwur,
die Möglichkeit von Schönheit oder Heil, eine Treue, eine Erziehung, eine
Moral, eine Frau, Gott ... Ganz gleich! Der libertin bezieht, der débauché
verprasst; Ersterer ist in einer Ökonomie der Anhäufung: von Lust und Besitz,
Letzterer in einer Ökonomie der Verschwendung, des Verlusts, der Verausgabung,
des Ruins.“ Ersterer ist aneignend, Letzterer verausgabt sich, indem er sich
dem aussetzt, was unter keinen Umständen angeeignet werden kann.
B/ Weshalb Bataille eine
Wissenschaft über das, was ganz anders ist, ins Auge gefasst hat, die er auf
den Namen Heterologie tauft. Dabei handelt es sich in letzter Instanz,
insofern das, was ganz anders ist, immer auch unwiderruflich abstoßend ist, um eine
Skatologie, die aber auch das Heilige mit einbezieht: Gott auf dem Klo.
A/ Und das ist in
gewisser Weise schon Politik. Gegen die libertinäre Logik von Aneignung und
Anhäufung eine Rückbesinnung auf das Niedere, sozusagen getreu nach Karl Marx:
„In der Geschichte wie in der Natur ist Fäulnis das Labor des Lebens.“
B/ Eine Politik, die
sich dezidiert gegen eine Präposition richtet: Gegen die Präposition „sur“.
Also kein Surréalisme, kein Überrealismus, sondern eher ein Sousréalisme,
ein „Unter-realismus“, und natürlich vor allem kein Schwelgen im Übermenschlichen.
A/ Programmatisch
schreibt Bataille (für seine Schublade): „Wenn man unter dem Namen
Materialismus eine derbe Emanzipation des in seinem moralischen System
eingekerkerten menschlichen Lebens verstünde, einen Rekurs auf alles
Schockierende, unmöglich zu Zerstörende, ja Abstoßende, auf alles, was den
Geist niederstreckt, auf Abwege bringt und lächerlich macht, wäre es möglich,
den Surrealismus als Kinderkrankheit dieses niederen Materialismus zu
definieren.“
B/ Gegen alle
surrealistischen Überideen, sei es der Geist oder das Denken, die Poesie, das
Absolute oder das Surreale, in deren Namen der im Dienst der Revolution
stehende Surrealismus die Welt, wie sie ist, verneint ...
A/ ... Bataille
würde sagen, dass er sich mehr von dieser Welt abkehrt, als sie verneint ...
B/ ... Gut, von ihr
also abkehrt, um allem Niederen in dieser Welt den hehren Mythos einer vermeintlich
souveränen Subversion entgegenzusetzen, um die „beiden scheinbar so
gegensätzlichen Zustände, welche der Traum und die Realität sind, zu einer Art
absoluter Realität“ aufzulösen.
A/ Und mithin auch
den Gegensatz zwischen Kunst und Leben, zwischen Poesie und Leben.
B/ Was eben nur mit
einer gehörigen Portion Misologie geht ...
A/ Die Breton und
Bataille gemeinsam war.
B/ Misologen waren
sie beide. Aber wohl nicht auf die gleiche Art und Weise ...
A/ Wenden wir uns
zunächst einer charakteristischen Stelle aus einer kurzen Sammelrezension zu,
die Bataille 1933 über drei kurz zuvor erschienene Bücher von Breton, Tzara und
Éluard geschrieben hat. Dort heißt es: „Tristan Tzaras Gedichte zeugen von
einer unbestrittenen Größe. Und wenn sie den Anschein erwecken, dem Leben fremd
zu sein, außerhalb desselben zu stehen, ist dieser Charakter der
Abgeschiedenheit, weit davon entfernt, an Ohnmacht zu gemahnen, zweifelsfrei
das Blendendste, das es auf der Welt gibt.
Der Ausdruck in den Grenzen der Poesie erreicht
so seinen äußersten Punkt. Doch zugleich erweist er sich als unfähig, den Lauf
irgendeiner Existenz zu verändern und den vom Surrealismus bekundeten
grundlegenden Bedürfnis zu entsprechen. Der Bruch mit dem Leben in seiner
Gesamtheit bleibt, so verführerisch er sein mag, nichts weiter als die
Vollendung der verarmenden Tendenzen der Poesie Mallarmés.“
B/ Was mit den
„verarmenden Tendenzen“ der Poesie Mallarmés gemeint ist, kann man aus einem
Brief entnehmen, den Mallarmé im Juni 1863 an Henri Cazalis schreibt. Dort
heißt es: „Die Dummheit eines modernen Dichters [gemeint ist Baudelaire in
seinem Gedicht „Die Verleugnung des Heiligen Petrus“] ging so weit, darüber
untröstlich zu sein, dass die Tat nicht des Traumes Schwester war. [...] Mein
Gott, wenn es anders wäre, wenn der Traum in dieser Weise entjungfert und
erniedrigt wäre, wohin sollten wir uns dann retten, wir Unglücklichen, die
sich vor der Erde ekeln und nur den Traum als Zuflucht haben.“
A/ Mallarmé hält
also zumindest in einer Hinsicht – und auf diese wollen wir uns hier
beschränken – am Gegensatz oder an der Differenz zwischen Traum einerseits und
Tat – oder Leben oder Wirklichkeit – andererseits fest. Für ihn braucht es ein
der Wirklichkeit als Negation, sei diese abstrakt oder bestimmt,
gegenüberstehendes Korrektiv.
B/ Während sowohl
Bataille als auch die Surrealisten diesen Widerspruch oder Gegensatz auflösen
möchten ...
A/ Zumindest ist
diese Auflösung das explizite Ziel der Surrealisten. Bataille hingegen stellt
zum einen eher beschreibend fest, also 1933, nach ungefähr zehn Jahren
Surrealismus, „dass der Surrealismus keinen anderen Sinn aufweisen kann als
den, die Erschöpfung, die Leere und die Verzweiflung, durch die das geistige
Leben der modernen Gesellschaften geprägt sind, auf die Spitze zu treiben. Er
wird jedenfalls sein Versprechen, aus dieser Existenz hinauszugelangen, nicht
einlösen können, da er nicht dazu fähig ist, eine Verbindung zwischen der
Poesie und dem Leben zu verwirklichen.“ Und zum anderen zielt er in allem, was
er je geschrieben hat, eigentlich immer darauf ab zu zeigen, dass eine solche
Verwirklichung unmöglich sein muss, so verführerisch der Gedanke daran auch
sein mag.
B/ Schreiben oder
leben. Malen oder leben ...
A/ Darauf lässt es
sich in der Tat hinunterbrechen. Solange wir schreiben oder malen, können wir
nur den reinen Augenblick oder die Unmittelbarkeit des Lebens verneinen. Der
Gegensatz oder Widerspruch bleibt unlösbar. „Alles, was wir vermögen“, schreibt
Bataille 1946 in einem Text über André Masson, „ist zu akzeptieren, dass er uns
bis zu den Grenzen der Spannung trägt. Nutzlos ist es, darauf zu hoffen, den
Verstand beseitigen zu können (ohne ihn bliebe nur Leere, Ohnmacht, Wahn – oder
aber das rein Ästhetische): Wir können daher nur im Unmöglichen verweilen.“
B/ Das könnte das
Fazit dessen sein, was er im selben Jahr in seinem Artikel „Der Surrealismus
und sein Unterschied zum Existenzialismus“ seine „ballistische Studie über
einen Schuss“ nennt. Der Surrealismus von Breton sei ein einziger Wutausbruch
gegen die Dienstbarkeit oder Unterwürfigkeit des Geistes. Bataille macht aus
Breton seinen Bruder im Geiste, wobei der Unterschied zwischen den Brüdern
darin bestehe, dass Ersterer sich über die Unmöglichkeit, mit einem Kugelschreiber
zu schießen, bewusst ist.
A/ Das ist in der
Tat die Position Batailles zum Surrealismus nach dem zweiten Weltkrieg.
B/ Er schreibt also
in dieser seiner ballistischen Studie: „Bretons Anliegen war der Schuss selbst.
Von der Tragweite seiner Entscheidung getroffen, war ihm weniger daran gelegen,
seine Motive zu erläutern, als der Gewalt seiner Gefühle zum Ausdruck zu verhelfen.
[...] Er folgte der Anforderung der Leidenschaft, nicht dem intellektuellen
Anstand. In seinen Schriften war die Darstellung des Gegenstands immer mit den
unterdrückten Wallungen des Zorns verbunden. [...] All das konnte kaum auf
Anhieb ‚klar und deutlich‘ sein. [...] Die Moral, an die sich André Breton
gehalten hat, ist ziemlich schlecht definiert. Aber es handelt sich, falls so
etwas möglich ist, um eine Moral des Augenblicks. Sie beruht im Wesentlichen
auf der erhobenen Forderung zu wählen zwischen dem Augenblick, dem Wert des
jetzigen Augenblicks – der freien Aktivität des Geistes – und der Sorge um die
Resultate, die sogleich den Wert und in gewissem Sinne sogar die Existenz des
Augenblicks aufhebt. [...] Die Freiheit ist keine Wahlfreiheit mehr, sondern
die Wahl ermöglicht eine Freiheit, die freie Aktivität, die verlangt, dass ich,
nachdem die Entscheidung einmal für sie gefallen ist, keine weitere Wahl mehr
zulasse, denn eine Wahl zwischen den verschiedenen Möglichkeiten der
entfesselten Aktivität würde im Hinblick auf spätere Resultate getroffen. Die
surrealistische Entscheidung besteht also darin, nicht mehr zu entscheiden.“
A/ Anders gesagt:
Vom automatischen Schreiben führt kein Weg zum Werk: „Eine freie Kunst“ ist ein
Widerspruch in sich. Frei ist nur, wer den Augenblick lebt, sich an ihn
verliert, „dans le fond des nuits“, wie Batailles Formel lautet, „in der Tiefe
der Nächte“.
B/ Und darum braucht
es für ihn eine Entscheidung ganz anderer Art, die eben auf dem Bewusstsein
beruht, dass der Widerspruch nicht zu lösen ist. Und diese Entscheidung lautet
im Grunde: Dass jede Kunst diesen Widerspruch reflektieren muss, wobei ihr
zwangsläufig klarwerden muss, dass sie immer nur die Komödie seiner Überwindung
spielen kann, dass sie bestenfalls einen Nachhall ihres eigenen Gelächters über
sich selbst als Kunst retten kann, wenn sie denn eine Form von Kommunikation
bleiben möchte, die, wie Bataille an anderer Stelle schreibt, „einzig
dazu fähig ist, uns auf die Ebene der Bedeutung gelangen zu lassen, ohne die
sich alles in der Äquivalenz verliert.“
A/ Wobei sich selbst
Bataille 1946 zu einem Blick in die Zukunft hinreißen lässt: „Die Bücher
stehen geordnet in den Regalen, die Gemälde schmücken die Wände. Daher kann ich
sagen, dass der große Surrealismus beginnt.“
B/ Alcheringa!
A/ Worte zu Firmennamen! Wie Walter Benjamin es gesagt hat: „Die Dichtung der Surrealisten behandelt die Worte wie
Firmennamen und ihre Texte sind im Grunde Prospekte von Unternehmungen, die
noch nicht etabliert sind.“
B/ Strenggenommen muss es aber bei den Firmennamen bleiben.
Die Moral des Augenblicks verlangt nach einer Zerschlagung der Syntax. Die
Worte dürfen im Grunde nicht mehr verkettet sein oder anders gesagt: Jedes Wort
als reiner Augenblick.
A/ Es muss sinnlich schillern und Bedeutungseffekte
suggerieren, aber ohne auf etwas anderes zu verweisen als auf dieses Schillern,
als auf sich selbst, ohne etablierte Referenz. Und die Poesie kann damit nur
die Praxis sein, die den Diskurs als Sinnverkettung auf dem Opfertisch zerlegt.
B/ Wobei diese Praxis, Gattungsnamen sozusagen zu Eigennamen
zu machen, kaum tauglich ist, die Schlagworte des Diskurses zum Beispiel im
Jahr 1935 oder 1936 zu erschlagen ...
A/ Du meinst, wir sollten diese lange Abschweifung zu Georges
Bataille nun schließen und uns lieber Vaterland und Familie zuwenden?
B/ Genau.
A/ Also gut. Ein
Flugblatt mit dem Titel „Contre-Attaque. Vaterland und Familie“ kündigt für den
5. Januar 1936 Vorträge von Bataille, Breton, Maurice Heine und Benjamin Péret
an. Gönnen wir uns den kompletten O-Ton?
B/ Gerne. „Ein
Mensch, der das Vaterland anerkennt, ein Mensch, der für die Familie kämpft,
ist ein Mensch, der Verrat begeht. Was er verrät, ist das, was für uns der
Grund ist, zu leben und zu kämpfen. Das Vaterland richtet sich zwischen dem
Menschen und den Reichtümern der Erde auf. Es verlangt, dass die Erzeugnisse
aus dem Schweiß der Menschen in Kanonen verwandelt werden. Es macht aus dem
Menschen einen Verräter an seinesgleichen. Die Familie ist das Fundament des
gesellschaftlichen Zwangs. Das Fehlen jeglicher Brüderlichkeit zwischen Vater
und Kind diente als Modell für alle auf der Autorität und der Verachtung der
Vorgesetzten für ihresgleichen beruhenden gesellschaftlichen Verhältnisse.
Vater, Vaterland und Vorgesetzte, so lautet die Trilogie, die der alten
patriarchalen Gesellschaft als Grundlage dient, und heute der faschistischen
Schweinerei. Die vor Angst verlorenen, einem Elend und einer Vernichtung, deren
Ursachen sie nicht begreifen können, ausgelieferten Menschen werden sich
einiges Tages erheben, in rasender Verzweiflung. Sie werden es vollbringen, die
alte patriarchale Trilogie zu zertrümmern: Sie werden die brüderliche
Gesellschaft der Gefährten in der Arbeit, die Gesellschaft der Kraft und der
menschlichen Solidarität begründen.“
A/ Contre-Attaque,
um es vielleicht auf den Punkt zu bringen, lehnte es ganz entschieden ab, im
Namen eines antifaschistischen Bündnisses gegen Hitler zu vergessen, dass der
deutsche Nationalsozialismus kein Bruch mit einer Kultur war, die über
Jahrhunderte versucht hatte, ihre inneren Widersprüche durch einen mörderischen
Kolonialismus und einen immer mehr entfesselten Kapitalismus zu kaschieren. Im
letzten Flugblatt dieses sehr kurzlebigen „Kampfbundes revolutionärer
Intellektueller“ vom März 1936 heißt es recht hellsichtig, als sähen sie
bereits den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 vorher: „Der Krieg zwischen den
imperialistischen Hunden rief Ekel hervor: Heute versuchen die Kommunisten ihn
mit einem Kreuzzug zu verschleiern. Über einer unterjochten Welt hissen sie die
Fahne eines antifaschistischen Kreuzzugs: Vorbote eines blutigen Schwindels
...“
B/ Und weiter, in
Großbuchstaben: „WIR HABEN NICHTS GEMEIN MIT DER INFANTILEN DEMENZ DES
DEUTSCHEN NATIONALISMUS, NICHTS GEMEIN MIT DER SENILEN DEMENZ DES FRANZÖSISCHEN
NATIONALISMUS.“
A/ Im selben Monat
beenden die Surrealisten das Projekt, natürlich mit einem Flugblatt:
„Die Mitglieder der
Gruppe „Contre-Attaque“ nehmen mit Genugtuung die Auflösung besagter Gruppe zur
Kenntnis, in der sich sogenannte „sur-faschistische“ Tendenzen gezeigt haben,
deren rein faschistischer Charakter immer deutlicher zum Vorschein gekommen ist.
[...] Und bei dieser Gelegenheit bekräftigen sie ihre unerschütterliche
Verbundenheit mit den revolutionären Traditionen der internationalen
Arbeiterbewegung.“
B/ Wobei der Begriff
des „sur-fachisme“ von Jean Dautry stammt, der zum erweiterten Umfeld von
Georges Bataille zählte, das heißt zum aufgelösten „cercle démocratique“ von
Boris Souvarine. Eine gewiss unglückliche Wortschöpfung, um eine Aufhebung oder
Überwindung des Faschismus zu bezeichnen.
A/ Michel Surya
kommentiert das in seiner Edition der Flugschriften von „Contre-Attaque“ wie
folgt: „Rein politisch betrachtet hat Breton nicht unrecht: Es ist gewiss nicht
mehr die Zeit, um nichts gemein zu haben. Es ist vielmehr sogar schon die Zeit,
sich auf das zurückzuziehen, was angesichts der ‚infantilen Demenz des
deutschen Nationalismus‘ noch bleibt, und sei es die ‚senile Demenz des
französischen Nationalismus‘. [...] Dann hätte man aber, zumal so kurz davor,
nichts unternehmen dürfen, was voraussetzte, beide Nationalismen in
strategischer Hinsicht auf einer Ebene zu verorten, auf der es dann geboten
sein musste, ihnen aus denselben Gründen eine populäre Begeisterung
entgegenzusetzen [...] (was ich als Batailles Sur-Antifaschismus bezeichne
[...]): Der Krieg ist zweifellos unvermeidlich, aber es wird ein Religionskrieg
werden. Und die offene Frage ist, welche Religion der nationalsozialistischen
entgegenzustellen ist.“
B/ Siehe Batailles Studie
von 1933, „Die psychologische Struktur des Faschismus“ ...
A/ Im Rückblick darf
man zumindest sagen, dass Batailles Hoffnung auf eine Umkehrung der Kräfte, auf
die libidinöse Konversion des Verlangens der Massen nach dem Faschismus in ein
Begehren nach der Revolution nicht aufgegangen ist.
B/ In der Tat. Doch
blicken wir wieder auf den Surrealismus: In all diesen Jahren einer dezidierten
„Politik des Surrealismus“ zieht er in anderer Hinsicht immer weitere Kreise.
Die internationalen Ausstellungen häufen sich, wobei sie immer weniger zum Skandal
und umso mehr zu einträglichen Erfolgen führen.
A/ Und Breton selbst
wird mehr und mehr zum Vortragsreisenden: Prag, Zürich, London, Kopenhagen,
Barcelona, New York, Buenos Aires. Und in Paris veranstalten die Surrealisten
1935 einen „systematischen Konferenzzyklus über die jüngsten Positionen des Surrealismus“.
Bei der Eröffnung dieser Vortragsreihe sagt Breton: „Der Surrealismus würde
sich in seinen Augen selbst verneinen, behauptete er, irgendein Problem
definitiv gelöst zu haben. Einzig durch den Einwand, der sein Aufkommen ist,
sein Werden, glauben wir, das uns entgegengebrachte Vertrauen zu stützen und zu
erneuern.“
B/ Siehe Editorial
zur ersten Ausgabe von Die surrealistische Revolution, 1. Dezember 1924:
„Der Surrealismus präsentiert sich nicht als die Darlegung einer Lehre.
Bestimmte Ideen, die ihm gerade Halt verschaffen, erlauben keineswegs, auf
seine weitere Entwicklung vorzugreifen. Diese erste Ausgabe von Die
Surrealistische Revolution spendet also keinerlei endgültige Erleuchtung.
Die zum Beispiel durch das automatische Schreiben, den Traumbericht erzielten
Ergebnisse werden vorgestellt, aber noch ist keinerlei auf Umfragen,
Erfahrungen oder Arbeiten basierendes Ergebnis vermerkt: Von der Zukunft bleibt
alles zu erwarten.“
A/ Hm, das könnte
man auf der Stelle treten nennen.
B/ Oder keinen
Schimmel ansetzen. Beziehungsweise, wenn es um Breton geht, den „Menschen aus
Stein“ (Julien Gracq), kein Moos.
A/ Wie geht es
weiter?
B/ Mit dem
spanischen Bürgerkrieg, dann mit dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere mit der
deutschen Besatzung Frankreichs. Man könnte die in Frankreich weilenden
Surrealisten beinahe in zwei Gruppen aufteilen: Diejenigen, die ins Exil gehen,
und diejenigen, die bleiben und sich mehr oder minder im Widerstand engagieren,
viele eher mehr und oft um den Preis ihres Lebens.
A/ Für Breton und
einige seiner Getreuen führt der Weg über Marseille nach New York und
Mexico-Stadt. Damit kommt es zu einer weiteren großen Welle der
Internationalisierung. Der Surrealismus erobert die Neue Welt.
B/ Breton, der im
Exil zum Radiosprecher für das von Voice of America auf Französisch
gesendete Programm wird, viele Reisen durch Nordamerika unternimmt, unter
anderem zu den Hopi-Indianern, und sich noch mehr den afro-karibischen
Weggefährten wie Aimé Césaire oder Wilfredo Lahm annähert ...
A/ ... ein Aspekt,
den wir insgesamt viel zu wenig, ja eigentlich gar nicht berücksichtigt haben:
die Faszination der Surrealisten für „außereuropäische Kulturen“ und
insbesondere die Bedeutung „afrikanischer Kunst“ für alle Erscheinungsformen
der künstlerischen Avant-Garden in der westlichen Welt vor Ausbruch des Zweiten
Weltkriegs ...
B/ Stimmt. – Breton
jedenfalls kehrt erst Ende Mai 1946 nach Paris zurück und ist auch dort sofort
wieder Feuer und Flamme. Und wird es im Dienst des Surrealismus bis zu seinem
Tod bleiben. 1960 gehört er zu den Unterzeichnern des „Manifests der 121“, das
Dionys Mascolo und Maurice Blanchot verfasst hatten und mit dem Satz endet:
„Die Sache des algerischen Volks, das in entscheidender Weise dazu beiträgt,
das koloniale System zu ruinieren, ist die Sache aller freien Menschen.“
A/ 1965, ein Jahr
vor seinem Tod, organisiert Breton die 9. Internationale Ausstellung des
Surrealismus in Paris. Titel „Absoluter Abstand“.
B/ Alcheringa,
Alcheringa! ... „Es geht also darum, auf absoluten Abstand zu
dieser Welt zu gehen, mehr noch als in der Vergangenheit, und zuallererst ganz
entschieden nutzlos im Funktionieren ihrer Maschinerie zu sein, bevor man mit
den Freuden der gesellschaftlichen Fahnenflucht und der kreativen Faulheit
stetig das Imaginäre und Irrationale erkundet, um eine andere Vernunft zu
bereichern, die, ohne sich davor zu fürchten, sich von den Schwingen des
Revolutionsmythos tragen zu lassen, uns zu verstehen gibt, dass das Reale alles
ist, was die Realität übersteigt.“
A/ Schließen wir mit
einem kurzen Auszug aus Bretons erstem öffentlichen Auftritt in Paris nach
seiner Rückkehr aus dem Exil. Wir schreiben den 7. Juni 1946 und befinden uns
im Pariser Théâtre Sarah Bernardt zu einer Ehrung Antonin Artauds, der kurz
zuvor aus der Psychiatrie in Rodez freigekommen war. Breton sagt in seiner
Hommage: „Gerade aufgrund der Ereignisse der letzten Jahre [...] scheint mir
jede Form von ‚Engagement‘ zur Belanglosigkeit verurteilt, die unterhalb dieses
dreifachen und unteilbaren Ziels verbleibt: die Welt verändern, das Leben
ändern, den menschlichen Verstand von Kopf bis Fuß erneuern. [...] Ich grüße in
Antonin Artaud die verzweifelte, heroische Negation all dessen, woran wir beim
Leben sterben.“
B/ Fazit?
A/ Für die
Surrealisten, schreibt Maurice Nadeau, muss die Poesie „die Seele sein, die zur
Seele spricht“.
B/ Tja. Siehe
Schiller. „Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht
mehr.“
A/ Tja, Schiller.
Sein Name findet sich auf einem surrealistischen Flugblatt vom Dezember 1931
mit dem Titel „Lesen Sie: Lesen Sie nicht:“ Lies: Es gibt auf diesem Flugblatt
zwei Listen: auf der einen stehen Autoren, die zu lesen sind, auf der anderen
Autoren, die nicht zu lesen sind. Und auf Letzterer steht „Schiller“ ...
B/ Also, Fazit?
A/ Hm. Moment. Auch
wenn wir hier eine Geschichte im Plauderton innerhalb außerhalb von Vater,
Vaterland, Vorgesetzten erzählt haben ...
B/ Gut. Ich weiß, worauf
du hinauswillst ... aber es war halt ein Männergesangsverein. Also jetzt bitte
kein Alibi ...
A/ Einfach nur ein
paar Namen ... ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, Willkürlichkeit oder
Unwillkürlichkeit ...
B/ Vollkommen
objektiv, pardon: Gabrielle Buffet
(*1881).
A/ Nicht weniger
objektiv: Valentine Hugo (*1887).
B/ Und Claude Cahun
(*1894 in der Geburtsstadt des Surrealismus, Nantes).
A/ Hm. Da müssen wir
dann schon noch sagen, dass sie sich ab 1930 spätestens weder als Frau noch als
Mann betrachtete und das auch von anderen für ihre Person so erwartete.
B/ Alice Rohan
(*1904 – das spricht für uns: der Name ihres ersten Ehemanns ist noch gar nicht
gefallen ...).
A/ Frida Kahlo
(*1907), die wohl berühmteste ...
B/ ... neben Dora Maar
(*1907).
A/ Jacqueline Lamba
(*1910).
B/ Louise Bourgeois
(*1911).
A/ Mittlerweile auch
schon sehr berühmt. Wie Meret Oppenheim (*1913).
B/ Oder
Unica Zürn (*1916), Nora
Mitrani (*1921), Judit Reigl (*1923)
oder, vielleicht heutzutage berühmter als alle anderen, Kahlo ausgenommen,
Joyce Mansour (*1928).
A/ Und warum geben
wir jetzt für die Frauen immer das Geburtsdatum an?
B/ Kein Kommentar.
A/ Gut. Also
nochmal: Fazit?
B/ Wir wollen doch
jetzt am Schluss nicht mit der Fiktion unserer Unpersönlichkeit brechen ... Stattdessen
schlage ich vor, dass wir uns einen O-Ton gönnen, wie er 1967 noch möglich war,
ein Fazit sozusagen zur „Avantgarde“ im 20. Jahrhundert, was immer dies auch
heißen mag.
A/ Einverstanden.
B/ Straßburg im März
1967. Unter dem Titel „Für eine Kritik der Avantgarde“ veröffentlichen Théo
Frey, Jean Garnault, Herbert Holl und Edith Frey ein kurzes Traktat, das in
gewisser Weise die Selbstauflösung der Situationistischen Internationale
einläuten sollte. Darin heißt es: „Alle Avantgarden sind abhängig von der alten
Welt, deren Niedergang sie mit ihrer eigenen illusorischen Jugend verhüllen.
Eine der Bedingungen, dass die neue Theorie und die neue revolutionäre Praxis
vorankommen, ist eine radikale Kritik der Avantgarde als ultimative Verkleidung
der neotheologischen alten Welt der Ware in ihren ständigen Versuchen, unter
dem Anschein von Veränderung mit sich identisch zu bleiben. Der verworrene Ausdruck
Avantgarde ist kein Begriff, außer im Militärischen und somit im Politischen.
Der ökonomische und gesellschaftliche Zusammenhang, in dem ein solcher Ausdruck
aufkommen und sich verbreiten kann, ist hingegen vollkommen klar: die
herrschende Welt, die zu immer mehr Schnitten, Trennungen und Ungleichheiten in
der globalen Entwicklung führt – und somit auch zu Verspätungen in allen
Bereichen. Theorie und Praxis der Avantgarden erlauben es, diese harte moderne Wirklichkeit
magisch zu fliehen. Es gilt aber, sich entschlossen in ihr zu befinden, natürlich
nicht, um sie zu billigen und sich in ihr zu gefallen, sondern um sie radikal
zu bekämpfen. Als verzweifelter Versuch, sich mit der Welt zu vereinen in einer
Welt, in der dies radikal unmöglich ist, kann die Avantgarde nur eine falsche Wirklichkeit
sein und muss Theorie als Mystizimus betreiben, um das Fehlen einer globalen Protestbewegung
besser zu ertragen.“
A/ Das könnte man
heute wohl eine unzeitgemäße Betrachtung nennen. Ich versuche mal ein anderes
Fazit. Was ist Surrealismus? Antwort? Siehe Die Surrealistische Revolution,
Nr. 7, S. 6. Ich zitiere: „Genau dann, da sind wir uns immer noch genauso
sicher, wenn der Zug zur angekündigten Stunde eintrifft, [...] wird sich das
Buch, dessen Einband wir solange versunken betrachtet haben, an der
vorherbestimmten Stelle öffnen.“
B/ Worauf willst Du
hinaus?
A/ Surrealismus
heißt auf den Zug warten. Mit Bahnhofsliteratur.
B/ Du meinst, sie
lesen die Fahrpläne, die sind ungenauer?
A/ Na ja, sie
kannten ja die Deutsche Bahn nicht.
B/ Ist das jetzt
idiotisch genug als Schlusswort?
A/ Vielleicht.