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Tim Trzaskalik: « ... so etwas wie Zeigewut »

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Tim Trzaskalik

« ... so etwas wie Zeigewut »
 
Zu Sebastian Unger, Die Tiere wissen noch nicht Bescheid

 
Oh, würde ich nur einen Menschen kennen, der
die Sprache vergisst, damit ich mit ihm reden
könnte! (Zhuangzi)

Dem Leser erteilt Sebastian Unger nur einen einzigen ausdrücklichen Hinweis, und das sofort zu Beginn, in dem gleichnamigen Eingangsgedicht „Einziger Hinweis“ (5). Und da würfelt er gleich munter alles zusammen, durcheinander. Berge werden „heimlich“ und zudem noch als „Wind“ definiert. Und nicht nur, dass sie heimlich sind und Wind, sondern sie sind auch wie der Wind unsichtbar. Beziehungsweise sind sie – wie Wind, als Wind – sichtbar nur im Einwirken auf das, was sie nicht sind. An sich selbst also unsichtbar wie überhaupt anscheinend alles in diesen Gedichten, an diesen Gedichten – und unsichtbar also sogar im Prinzip noch das, was da steht, was einzig sichtbar ist, das heißt

sichtbar nur, das Mitzubergestehn der Haare
als einziger Hinweis
das Mitzubergestehn der Haare, wo sonst nichts ist (5)      

Nichts Stoffliches, nichts Materielles, und auch nichts Mentales, aber das scheint gehüpft wie gesprungen zu sein, „nicht mal Bäume, nicht mal Mitleid“, und vielleicht, wer weiß, nicht einmal ein Unterschied zwischen diesen Bergen aus Wind und Heimlichkeit und dem Berg im Mitzubergestehn der Haare ... Mit anderen Worten: Von der uns gewohnten Ordnung der Dinge bleibt da nicht viel übrig. Sie scheint in Einzelteile zerlegt, die das Gedicht kaum neu oder anders zusammenfügt. Als ob alles Wirkliche von diesen Versen getilgt würde, um auf dem Papier eine kaum wiederzuerkennende, eine allem schon Dagewesenen ganz unähnliche, eine kaum wieder zusammengesetzte Gestalt anzunehmen...

Und schon geht es los mit den „falschen Sachen“(7). Auftritt Borametz, versetzt in eine Art Agrarwüste. Und von goldenem Fell keine Spur mehr. Auf den Kopf gestellt – oder vielleicht eher gesteigert, dramatisiert – die Fabel vom pflanzlichen Lamm, das verhungern muss, sobald es die Weide um seinen Stengel herum kahlgefressen hat: Hier schließt es seine Rede mit:

so wuchs ich von der Weide weg, indem ich fraß (9)

In der Menschenwüste, zwischen „Mais“- und „Kornfeld“, „Überlandleitung“ und „Autobahn“, gilt vom Schicksal der Tiere, wie Borametz in seiner Rede dreimal wiederholt: „das muss ein Ende haben“. Was dereinst, in den Fabeln vom skytischen Lamm ein Verhungern war, wird zum „Wegwachsen“: Erlösung durch den Tod. In einem Vers, der so einsilbig ist, wie das Lamm sich schließlich erweisen wird:

so wuchs ich von der Weide weg, indem ich fraß

Ein Wort des französischen Dichters und Notierers Georges Perros kann einem in den Sinn kommen, wenn man liest, wie die Tiere in Ungers Buch wohnen: „Mit einem geliebten Wesen leben, das tot ist. Das ist es, was das Gedicht mit den Wörtern macht.“

Wie die „Weide“ hier, im Grunde der einzige Zweisilber im Vers, wäre der Vers ein Alexandriner (es ist einer, Unger hat vor allem in Schlussversen einen Hang zu ihm), von der Zäsur zerfressen oder zerteilt wird, zerlegen Ungers Gedichte allerlei auf einer Art sprachlichem Seziertisch. Und dieser Tisch ist, wiederum alexandrinisch, „der Tisch in unentzifferbarer Symmetrie“(11). Auf ihm, dem Tisch und dem aufgetischten Gedicht in eins, finden sich Bausteine zu Beschreibungen einer verkehrten Welt, von der man gerade im Hinblick auf Ungers „Zerreißproben aus Holz“ vielleicht sagen könnte: In ihr hat die Unterscheidung zwischen den Schrecken des Waldes, die auf dem Papier stehen können, und dem intrinsischen Holz der Bäume, das dort nicht stehen kann, ihren Sinn verloren, als wäre alles schon transponiert in eine Art handgreiflicher Abstraktion, wo unaufhörlich eines ins andere übergeht, wir in den Wind, der Wind ins Holz, das Gesagte ins Sagen, und all dies irgendwie Phänomenale in eine „einzige Aufzeichnungslücke“:

solls der Wind antreiben, was wir sagen
wie nun Wind und Holz aneinanderstehn
das Wellengesetz
zwischen den Worten, eine Fügung
dass sich Wasser kämmen und pflegen lässt
in einer einzigen Aufzeichnungslücke
das erst von den Wellen zuendegezeichnete Bild
das uns später trennt
wenn wir längst außer Sichtweite sind. (19)                   

Vielleicht könnte man sagen, dass in Ungers Gedichten beschrieben wird, nein vielleicht eher verdreht, verkehrt oder beinahe stockend und jedenfalls verstörend vorgeführt oder nachvollzogen wird, wie wir durch die Worte für uns die Dinge hervorbringen. Wie wir nur durch die Worte zu Dingen gelangen können, nur durch sie zu einer Welt, zu unserer Welt, die wir mit der Wirklichkeit verwechseln. Und vielleicht wird das ganz besonders deutlich in dem Gedicht „Die Rede von den Dingen“ (28).

Die Rede von Dingen
Das Schlittern von Glas auf der Theke
wo es ums rechtzeitige Anhalten geht
dialogisch
die Skier treiben schon von widerspenstiger Natur
ihren Zweizeiler vor sich her, Sprecheifer
aber steigerbar
als anhaltende Aufzeichnung : die Kerbe im Eis
wo das selbstfortgeführte Gespräch von Gegenständen
mit einem Komma endet
die Kommasetzung mit angewinkelten Knien
wo er versank
um im anderen Medium fortzufahren (28)
                         
Der Sinologe Jean François Billeter hat unser Hervorbringen der Dinge durch Worte als eine Aktivitätsform unseres Körpers beschrieben. In seinem Buch Ein Paradigma erläutert er:

Wenn sich das Wort mit einem Sinn – mit einer imaginären Synthese – verbunden hat, wie erzeugt es das Ding? Kraft eines Mechanismus – ich möchte ihn Objektivierung nennen – den man immer und überall da beobachten kann, wo es Sprache gibt, der uns aber selten bewusst wird. Mit Objektivierung bezeichne ich den unwillkürlichen Vorgang, durch den wir die imaginäre Synthese, die wir mit einem Wort verkoppeln, in unserer Vorstellung zu einem Ding an sich machen und glauben, dass dieses Ding objektiv so sei, wie wir es uns einbilden. [...] Wenn die sinnlichen Eindrücke ungefähr mit den Elementen meiner Synthese übereinstimmen, verschmelzen sie mit ihr. Ich bin nicht mehr imstande, das wahrgenommene Ding, das eingebildete Ding und das Wort, mit dem ich das Ding nenne, auseinanderzuhalten, sodass es den Anschein hat, als existiere es für sich. [...] Es ist diese komplexe Alchemie, welche die »Dinge« hervorbringt. » (Ein Paradigma, Matthes & Seitz Berlin, 2018, S. 24 f.)

Könnte man sagen, dass Unger in seinem Gedicht diese Alchemie in gewisser Weise offenlegt? Und die Dinge gleichsam in die Sprache zurückholt? Und somit, wie beiläufig auch immer – „mit angewinkelten Knien“ – in den Körper, der in den kaum angedeuteten Gesten, wie sie in seiner Aktivität ausgeführt werden (ein Glas über die Theke, Skier ihren Zweizeiler durch den Schnee schlittern zu lassen), auf eine Wirklichkeit einwirkt, die von der Welt der von den Worten hervorgebrachten Dinge verschieden ist? Und das Gedicht als Gedicht genau diesen Unterschied aufhebt, indem es sich als eine Kraft des Falschen behauptet? Als „anhaltende Aufzeichnung“, die auf das „rechtzeitige Anhalten“ zurückkommt, „um im anderen“, das heißt in seinem eigenen „Medium fortzufahren“? Als ob das Gedicht einen Körper hätte, in den die Dinge zurückmüssen, um dann wieder anders oder neu herauszukommen. Vor allem aber: als ob es all das, was das Gedicht in sich aufnimmt, gleichsam nie gegeben hätte. Oder anders gesagt: als ob der Schrecken der Wälder wie auch das intrinsische Holz der Bäume nur noch insofern existieren, als das Gedicht mit ihnen seine einzig im Buch existierende Welt erschafft.

Ich stelle diese Fragen, da ich ganz und gar nicht ausschließen kann, eine Art auf dem Kopf gehendes Reh zu sein, also nicht das aus Ungers Gedicht „Felder“ (29), aber wie es „ohne ein Ende zu finden / mitten im Satz“ (29) stehend. Und ich weiß nicht einmal, ob ich „überorientiert“ (29) wie dieses Reh bin oder womöglich eher „unterorientiert“. Jedenfalls weiß ich wie „es nichts zu sagen“ (29), ich weiß nur, mich all dies zu fragen...

Beschreiben diese Gedichte somit nicht auch einen Widerstand, begehen sie somit nicht auch Widerstand gegen etwas, wovon im Gedicht „Lenz (aufgelöst wandern)“ die Rede ist? Wenn denn in diesen Gedichten überhaupt von „etwas“ die Rede sein kann, wovon vielleicht eben gerade gar keine Rede sein kann, genauso wenig wie es in ihnen Themen geben kann, allein schon deshalb nicht, weil jedes „etwas“ und jedes „Thema“ schon da sein muss, wenn es als solches bezeichnet werden kann, in diesen Gedichten aber alles erst durch sie selbst da ist, von ihnen hervorgebracht wird, alles erst von ihren Verswellen zuendegezeichnet wird. Beharrt das Gedicht „Lenz (aufgelöst wandern)“ nicht gerade auf diesem Anrecht des Gedichts, als könnte es noch den elementarsten Sprechakt wie das schlichte „Guten Tag“ vollkommen leeren und runderneuern, bzw. an allem, was es in ihm an „etwas“ oder an „Themen“ gibt, ersticken wie an einem „Kloß im Hals“:

Wie er flüchtig ein Gespräch von Bauern
über die ordnungsgemäße Benutzung des Pflugs hört
sagt er Guten Tag und enthält darin
ohrenbetäubend
die schon zurückgelegte Strecke
die Sprechzeit –
die Reihe für Reihe mit immenser Zitierkraft
zurückgreift
auf das, was wie von allein wächst daraus
die Kartoffel, der Kloß im Hals
[...] (42)                     

Sind Ungers Gedichte also, um die Frage endlich als solche zu stellen, nicht eine Art Widerstand gegen die immense Zitierkraft der Sprache? Und könnte man sagen, dass in Ungers Gedichten der Pflug unordnungsgemäß benutzt wird, er den Pflug gewissermaßen vor den Ochsen spannt? Vielleicht. Aber man müsste dann wohl hinzusetzen, dass er dabei den Dichter zum Ochsen macht, der dem Pflug nachfolgend Reihe für Reihe in Augenschein nimmt, um zu sehen, was da so am Wegwachsen ist, gleichsam im Hinblick auf ein neues Auslesen oder Auflesen. Und was ich damit andeuten möchte, ist Folgendes: Trotz aller Selbsthervorbringung und Abdichtung genügt der alter Trick nicht, den Unger sich verbietet, bzw. den er Lenz bei Oberlin sich verbieten lässt:

Mein alter Trick ist hier verboten:

nach so viel Training
zur Abkühlung sich in Wasserschall zu betten
und sich zu wünschen nichts zu hören
bis man gefunden wird

(sie sagen
für solche Untergänge sei der Mensch nicht dicht
genug
er müsse schwimmen)  (41)                       

Kann man das auf die „Aufzeichnungslücken“ zurückbeziehen? Dem Gedicht also ist der Trick mit dem Brunnentrog, in den Lenz bei Oberlin immer wieder abtaucht, versagt. Es muss schwimmen. Es mag dicht sein, es mag sich abdichten in seinen falschen Sachen. Doch wird es nie dicht genug sein, um im Versinken, im Untergang nicht zu ertrinken. Es wird immer zu porös sein, um ganz in seinem Element wie ein Fisch im Wasser zu sein. Es wird sich immer über Wasser halten müssen. Es wird in sich selbst immer eine Differenz bewahren und ertragen, tragen müssen. Oder mit anderen Worten: Es ist auf das lückenhafte Aufzeichnen angewiesen. Es kann sich nicht der Notwendigkeit des Hörens entheben. So sehr es sich aller Zitierkraft widersetzt, kann es sich der Notwendigkeit der Wiederaufnahme nicht entheben. Der Aufmerksamkeit für allen „Wildwuchs, direkt nebenan“, so der Titel des letzten Gedichts in Ungers Buch.

Mit anderen Worten: Unger erteilt dem eine Absage, was man im Hinblick auf sein Gedicht „Satzbau, Wohnform“ die Poetik des Holzwurms nennen könnte:

zum Auslesen steckt er einfach zu tief
in der eigenen Speise, alles Sätze
die durch Leiserwerden enden, die Röhre
die es schluckt, im Kauen bebaubar, der Hauskau (27)       

Geht es in Ungers Gedichten damit in letzter Instanz um die Distanz zur eigenen Speise? Um ein Stocken der Objektivierung im Sinne Billeters? So wie der letzte Vers, mit dem Unger einmal mehr alexandrinisch auf die Pauke haut, wahrlich kein Satz ist, der durch Leiserwerden endet. Könnte man sagen, dass diese Gedichte ihr eigenes Drama des Ausdrucks vorführen: dass sie in einer absoluten Objektivierung, gegen alle ihnen vorausgehende Zitierkraft, auf eine „Gestaltgebung“ aus sind, die auf dem „Aufbäumen“ ihres „Körpers“ beruht, das sich am Ende aber als ein „Anlehnen“ entpuppt:

Wind rein plastisch, die Gestalt aus den Bäumen
Gestalt ohne Wind, ohne Baum
Gestaltgebung, eben, wäre das Aufbäumen des Körpers
am Ende ein Anlehnen, gen
und Richtung sogar! (58)           

Und dass sie in „etwas wie Zeigewut“ (57) ständig eben darauf hinweisen? Als träumten sie den Traum, etwas Nichthergestelltes herzustellen.

Und damit komme ich schließlich zu einer gegenläufigen Bewegung, wie sie in diesen Gedichten zu verzeichnen ist. Denn so sehr sie alles, was schon da ist, gleichsam tilgen oder zumindest zerlegen, um es anders neuzugestalten, so sehr scheinen sie auch – ganz im Gegenteil – von dem, was da ist, geschrieben zu werden, womit sie sich selbst gleichsam ihrem Hergestelltsein entziehen: als wären sie es selbst, die von der Weide wegwachsen, indem sie gleichsam „naturwüchsig“ (17) aus den Dingen hervorgehen. So kann es dann „belesene Stellen im Wasser“ geben und „heißes Licht“ zum „heißenden“ (32) werden, oder alle Vögel – ja, sie spielen im Buch eine der Hauptrollen – zu Sprechakten werden. Womit dann Sebastian Ungers Gedichte Vogelerzeugnisse sind. Wie auch das in ihnen sprechende und doch sich fast nie zeigende Ich ein solches Erzeugnis ist. Und in dem Maße, in dem es dies ist, Nichthergestelltes herzustellen träumen kann.

Sebastian Unger: Die Tiere wissen noch nicht Bescheid. Berlin (Matthes & Seitz) 2018. 88 Seiten. 20,00 Euro.
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