Thorsten Krämer: The Democratic Forest
Mario Osterland
Ein Wald voller Fotos
Thorsten Krämer dichtet nach Fotos von William Eggleston
„Überhaupt, was ist ein 'Demokratischer Wald'?“, fragt Stefan Schmitzer in seiner Besprechung von Thorsten Krämers The Democratic Forest. Der demokratische Wald, möchte ich antworten, ist in jedem Fall eine Metapher. Da leg ich mich fest. Und da kommen wir sicher schnell überein. Nur dass ich diese Metapher anders als mit einem Märchenwald deute. Der demokratische Wald, so scheint mir, ist zweierlei. Zum einem steht er für den Versuch eines Ordnungssystems, bestehend aus Bäumen, die wiederum für etwas stehen. Indem sie sich an einem Punkt häufen, verdichten, wuchern, verkomplizieren sie das System und führen es schließlich ad absurdum. Das führt zum anderen dazu, dass der demokratische Wald ein Paradox ist, ein Labyrinth aus möglichen Wegen, die sämtlich nirgendwohin führen als immer nur im Kreis. Seine Bäume sind „vertikale Grenzen“. Zwischen ihnen scheint Licht hindurch, scheint es Raum zu geben. Dabei bilden sie hohe Mauern und enge Gassen.
The Democratic Forest ist außerdem der Titel einer umfangreichen Arbeit des Fotografen William Eggleston. Eggleston gilt als Wegbereiter der künstlerischen Farbfotografie. In der Tradition von Edward Hopper oder Walker Evans geben seine Aufnahmen in meist minimalistischem Stil Alltagsszenen aus den USA wieder und tragen so zum Motivkanon klassischer „Americana“ bei. In den 1980er Jahren entstanden für das Projekt The Democratic Forest ca. 12.000 Bilder, die 1988 erstmals in einer Auswahl von 150 Fotos erschienen.¹ Sicher war diese erste Auswahl auch ein Versuch, in dem riesigen Korpus für Ordnung und Orientierung zu sorgen.
Der Kölner Autor Thorsten Krämer hat mit seinem gleichnamigen Gedichtband versucht, eine Art „Nachbau“ des 1988 erschienenen Fotobandes zu schaffen.² In seinem Vorwort erklärt er: „In meinen Gedichten zu ausgewählten Fotografien aus The Democratic Forest versuche ich, in Eggleston einen reisenden Stellvertreter, oder besser: einen stellvertretenden Reisenden zu sehen. Ich mache die Orte seiner Fotografien zu Orten meiner Gedichte.“ Dabei nimmt er sich die Freiheit, Bildausschnitte zu verändern, „auf ein anderes Licht“ zu warten „oder selbst in das Geschehen“ einzugreifen. Daher seien seine Gedichte „mehr als bloße Bildbeschreibungen“, scheint sich der Autor absichern zu wollen. Ich würde sagen, sie sind überhaupt keine Bildbeschreibungen. Zumindest keine, die der Leser direkt auf Egglestons Fotos beziehen kann, denn diese sind in Krämers Gedichtband nicht mit abgedruckt. Daraus ergibt sich von vorn herein eine Offenheit, die gleichermaßen Loslösung vom Vorbild und Orientierungslosigkeit für den Leser bedeuten kann.
Wenn hier etwa mehrere Gedichte Dallas, Miami oder Pittsburgh heißen, wenn ein Großteil schlicht Untitled ist, welche Rolle spielen dann noch die konkreten Fotovorlagen? Lässt sich ein direkter Zusammenhang überhaupt noch herstellen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass hier neben einem Pool an Fotos ein zweiter Pool mit Texten gefüllt wird? So entstehen zwei Kontingente, die nicht mehr vordergründig von ihrer Bild-Text-Beziehung zusammengehalten werden, sondern vielmehr von der Frage: Lässt sich Wirklichkeit ab- bzw. nachbilden?³
Im Gedicht thematisiert es Krämer z.B. so:
Adlerauge vs. Weichzeichner, die assemblierende Landschaft
beruht auf Mischtechniken: nach hinten raus gerissene
Papierstreifen vom Bastelblock, im Vordergrund Foto-
Realismus. Jeder Baum ein Déjà-vu, die Vögel dort zwei
Flecken auf dem Objektiv. Ein Katalog von möglichen
Perspektiven blättert sich auf, das Alleinstellungsmerkmal
bist du.
CADE'S COVE, GREAT SMOKY MOUNTAINS
Ein Alleinstellungsmerkmal aber besitzt ein großer Teil der Gedichte in The Democratic Forest leider nicht. Was sich z.B. im folgenden Gedicht (nicht) ereignet, ist leider repräsentativ für viele andere Gedichte des Bandes.
Sessel mit Ausblick: auf Bücher,
Bilder auf der Heizung, eben
ausgepackt. Der Koffer
obenauf noch, griffbereit, doch
schon Staffage: Von hier aus
geht es nirgendwo mehr hin
MEMPHIS
Der Bildausschnitt gibt gerade so viel Material an die Hand, dass ich als Leser das Szenario nachbilden kann. Ein Interesse zu entwickeln, was sich da nun abspielen könnte, im Gedicht, im Foto und darüber hinaus, fällt schwer. Unbestritten bleibt die Funktion eines solchen Gedichts für das Gesamtkonzept des Bandes, trägt es doch wie viele andere dazu bei, eine Gesamtatmosphäre zu erzeugen, die nicht selten an die unterschwellige Melancholie eines Edward Hopper erinnert. Den Wert des Gedichts als aus dem Zusammenhang des Konzepts gerissener Einzeltext lässt sich hingegen relativ leicht infrage stellen.⁴ Eggleston kann es, und Krämer offensichtlich auch. Mir hingegen fällt es oft schwer, das Besondere im Alltäglichen zu sehen.
Das heißt jedoch nicht, dass es in The Democratic Forest keine Gedichte gibt, die als Einzeltexte herausstechen. Wie etwa das folgende, das die alte Trennung von Mensch und Natur aushebelt, in dem es die Grenzziehung von innen und außen mit wenigen Worten relativiert. Ein Umstand, der für die Gesamtbewertung des demokratischen Waldes wiederum interessant ist.
Draußen ist freundlich klingt es aus den Kopfhörern
in meinem Kopf hinein. Auch in diesem Zimmer hier ist
alles von draußen: das Holz der Dielen, die Wolle in den
Teppichen und dieses vertrocknete Blatt, dessen Art ich
nicht zu bestimmen weiß.
Was ich auch nicht weiß, ist
wie es weitergeht.
PARIS, KENTUCKY
Zudem finden sich immer wieder Gedichte, die als kleine suspense-Szenen zu Mini-Thrillern im Kopf anregen und, wie in diesem Fall, zugleich die Frage nach persönlicher und allgemeiner Grenzziehung aufwerfen.
Privacy first: Was hinter dieser Tür sich
abspielt, kann nur Gegenstand von Hypothesen sein.
Wer aber schützt die Tür vor allzu forschendem
Blick? Die Oberflächen können sich nicht wehren.
Die aufgelegten Fingerkuppen: eine sanfte Invasion.
Nur eine Armlänge von hier beginnen die umstrittenen Gebiete.
NEW ORLEANS
Leider gibt es auch in den stärkeren und stärksten Gedichten des Bandes immer wieder sprachliche Kleinigkeiten zu bemängeln. Allen voran die oft willkürlich wirkenden Zeilenumbrüche, die eine gewissen Gleichgültigkeit gegenüber dem Vers vermuten lassen. Mag sein, dass das dem mitunter sehr prosaischen Stil Krämers geschuldet ist, der hin und wieder auch Formulierungen zulässt, die der sonst minimalistischen Gestaltung der Texte entgegen stehen. So bohren sich in einem Text Zapfen „durchs Holz wie/ Bajonette durch den Feind“ und ich frage mich, ob im Bajonett der Feind nicht schon genauso mit genannt ist, wie der Kopf im Kopfhörer.
Insgesamt ist Thorsten Krämers The Democratic Forest eine Herausforderung für den Leser. Ein bisschen so wie abstrakte Malerei. Scheinbar simpel gestaltete Oberflächen werden von einer komplexen, theoretischen Konstruktion getragen. Genauso wie für Krämer selbst wird auch für den Leser der zweite Blick entscheidend sein. Dann gibt es im demokratischen Wald einiges zu entdecken – vielleicht sogar einen Ausweg.
¹ Eine stark erweiterte Ausgabe der Fotos erschien 2015 im Steidl Verlag.
² Eine interessante Parallele ist dabei, dass auch Krämer zunächst nur eine Auswahl aus The Democratic Forest publizierte. Erschienen 2008 in der parasitenpresse, Köln. // Details zum formalen Aufbau des Bandes kann man in Meinolf Reuls ausführlicher Besprechung nachlesen: http://signaturen-magazin.de/thorsten-kraemer--the-democratic-forest.html
³ Bzw. im Falle von Krämers Gedichten: Wie lässt sich die einmal abgebildete Wirklichkeit nachbilden?
⁴ Womit sich ein weiteres Problemfeld in Konzeptbänden wie dem vorliegenden ergibt, nämlich das der Teil-Ganzes-Beziehungen. Wenn Eggleston 12.000 Fotos aufnimmt (und Krämer Teile davon nachdichtet), will er dann eine Wirklichkeit als möglichst Ganzes abbilden? Und ist dieses Ganze dann Summe seiner Teile? Oder ist die Summe der Teile einfach nur ein Haufen Teile, der in maximal losen Verknüpfungen etwas Ganzes sein kann?
Thorsten Krämer: The Democratic Forest. Gedichte. Berlin (Brueterich Press, BP 008) 2016. 160 S. 20,00 Euro.