Thorsten Krämer: Schwankungen der Füllhöhe
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Timo Brandt
Thorsten Krämer: Schwankungen der Füllhöhe. Gedichte 1995 –
2018. Nettetal (Elif Verlag) 2020. 108 Seiten. 18,00 Euro.
Lauter gut gemengte
Flirts und Reflexionen
Gedichte aus dreiundzwanzig Jahren, das klingt reichhaltig
und fast schon episch, wie das langerwartete Best of einer Lieblingsband, dazu
noch ein knalliges Cover – man hat schon gute Laune, wenn man Thorsten Krämers
Gedichtband nur in der Hand hält. Und auch beim Aufschlagen und Lesen verfliegt
die gute Laune nicht.
Aber Stück für Stück. Während die drei mittleren Kapitel des
Bandes jeweils geschlossenen Zyklen vorbehalten sind, bestehen Kapitel 1 und 5
aus Einzelgedichten, die den Band quasi rahmen. Das erste Kapitel trägt den
Titel „Zazen in der Metro“, eine Anspielung auf den Roman des (u.a.
Oulipo-Mitglieds) Raymond Queneau „Zazie in der Metro“ – „Zazen“ ist wiederum
eine Meditationstechnik des Zen-Buddhismus.
Und so geht es in den Gedichten zu: meditativ, aber auch frappant und flirrend wie in Zazies Abenteuern. Manchmal wirkt es, als würde zwischen den einzelnen Zeilen der Gedichte ein Pingpongball hin und her fliegen, so schnell gehen sie auf einander ein, während sie sich gleichzeitig in gegenteilige Regungen zu neigen scheinen, einzeln hervorstechen, sich in Aufzählungsdynamiken verlieren, nur um dann wieder sehr konzentriert eine präzise Anbahnung vorzunehmen. Durchweg viel Spaß hat man mit Krämers Anspielungsvernarrtheit.
Mein Lieblingsstück aus diesem Abschnitt ist ein Zyklus mit Gedichten der einfach nur „Nicolas Born“ heißt, ein Autor, dessen Gedichte ich sehr schätze und in dem Krämer auf spielerische und mitunter anrührende Weise poetische Atmo-sphären erzeugt, die sich teilweise (so mein Eindruck) mit denen von Borns Gedichten überlagern, sie teilweise aber auch leicht konterkarieren.
„Die dunkle Flächejetzt draußen vor dem Fenster, vielleicht sollte ichNachrichten gucken, etwas lesen, einfach lange auf derToilette bleiben. Ich möchte in einem Zug sitzen, dermich hierhin bringt. Im Abteil einem Fremden von zuHause erzählen, die angebotene Zigarette dankendablehnen. Es wäre ein nettes Gespräch. Später, bei derAnkunft, würde er alleine weiterfahren und mich nochzwei Stationen vermissen.“
Es folgt im zweiten Teil der Zyklus „Code connu“ (frz. für
„Bekannter Code“, vielleicht entgeht mir hier aber auch eine Doppelbedeutung,
eine Anspielung), ein Aufzählungsreigen, bei dem jeder Zyklusteil drei Zeilen
weniger als der vorherige hat, bis es am Ende nur noch zwei Zeilen sind. Der
Inhalt der Zeilen ist natürlich nicht immer derselbe. Ein kleiner Auszug, um
die Dynamik zu verstehen:
„eine Erinnerung mitten im Winter[…]die Haut eine Widersetzlichkeit[…]ein Depot der hingeworfenen Sätzevor dem Hintergrund einer stummen Lawinedeine stets aufrechte Ahnung[…]damit die Postkarten flugfähig bleibenein Wort, dessen Sinn einen Hut trägt“
And so on. Mit der Zeit bekommt die Aneinanderreihung fast
schon etwas Klerikales, aber auch etwas Ironisches, als wäre das angelegte
Verzeichnis gleichsam ungeheuer wichtig und obsolet. Jede/r kann sich darin eigene
Highlights zusammensammeln – aber vermutlich wären diese Highlights gerade das,
was kein „bekannter Code“ für eine/n selbst ist. Insofern ist der Text Ausblick
und Spiegel zugleich und macht sowohl bekannt mit dem Vertrauten als auch mit
dem Unvertrauten.
Der dritte Teil ist der einzige, mit dem Ich sehr wenig
anfangen konnte. Er heißt „The Great Canadian Power Failure 1997“ und ist mehr
Fließtext denn Gedicht. Es geht um einen Filmdreh in Spryfield (in Nova Scotia,
am äußersten Ost-Rand von Kanada) und um ein lyrisches Ich mit Liebeskummer. Aber
es wird nicht ganz klar, ob es sich wirklich um einen dokumentarischen Text,
eine Imagination oder etwas ganz anderes handelt. Vielleicht liegt aber genau
darin auch ein Reiz, der mich allerdings nicht für sich gewinnen konnte.
„Die Pose ist der Grund für allesweitere, der Körper nur das Mediumder Haltung. Was du zeigst, istnicht das Gezeigte.“
Sehr viel mehr sagt mir da der von Reflexionen durchzogene
vierte Teil zu, mit dem verfänglichen Titel „Nude Selfies“. Es geht um Körper,
um Darstellung, Hüllen, Posen – um Bilder und was sie auslösen, einzulösen
scheinen. Die Gedichte sind sehr kurz, wirken fast wie Fragmente, flüchtig, sind
aber gut ausbalanciert zwischen Investigativem und Metaphorischem.
Wie blicken wir auf etwas, was glauben wir zu erblicken –
all das und mehr scheint auf in diesen kleinen Gebilden. Oder wie es im Text so
schön heißt:
„Das Auge ist ein Übersetzer“
Der letzte Abschnitt besteht dann wiederum, wie bereits
erwähnt, aus Einzelgedichten. Auch hier wieder Anspielungen und gut gemengter
und gequirlter Zeitgeist, wobei der Flirt mit dem Kryptischen teilweise noch
mal eine Stufe drastischer ausfällt, was natürlich der Qualität und
Unterhaltung keinen Abbruch tut, aber hier und da den Einstieg etwas erschwert.
„Die weißgeschminkten Bäume, ein Publikumim Schlafanzug. Die besten Plätze haben sievor hundert Jahren reserviert, seitdemStllstand. (There is no I in Stllstand.) Somusst du die Bewegungen denken, die sichjetzt anschließen.“
Eine bunte Mischung, ein schöner Mix: „Schwankungen der
Füllhöhe“ macht genauso viel Laune, wie Cover und Titel versprechen, während
die Gedichte trotz ihrer Verspieltheit immer wieder auch in vielfältige
Dimensionen und Reflexionen vorstoßen. Man kaufe und löffle beherzt drauflos.
„Ein Blick aus leerenAugen sagt dir mehr als tausend DVDs: deine Angstist nur ein Irrweg, nicht der Motor der Entwicklung.“