Thomas Vašek: Schein und Zeit
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Jan Kuhlbrodt
Thomas Vašek: Schein und Zeit. Martin Heidegger und Carlo
Michelstaedter. Auf den Spuren einer Enteignung. Berlin (Matthes & Seitz)
2019. 250 Seiten. 28,00 Euro.
Zu Thomas Vašek: Schein und Zeit
Zunächst eine kurze Bemerkung zu Carlo Michelstaedter - eine
Mehfrachbegabung, wie man zu sagen plegt: Maler, Dichter und Philosoph. Er
lebte von 1887 bis 1910 in Görz in Italien. Michelstaedter starb früh durch Suizid.
Zu früh vielleicht, als dass sich seine Bedeutung entfalten konnte. Zur Zeit
ist keines seiner Bücher in deutscher Übersetzung lieferbar. Sein
philosophisches Hauptwerk „Überzeugung und Rhetorik“ ist manchmal antiquarisch zu bekommen. In den Neunzigern des
vergangenen Jahrhunderts erschien unbeachtet auch ein Band mit Gedichten. Auf
Italienisch ist sein Werk in verschieden Ausgaben erhältlich.
Was ist Philosophie, was macht sie zur Wissenschaft, oder
was hält sie davon ab, eine zu sein? Immer wieder gibt es Anwürfe seitens der
Naturwissenschaften, sie wäre keine, weil sie sich einer bestimmten Präzision
entziehe, in ihren Resultaten nebulös oder zumindest mehrdeutig bleibe, was ja
im Grunde nichts anderes heißt, als dass man mit ihrem Dampf keine Turbinen
treibt. Und sicherlich entzieht sie sich zuweilen den unmittelbaren
Problemlagen und hat keine Antwort auf dringliche Fragen. Es wäre aber zu
einfach, sie deshalb dem Bereich belletristischer Literatur zuzuordnen, zumal
auch diese zuweilen über das ihr zugewiesene Feld hinaus wuchert und Erkenntnis
wird.
Das Überwachsen der Grenzen macht beide, Philosophie und
Belletristik, zu dem, was sonst einem anderen Genre zugewiesen wird: zu
abenteuerlichen Entdeckungsgängen, und darüber hinaus schärfen und erweitern
sie unseren Blick.
Vašeks Buch „Schein und Zeit“ hat bei mir vor allem eines
erreicht hat: Ich werde mich in der nächsten Zeit darum bemühen, dem Denken
Carlo Michelstaedters in irgendeiner Form nahe zu kommen.
Bislang aber kenne ich seinen Namen und seinen Text nur aus
der Darstellung Thomas Vašeks, der mit „Schein und Zeit“ein Buch geschrieben
hat, das Mittelstaedters Gedankengebäude in Beziehung zu Heideggers
Theorieentwicklung vor allem in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts
stellt; jenen Heidegger von „Sein und Zeit“ also und den im Umfeld dieses
Werkes entstandenen Vorträgen und Schriften (hervorzuheben wären die
Aristotelesvorlesungen und „Was ist Metaphysik?“, weil sie im Buch immer wieder
herangezogen werden.

Vašek erreicht zumindest zweierlei, in dem er der These
nachgeht, die er sehr vorsichtig formuliert: Heidegger könnte durch
Mittelstaedter in seinen Überlegungen zumindest inspiriert gewesen sein, wenn
er sie nicht unmittelbar übernommen und in seinem Sinn umformuliert
hat. Allerdings fehlen, um diese These äußerlich zu stützen, belastbare
Dokumente, die auch nur eine Kenntnis Heideggers von Mittelstaedters Werk
nahelegen, und somit bleibt Vašek nur eins: Anhand eines Vergleiches der Schriften
beider Annäherungen oder Bedeutungsparallelen auszumachen; und er macht es auf
eine geradezu detektivische Art und Weise. Solcherlei wäre juristisch
sicherlich nicht belastbar, und Heideggerianer müssen nicht fürchten, dass ihr
Meister seine Funktion in der philosophischen Administration verlöre.
Allerdings zeigt es auch, dass Heideggers Originalität kein reines Produkt
eines schwarzwälder Kopfes war, sondern vor allem das seiner Zeit, in der
bestimmte Problemlagen und Motive eben den Diskurs bestimmten, dem letztlich
auch er ausgeliefert war.
Das Buch, geht also der These nach, dass Heidegger einige
seiner Denkfiguren der Dissertationsschrift des jüdisch italienischen
Philosophen Carlo Michelstaedter entlehnt habe und insofern auch ein Vampir war.
Obwohl Vašek das Verhältnis Michelstardter/Heidegger als Möglichkeitsverhältnis
beschreibt. Kriminalistisch spannend und geradezu knisternd wird es dann, wenn Vašek die Möglichkeit anführt, Heidegger hätte kierkegaardsche Spuren gelegt,
um von Mittelstaedter abzulenken. Mit anderen Worten: Was Heidegger von
Kierkegaard trennt, ist ziemlich genau das, was ihn mit Michelstaedter
verbindet.
Vor allem begrifflich stellt Vašeks Buch eine enorme
Tüftelei dar, wenn er zum Beispiel im Kapitel „Der Geschmack der Welt“ Heideggers
„Entdecken“ mit dem „Schmecken“ bei Michelstaedter engführt. Als Analogie
funktioniert das meiner Ansicht nach so nicht. An dieser Stelle ist
Michelstaedter vielleicht doch wesentlich näher an Schopenhauer als Vašek
annimmt.
Bei Michelstaedter sind es die „Bedürfnisse“, also die
„Dinge“ die seiner Fortexistenz dienen, die dem Menschen „fortwährend sein Sein
in der Zeit entrücken“. Für Heidegger ist der Mensch im Übergang entrückt und
daher wesenhaft abwesend […], indem er wegwest in die Gewesenheit und in die
Zukunft, ab-wesend und nie vorhanden, aber in der Ab-wesenheit existent.
Im Zentrum, oder viel mehr als Grundsound des ganzen Buches
wirkt eine Korrespondenz der Begriffe von Eigentlichkeit (Heidegger) und
Überzeugung (Michelstaedter). Das könnte, wenn man Vašek folgt, ein Schlüssel
zu den Werken beider sein.
Wir finden uns zwar vor in fremdbestimmten Verhältnissen.
Wir sind angewiesen auf die „Welt“ und die Anderen, wir verstehen uns „aus den
Existenzmöglichkeiten, die in der jeweils heutigen 'durchschnittlichen'
öffentlichen Angelegneit des Daseins 'kursieren', wie Heidegger schreibt. Aber
wir können unsere Existenz, unser Wesen bewußt ergreifen – und uns „selbst
besitzen“ (Michelstaedter) und „eigentlich“ existieren (Heidegger). Der
Überzeugte steigt nicht aus der Welt aus, sondern eignet sie sich gleichsam neu
an – als seine Welt, die er selbst „aus Überzeugung gewählt hat.
Dennoch, und um auf den Eingang zurück zu kommen, denke ich,
dass Vašek Michelstaedter ein wenig zu sehr durch eine Heideggernde Brille
liest, ihm also Positionen unterschiebt, die eigentlich Heideggers sind, um sie
dann bei Heidegger als Michelstaedteranleihen wieder zu finden. Die Lektüre
abere war, und dabei bleibe ich, höchst anregend, auch wenn sie mir ein
weiteres Mal gezeigt hat, dass ich persönlich wohl keinen Abschluss der
Heideggerlektüre finden werde, so sehr ich mir das auch wünsche.