Thomas Schestag: Namenlose
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Vincent Sauer
Thomas Schestag: Namenlose. Berlin (Matthes & Seitz)
2019. 180 Seiten. 26,00 Euro.
Odyssee der Lektüre
Thomas Schestag geht Namen nach
Viele kennen den Vorfall, sei es aus einer
Sandalenverfilmung, einem Comic-Strip oder aus Homers Odyssee selbst in der
Muttersprache oder auf Altgriechisch, Schwarz auf Weiß: Der listige Held des
Epos sitzt in der Höhle des Zyklopen Polyphem fest. Zwar hat der nur ein Auge
auf der Stirn, aber das hässliche Gesicht kompensiert der Sohn des Poseidon
durch übermenschliche Körpergröße und -kräfte. Odysseus und seinen Gefährten hat
er das Gastrecht verwehrt, sie stattdessen mittels eines riesigen Felsbrockens
eingesperrt und damit angefangen, ihr Menschenfleisch zu verzehren. Da kommt
Odysseus die Idee, ein Trick: Er macht Polyphem betrunken und antwortet ihm auf
die Frage, wie er eigentlich heiße, „Outis“: Niemand. Dann sticht Odysseus mit
seiner Mannschaft dem volltrunkenen Zyklopen das Auge aus, der ruft seinesgleichen
um Hilfe, kann aber auf die Frage, wer ihm das angetan hat, nur antworten:
Niemand, was den schwachen, aber listigen Menschen den entscheidenden Vorsprung
verschafft.
Der Erinnerung an diese Station der Odyssee ist u. a. die
erste Passage von Thomas Schestags Text „Und vieles/ Wie auf den Schultern
eine/ Last von Scheitern. Odysseus. Aufbruch. Aposiopese …“ gewidmet. Im
längsten der drei Aufsätze, die das Buch „Namenlose“ enthält, stellt sich diese
Szene so dar:
„Spuren einer namenlosen Odyssee, einer Nichts- und Niemandreise, die noch den Namen, Nichts- und Niemandsnamen, den Odysseus auf der Flucht vor dem geblendeten Zyklopen, Polyphem, aus der Höhle im Schmerz vorbrechend, ins Dunkel gehüllt am hellichten Tag, als Antwort auf die Frage nach dem Namen zurückgelassen hatte, auflöst: Outis oder Oudeis — Niemand —, der von ungefähr den andern Namen — Odysseus —, den er zudeckt, wiederholt, fast aufdeckt, fast entdeckt, durchläuft. So, daß beide Namen; der alte — Odysseus — wieder neue — Oudeis oder Outis —, den der Listenreiche aus dem alten, den er trägt, im Augenblick, wo er Reißaus vor dem Riesen nimmt, fast als ein Echo zieht oder losreißt, die Boote am Strand, aus der Verankerung gerissen, schon vor Augen abzulegen, den alten Namen zuzudecken, zu verunken, zu verunkennt-lichen, als unerkannten Quell unter Verschluß zu halten, obwohl er aus dem Echo, das er warf, als Echo eines Echos, gebrochen — Brechungen ausgesetzt —, Spreisel oder Scheit, zurückzukehren anfängt, ohne anzukommen —; auf-, auseinanderzubrechen.“
Das stiftet womöglich Verwirrung. In der Dialektik der
Aufklärung von Adorno und Horkheimer ist Odysseus‘ Namenlosigkeit ein Beispiel
für die selbsterhaltende List, die die sprachliche Anpassung ans Tote in Kauf
nimmt, um einen Vertrag zwar zu erfüllen, aber den Vertragspartner doch zu
betrügen. Das ist recht griffig. Bei Thomas Schestag geht es nicht um Odysseus
als Proto-Bürger, aber trotzdem wird die Heimkehr zur „Nichts- und
Niemandsreise“, ohne dass der alte Name ganz abgestreift werden könnte. Echos,
Spreisel, Scheite, diese kleinen Haltlosigkeiten sind es, die Schestag
interessieren und die großen Erzählungen heimsuchen, die festgefahren Sprachen
ins Wanken bringen und damit das, was ist und wie es verstanden wird, ein
Stückweit aufbricht.
Aber auf Anfang: Wer zu den Aufsätzen, Essays, Lektüren, die
in kürzeren Fassungen in entlegenen Sammelbänden stehen, mehr erfahren will, bekommt
in einem Vorwort Einsichten über Namen mit, die sich später entfalten. Etwa,
dass Namen keine Wörter sind, wenn sie Wörtern auch „zum Verwechseln ähnlich“
sehen, sondern eher in Frage stellen, was ein Wort ausmacht. Dass Namen nicht
einfach nennen und benennen, da sie selbst namen-, ja sprachlos sind. Namen
gehören keiner Sprache an und gehören damit überhaupt nicht. Nebenbei: In
Wahrheit weiß keiner, wie er heißt, wenn er seinen Namen sagt. Sie sind –„lose“
wie die Lose in der Lostrommel, dem Zufall geschuldet und müssen doch getragen
werden. Schestag schreibt: „Unterm kentaurischen Gesetz des Namens verwächst
der Namen als Buckel oder Höcker mit dem (namenlosen) Kind, das ihn trägt.“
Einem bucklicht Männlein, nämlich Kafkas Odradek, begegnen wir später im Buch.
Am Anfang des ersten Aufsatzes steht der alte „Ach!“-Sager
Faust mit seinem Zweifel, was das benennende Wort mit der benannten Sache denn
nun zu tun hat. Schestag geht der „Verwicklung des Nennens ins Erkennen“ nach,
denn Faust stellt die Frage „Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen“. So
landet der Autor im Grimmschen Wörterbuch, das einen Zusammenhang, ja ein
„Ineinander von cognitus und coitus, generativen und kognitiven Zügen im
Erkennen“ behauptet. Die Lektüre treibt ihn zu dem merkwürdigen Sprichwort:
„hätte jedes kind seinen rechten namen, so hieszest du nicht Peter Götz“. Und das
bringt ihn auf verschlungenen, aber nachvollziehbaren Pfaden zu den Namen
Petrus und Gott und schließlich in Erich Auerbachs Deutung der Narbe des
Odysseus. Um dem Namen auf die Spur zu kommen, lesen wir mit durch totgesagte
und am Leben erhaltene Sprachen, viele, viele Jahrhunderte, und kommen zu
Einsichten über die Sprache, wenn auch, hier und da, wieder Schestags Lektüre
Folge geleistet werden muss, denn kaum jemand kann auf so großem Gebiet
problemlos einhaken und nachfragen.
Der zweite Aufsatz ist „Treppen“ gewidmet, die sich als
„Trappen“, „Traps“, also Fallen und Hinterhalte herausstellen und Häuser
unheimlich machen. Gleichfalls sind sie der Ort, wo der Dichter wohnt, wie Hugo
von Hofmannsthal in seinem Vortrag „Der Dichter und seine Zeit“ weiß: „Seltsam
wohnt er (der Dichter) im Haus der Zeit, unter der Stiege, wo alle an ihm
vorüber müssen, aber keiner ihn achtet.“ Ungeachtet bleiben, aber trotzdem
Sorge bereiten — das trifft auch auf Odradek aus Kafkas Erzählung „Die Sorge
des Hausvaters“ zu, die im Mittelpunkt von Schestags Treppenerkundung steht. Odradek
selbst stellt ihm dabei Fragen nach Zufall, Abfall, deren politische und
gesellschaftliche Konsequenzen uns überlassen bleiben, also nicht vorgesetzt
werden.
Der letzte Aufsatz, der mit Polyphems Blendung einsetzt,
begibt sich mit Odysseus ins Reich der Toten, hört mit ihm das unaussprechliche
Geschrei der Toten, landet bei Dante, bei dem sich das Problem stellt, wie alle
Sprache vom schweigenden Gott ausgehen kann, liegt mit Rousseau auf einem
Nachen auf einem großen Schweizer See und liest Zeile für Zeile Hölderlin, um
etwas über Wörtchen wie Ruder, Spaten, Scheit zu erfahren. Charles Olson kommt
als letzter und jüngster Dichter zu den Gewährsmännern und lehrt uns wie Atem
und Vers aufeinander angewiesen sind.
Wer Schestags drei Aufsätzen folgt, die in dem Buch
„Namenlose“ versammelt sind, muss sich darauf einlassen, nicht mehr zu lernen
als (nochmal) lernen zu lesen. Generalvorwürfe gegen das ganze Vorhaben der
Texte, die keinerlei Vollständigkeit einer Lektüre, die angeblich erschöpft,
behaupten, sie bestünden wohl darin, dass der Autor-Leser immerzu ausschweift,
uns hinhält, sich im Kreis dreht. Aber was wir verstehen können, ergibt und
ergeht sich im Prozess der Lektüre, nicht in Merksätzen. Somit ist diese
Philologie keine gelehrte Vorleistung: Sie stutzt die Texte nicht zurecht, um sie
ins unkomfortable Korsett einer Sprachphilosophie zu zwängen, in die
Sprachkörper hineinwachsen sollen. Uns bietet die Lektüre von „Namenlose“ Theorie
des Namens für den Hausgebrauch, aber Etymologie, Religionswissenschaft,
Philosophie und Geschichte haben Anteil an dem, was hier geschieht. Und so wird
vielleicht jeder Wissenschaft, die Namen einfach hinnimmt, mit diesem Buch die
Leviten gelesen.