Thomas Kunst: Meine Kapuzenjacke spielte sich auf
Montags=Text

Foto: Franziska Reck
Thomas Kunst
Auszug aus "Zandschower Klinken"
MEINE KAPUZENJACKE SPIELTE SICH AUF,
ALS WÄRE SIE MITTAGSKIND
an den Showbühnen der Quais. Die
Freiheit des Windes, die Dhows zu übergehen.
Keine oder zu kleine
Absicherungsknoten links und rechts. Ich hatte in den Nächten das abflauende
Gefühl,
meine Freundschaftsanfragen
überdenken zu müssen. Auf allen Erdteilen hatten die Frauen in der kommenden
Nacht
das Bedürfnis, die roten Kugeln aus
den Kopfzeilen ins Jenseits zu befördern. Anfrage löschen. Duschen. Vitamine
anerkennen.
Aufgeben. Ausnüchtern. Weiterleben.
DAS ZURÜCKLASSEN VON BRIEFEN AUS DEM
ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT.
Leipzig, siebzehnter März,
Neunzehnhundertsechsundachtzig, meine liebe Frau, wir haben nur noch vierzig
Mark
für den Rest des Monats. Unser
Schönefeld des Kirschlikörs. Unser Wohnheim des Cabernets. Unsere neun
Quadratmeter des Biers.
Unsere Prinzessin schreit jede
Nacht. Während du sie stillst, lehne ich sitzend an dir, so ist es
abgesprochen. Sie schreit. Ich laufe Nacht für Nacht
mit dem Kinderwagen durch die
Volksgartenstraße. Sie schläft im Wagen wie in einem zu kleinen Zimmer für drei
Personen. Ich kann doch nicht
um vier Uhr in der Frühe schon zu
trinken anfangen. Sie schreit, wenn ich den Kinderwagen die Treppe zum
Studentenheim hochtrage. Sie schläft,
wenn ich den Kinderwagen nachts
durch die Volksgartenstraße ziehe, nicht schiebe. Ich kann nicht mehr. Aber in
umgekehrter Reihenfolge. Ich träume,
dass sie schläft, wenn ich sie die
Treppe hochtrage. Sie weint, wenn ich den Kinderwagen umdrehe, um zu
simulieren, dass es zwischen der ersten Etage
und der Straße gar nicht auf eine
Treppe ankommt und wir nur spielen, hoch und runter zu gehen, hoch und wieder
runter, runter und wieder runter,
immer mal wieder runter, wenn sie
nicht schreit und schläft, immer mal wieder hoch, wenn sie nicht schläft und
schreit. Aber in umgekehrter
Reihenfolge. Sie schreit nicht, wenn
ich trinke. Sie schläft nicht, wenn ich schreie. Ich habe mir das alles so
anders vorgestellt. Ich gebe ihr den Brei.
Ich lese ein Buch. Ich reibe ihr den
Po mit Penaten Creme ein. Ich spiele Gitarre. Ich lege sie schlafen. Ich lege
mich stundenlang hin.
Ich gebe ihr das letzte Glas des
Tages. Ich fange an zu trinken und zu schlafen. Aber in umgekehrter
Reihenfolge. Sie schreit nicht, wenn ich
trinke.
Sie schläft nicht, wenn ich schreie.
Sie ist selbst nachts unsere Prinzessin im Zimmer und auf den Stufen. Ich werde
den Kleiderschrank
vor das Gitterbett schieben. Das
wollte ich als nächstes schreiben. Ich werde in eine Straßenbahn steigen. Das
wollte ich als nächstes schreiben.
Ich werde irgendwo im Leipziger
Osten aussteigen. Das wollte ich als nächstes schreiben. Ich werde in irgendein
Haus reingehen.
Das wollte ich auf jeden Fall als
nächstes schreiben. Ich werde mir eine Tür aussuchen, an der kein Name auf dem
Klingelschild steht.
Das hätte ich ansonsten als nächstes
geschrieben. Ich werde mich ein paar Mal wuchtig gegen die Tür werfen.
Das wollte ich als nächstes
schreiben. Die Tür würde nachgeben. Das hätte ich dir so gern als nächstes
geschrieben.
Schimmlige Wände. Das hätte ich mir
gern erspart, dir zu schreiben. Die Toilette ohne Klobecken eine halbe Treppe
höher.
Das wollte ich dir bei der nächsten
Gelegenheit auf jeden Fall sagen. Kein warmes Wasser. Das wollte ich dir als
nächstes schreiben.
Ein Küchenofen. Das wollte ich dir
in großer Freude mitteilen. Zweieinhalb Zimmer. Das wollte ich dir sofort
schreiben.
Wir werden unseren Engel einmal in
der Woche in einer Plastikwanne in der Küche baden. Das wollte ich als nächstes
schreiben.
Mit einem Gaststättentauchsieder
würde ich das Wasser erhitzen. Das wollte ich als nächstes schreiben.
Ich werde meine Prinzessin beim
Sprechen und Stammeln belauschen. Das wollte ich als nächsten schreiben.
Ich werde sie voller Stolz die
Wörter Ekkolyte, Metterläd, Ginkung, Kokild, Mampi und Hannibecke sagen hören.
Das hätte ich auf jeden Fall als
nächsten geschrieben. Ich gebe ihr immer das letzte Glas des Tages. Ich fange
an zu trinken
und zu schlafen. Aber in umgekehrter
Reihenfolge. Sie schreit nicht, wenn wir trinken. Sie schläft nicht, wenn wir
schreien.
In der Albert-Schweitzer-Straße
werden wir Vater, Mutter und Kind sein. Bis zur ersten Hochrechnung. Der
schwarze Schimmel
an der Küchenwand könnte Poesie
sein. Essig und Aceton wollte ich als nächstes schreiben. Aber ich sage nur
Pappkarton.
Schwarzer Schimmel. Leipziger Osten.
In der Albert-Schweitzer-Straße werden wir an den Staatsratsvorsitzenden
der DDR schreiben, um unsere
Nasszelle nicht verlassen zu müssen. In Reudnitz werden Skinheads in den Abendstunden
Fahrscheine für die Straßenbahnen
und Busse erwerben. Das hätte ich auf jeden Fall als nächstes
geschrieben.
Ich werde die langen Haare unter der
Kapuze meiner Jacke verstecken. Ich werde die Tasche nicht unkontrolliert
absetzen dürfen. Keine oder zu
kleine Absicherungsknoten links und rechts. Es werden keine Schwäne im Bus
sein.
Das wollte ich dir in großer Angst
mitteilen. Wir werden endlich Miete zahlen müssen, meine liebe Frau.
Wir werden dem Vorsitzenden des
Staatsrats danken müssen, dass unsere Strafe nur so gering ausfällt.
Wir werden die einhundertfünfzig
Mark im Leipziger Osten im Nu wieder drin haben.
Wir werden uns niemals trennen,
Mampi, hörst du. Wenn du es nicht gesagt hättest,
würde ich es als nächstes schreiben.
Thomas Kunst: „Zandschower Klinken“. Roman. Berlin (Suhrkamp
Verlag) 2021. 254 Seiten. 22,00 Euro.
