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Thomas Brasch: "Du mußt gegen den Wind laufen". Gesammelte Prosa

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Jan Kuhlbrodt

Thomas Brasch: „Du mußt gegen den Wind laufen“. Gesammelte Prosa. Zwischen Poesie und Rebellion – Texte aus vier Jahrzehnten. Hrsg. von Martina Hanf. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2025. 877 Seiten. 42,00 Euro.

Braschs Gesammelte Prosa


In einem der eindrücklichsten Texte des Bandes beschreibt Brasch eine Begegnung mit Konrad Wolf in den Achtzigern in Westberlin. Brasch befand sich auf einem Filmdreh und Wolf war in Westberlin, wohl um ein paar Weihnachtsgeschenke einzukaufen. Beide sind sie die Söhne von Emigranten. Brasch ist in England geboren und der 19 Jahre ältere Wolf hat seine Jugend in der Sowjetunion zugebracht. Der Text reflektiert nun über Wolfs Film „Ich war neunzehn“, der eine Art Rückkehr nach Deutschland als Angehöriger der Roten Armee beschreibt. Aber auch die Fremdheit, die ihn umfing.

„wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber“

heißt es im Vers eines der wohl bekanntesten Gedichte Thomas Braschs. Seine gesammelten Gedichte sind vor ca. zehn Jahren erschienen.
Brasch ist am 19. Februar 1945 im Englischen Westow geboren, wo seine Eltern, jüdisch kommunistische Emi-granten, im Exil waren. Seine Eltern gingen in die sowje-tische Besatzungszone, wo sein Vater später in der DDR zur Nomenklatura gehörte.
       Thomas Brasch siedelte 1976 im Zuge der Biermann-Affäre, die zu einem Aderlass künstlerischer Positionen in der DDR führte, in die BRD über und starb 2001 in Berlin.

Vor einigen Jahren erschien im Frankfurter Gutleut Verlag ein von Martina Hanf herausgegebenes Buch mit Traum-texten Thomas Braschs und Zeichnungen von Natascha Ungeheuer. Darin findet sich eine Traumnotiz vom 3./4. Januar 1979:
„DAS TELEFON Mutter ruft an wir wollen uns treffen der Anruf kommt aus dem Reich des Todes über zwei Jahre wenn ich mit ihr spreche heißt das: Ich bin wieder in der DDR und sie lebt wieder WO kann der Platz sein, an dem ich mich mit ihr treffe und sie wieder lebendig ist“

Vielleicht ist es diese Ortlosigkeit, die Braschs gesamte Prosa, Braschs gesamtes Schreiben durchzieht.

Unter dem Titel „Du musst gegen den Wind laufen“ ist nun pünktlich zu Braschs 80. Geburtstag seine Gesammelte Prosa erschienen. Sie enthält die zu Lebzeiten veröffentlichten Arbeiten und Texte aus dem Nachlass, aber nicht das Textkonvolut “Mädchenmörder Brunke“ aus dem Nachlass; das vielleicht oder hoffentlich eine gesonderte Veröffentlichung erfahren wird.

Im Erzählwerk „Vor den Vätern sterben die Söhne“, zuerst 1977 im Rotbuchverlag erschienen, das den Band eröffnet, und das meiner Meinung nach zur eindringlichsten deutschsprachigen Prosa gehört, zeigt sich Braschs Zerrissenheit, die Ausdruck der Zerris-senheit der postfaschistischen deutschen Gesellschaft war.

Und auch das nicht enden wollende Exil, in dem sich viele Rückkehrer fanden.

Deutlich wird die tröge Stimmung in der DDR, in die viele und so auch ich hineingeboren wurden. Bei der Lektüre des Textes im Zuge dieser Publikation fiel mir auf, dass das Gefühl der Stagnation, das meinen Alltag in den Achtzigern bestimmte, schon lange, schon seit den Sechzigern sich wie eine Erbkrankheit von Generation zu Generation fortgepflanzt hatte.

Ich lese die Texte natürlich mit meiner eigenen Geschichte im Nacken, bin mir aber sicher, dass sich das Eindrückliche auch durch die virtuose Sprache vermittelt.


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