Thomas Böhme: Strandpatenschaft
Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen
Monika Vasik
Thomas Böhme: Strandpatenschaft. Gedichte. Leipzig (poetenladen
Verlag) 2021. 176 Seiten. 19,80 Euro.
Vergänglichkeiten
Denn alles ist möglich: Blues & Blüte, erste Bieneoder im Baume ein schaukelndes Bein.
Thomas Böhme hat Erzählungen, Novellen und Romane veröffentlicht.
Vor allem aber ist er Lyriker und publiziert in regelmäßigen Abständen
Gedichtbände. Nach drei Werken im Aufbau Verlag, dem einst größten
belletristischen Verlag der DDR, und dem anschließenden Gang durch wechselnde
Kleinverlage, fand er 2010 mit Heikles
Handwerk seine Verlagsheimat im Verlag poetenladen. 2016 folgte Abdruck im Niemandswo und fünf Jahre
später legt der Dichter nun seine Strandpatenschaft
vor.
Debütiert hat der Dichter 1983 mit dem Band Mit der Sanduhr am Gürtel. Die Sanduhr
ist ein heute noch gebräuchliches Instrument für die Messung kleinerer
Zeiteinheiten. Vor allem aber war sie ab der Frührenaissance ein Symbol für die
Vergänglichkeit der irdischen Zeit. Diese Vanitassymbolik ist auch in Böhmes
aktuellem Werk wieder präsent. Er bleibt zudem anderen Themen treu, die er
fortschreibt. Kathrin Schmidt weist im Klappentext darauf hin, dass Böhme in
seinen Gedichten „fast immer Geschichten“ erzählt. Jayne-Ann Igel wiederum
stellt in ihrem Nachwort fest, dass mancher dieser Texte wie ein Abgesang
wirke. In der Tat weiß der 1955 in Leipzig geborene Dichter, dass er im Herbst
seines Lebens steht, nimmt sein „Leben in wachsenden Ringen“, „die Zumutung“
der menschlichen Vergängnis wie auch gedämpfte Zukunftserwartungen in den Blick
und widmet sich den Themen Zeit und Zeitenwende. Er tut dies abgeklärt, mal
nüchtern, mal pessimistisch und von leiser Wehmut durchweht, gelegentlich
kauzig, kalauernd oder recht banal:
Die Hautalterung macht auchden Reichen & Schönen zu schaffen.
Doch Thomas Böhme ist kein Prophet des Untergangs und seine
Gedichte sind meist keine Abgesänge, obwohl die Endlichkeit präsent ist.
Vielmehr ähnelt Böhme dem Jungen und dem alten Mann im titelgebenden Gedicht
„Strandpatenschaft“, die ange-schwemmtes Strandgut aufsammeln. Der Dichter zeigt
sich als aufmerksamer Chronist auf Spurensuche, der gern innehält, sich die
Fähigkeit des Staunens bewahrt hat und immer wieder von Neuem den Zauber der
Betrachtung sucht. Was er sieht, hört, träumt und spürt, zeichnet er auf und macht
Momente haltbar, entzieht ihnen das Flüchtige. Und er stellt sie in einen
größeren Zusammenhang. Ihn fasziniert die Dichotomie von Werden und Vergehen,
von Auf- und Abgesang, „Blues & Blüte“ und kleidet sie in wechselnde
poetische Gewänder. Denn beides gehört für ihn zusammen, verdeutlicht etwa in
den letzten zwei Versen des Gedichts „Sesamwald“:
Wußtest du nicht, daß Verderben & Wonnehier ein & derselben Wurzel entsprießen?
Viele Gedichte thematisieren Erfahrungen in der Natur, die
ihm Möglichkeitsräume öffnet, zugleich als Metapher für Vergänglichkeit dient.
Die Texte spielen jahreszeitlich oft im Herbst, in dem „alles sichtbar und
gleichzeitig / wie schon ausgelöscht“ wirkt. Da gibt es Faulobst, Apfelmumien
und andere Früchte, die ein bisschen zu oft schrumpeln, was beim ersten Mal
originell wirkt, sich aber schnell abnutzt. Auch zerzauste Krähen oder
Sonnenblumen, die „abgeblüht & gebeugt von der Last ihrer Samenkerne“ sind,
scheinen nur mehr als Symbole der Vergänglichkeit zu taugen, wobei gerade letztere
wie auch das Faulobst als Futter für Igel und Vögel dienen und den Kern für
Neues in sich tragen.
Zu den erwähnten größeren Zusammenhängen gehören historische
und künstlerische Einflüsse, die gelegentlich den Kondensationskeim eines
Gedichts bilden, dieses erweitern und überhöhen. Es sind dies mythologische
sowie magische Figuren und Szenerien, aber auch Kunstwerke und die Besinnung
auf künstlerische Traditionen. Böhmes Texte sind bevölkert mit Engeln, Hexen,
Kentauren, auch Elfen, Kobolde und Nosferatu bekommen einen Platz zugewiesen.
In den 12 (plus 1) Prosagedichten des Zyklus „Rauhnachtsplitter“ wiederum sind
es Dämonen und Geister, denen dem Brauchtum nach in den 12 Nächten zwischen
Weihnachten und Epiphanie eine besondere Bedeutung zukommen, und die durch
(Alp)Träume, Erinnerungen und unerklärliche Begebenheiten geistern oder dem
magischen Denken entspringen, denn
Die Träume in dieser ungewissen Zeit zwischen zwei
Mondjahren sind voller Zeichen & Vorbedeutungen.
„Die Erinnerung hat ihre eigene Melodie“, heißt es im
Gedicht „Fontane Gelände“ und diese wechselt. Immer wieder lässt Böhme Märchen,
etwa in den Prosagedichten des Zyklus Die
blauen Vögel, und Volklieder genauso selbstverständlich anklingen wie
Kompositionen Gustav Mahlers oder Orgelmusik. Gern spielt der Dichter mit
lautmalerischen Elementen, etwa mit Alliterationen. Er bezieht sich auf Maler
wie Otto Modersohn und Max Klinger, Caspar David Friedrich und Aris Kalaizis,
die Literaten Hölderlin, George, Rilke, Nabokov oder Christoph Meckel sind
wichtige Impulsgeber.
Auch geografische und kosmologische Bezüge sind zahlreich.
So weiten Himmel, Mond und die Gestirne den Horizont des Gedichts, relativieren
weltliche Sorgen und Nöte. Böhme umkreist zudem oft die Grenzen zwischen
Realität und Phantasie, den Raum zwischen Traum und Wachsein. Ihn fasziniert
das Tuscheln der Schatten beim Verweilen im geschichtsüppigen Florenz, die
fluide Wahrnehmung mit überreizten Sinnen oder das somnambule Eindringen in
„Zwischenwelten, in denen Traum und Wahrnehmung nicht mehr voneinander zu
unterscheiden sind“, dem er sich etwa in den Vigilien des Zyklus Nachtwachen eines Sommers widmet. In
dessen „Vorspiel“ spiegelt sich das Selbstverständnis des Dichters wider:
Mitunter denkt man die Gedanken eines anderen, wechselt
Gestalt, Alter, Geschlecht, das Jahrhundert, oder man findet sich in einer
fernen Galaxis wieder, und all dies geschieht ohne die Einnahme stimulierender
Substanzen, wenn man von grünem Tee oder einem Viertel spritzigen Rieslings
absieht.
Und während er noch in mythischen Halbwelten weilt,
reichlich Platz für Träume und Phantasien findet oder die Natur als
willkommenes metaphorisches Mittel zum Zweck einsetzt, finden Momentaufnahmen
und Erinnerungen ihren Platz. Er thematisiert die Zweiheit von Freude und
Enttäuschung über „Die Kastanie als Handschmeichler“:
Schon als Kind lockten mich ihre Glätte, ihr Glanzund wie damals fühle ich mich betrogenwenn sie stumpf werden oder verschimmeln
Oder das ganz im Augenblick Sein beim Spaziergang mit
Enkeltochter Frieda. Oder wie er beim Rasenmähen innehält, der Schönheit einer
Akelei gewahr wird und sich, statt sie „blindwütig niederzusäbeln“, lieber an
den Gartentisch setzt, um ein paar Verse zu schreiben.