Terje Dragseth: bella blu. Handbuch für den Weltraum
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Jan Kuhlbrodt
Terje Dragseth: bella blu. Handbuch für den Weltraum.
Übersetzt von Tone Avenstroup und Bert Papenfuß. Frankfurt a.M. (gutleut
Verlag) 2019. 132 Seiten. 24,00 Euro.
Einige Gedanken zu Terje Dragseths „bella blu“
Wie ist das Genre dieses Bandes zu beschreiben? Nun gut, es
sind Gedichte. Aber was für welche? Gute Gedichte, sehr gute. Klar, sonst würde
ich nicht seit einem halben Jahr immer wieder darin lesen.
Und jedes Gedicht beschreibt oder benennt einen Tag. So
fügen die Gedichte sich zu einer Zeit, einem Zeitraum. Einer Raumzeit, wie wir
es seit der Relativitätstheorie zu nennen gewohnt sind. Und es geht ja weit
hinaus:
Tag 55 Nachtbote klagt gehetzt. Bringt Komplexität in seine Besorgungen. Bewahrt das Irdische. Wir vermitteln was wir hinter uns haben.
Reisebeschreibungen sind wohl der Ursprung der Dichtung, nur
dass die Menschen sehr selten ohne Waffen unterwegs waren. Sie brauchten die
Waffen, weil sie dem Fremden nicht trauen, und wie ein guter Cowboy lieber als
erste ziehen, um am Leben zu bleiben. Diese Art der Weltaneignung aber ist mit
einer Paranoia gepaart, die im Reisenden den Wunsch entstehen lässt, auch am
Hinterkopf Augen zu haben. Nur erblickt auch der Cowboy in der Rückschau immer
nur andere Cowboys. Der Astronaut aber sieht sich selbst vor der Erde, weil er
einen Helm trägt, in dem er wiederum sich spiegelt. Und in dem sich die Erde
spiegelt.
Dragseth spielt (oder operiert) mit jenen sich überlagernden
Wahrnehmungen, und mit der Crew, die auch aus einem geometrischen Mädchen
besteht und einem Hund mit selbst-leuchtendem Fell.
Tag 403 Gärten und Parks durchsucht, elektrifiziert, desinfiziert. Wir haben menschenleere Begegnungen bewacht, gefilmt, registriert. Haben im Regen gewartet, die Landebahnen entlang, an Hoteleingängen und in engen Räumen. Wir werden traurig vom Lesen der Verkehrsschilder, die nirgends hinführen.
Etwas kündigt sich an. Auch außerhalb der Gedichte von
Dragseth auf Cape Canaveral. Aber der Start von „Crew Dragon“, der Rakete, die
am 27. Mai 2020 eine Crew zur Internationalen Raunstation bringen sollte, wurde
wegen schlechten Wetters verschoben. Ich frage mich kurz, ob Kolumbus in
Spanien geblieben wäre, wenn es am Tag seiner geplanten Abreise geregnet hätte,
aber darauf kommt es letztlich nicht an, auch nicht, ob Amerika ein oder zwei
Tage früher in die Hand der Europäer gefallen wäre, sondern spannend allein ist
der Fakt, dass mit der Crew Dragon nun ein privates Unternehmen in die
Erschließung des erdnahen Raumes eingreifen wird.
Tag 454 Dämmerung und dann Dunkelheit, die sich Vorschiffs schließt. Wir stehen außerhalb unseres Verstandes und schauen. Tief in unserem Log: April, der all seine glühenden Tage wegoperierte mit dem Skalpell des März.
In Teje Dragseths Gedichtband bella blu ist das
Weltall längst aufgeschlossen und stellt sich als Erweiterung und
Verbreitungspotenzial irdischen Verkehrsaufkommens dar. Die Menschen, sind Reisende, waren es immer,
sind auf verschiedenen Wegen in alle Gegenden der Erde gelangt, haben sie
besiedelt, und wenn wir später den Anderssiedelnden begegnet sind, trafen wir
auf uns als Fremde. So entstanden Kolonialisten und Kolonisierte. Und wir
betrieben auch eine innere Kolonialisierung, der Sieger siegt nicht, ohne sich
selbst Wunden zugefügt zu haben. Und immer mehr spinnen wir uns in Technik ein.
Wir erweitern unser Weltgestell.
Tag 420 Wir empfangen Zeitblasen und halten uns die Ohren zu. Einfache Warenbezeichnungen für Volumen und Inhalt. Wir laden runter, in Pech und Dunkel, während wir noch intakt sind. Das geometrische Mädchen hat das Kommando übernommen.
Aus dem Norwegischen übersetzt wurde das Buch von Tone
Avenstroup und Bert Papenfuß. Michael Wagener sorgte für die spacige
Gestaltung, und das Spannende ist, um auf den ersten Ursprung der Dichtung
überhaupt zurückzukommen, dass Sternkarten und nautische Karten auf den ersten
Blick kaum zu unterscheiden sind.