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Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus

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Monika Vasik

Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus. Essays. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2022. 176 Seiten. 20,00 Euro.

Trotz allem festhalten an der Kraft des Worts


„Diese Essays sind ein Geschenk: Sie öffnen ein Fenster zum Verständnis des Unvorstell-baren, das gerade in der Ukraine geschieht.“

Selten geschieht es, dass ich einem Klappentext ohne Abstriche zustimmen kann. Denn Tanja Maljartschuk öffnet mit den 21 Texten ihres Buchs Fenster, durch die wir mit ihr auf den aktuellen Ukrainekrieg und auf die wechselvolle Geschichte ihres Landes blicken können. Vielleicht lernen wir verstehen, zumindest in Ansätzen begreifen, was die kriegerische Expansionspolitik Russlands in der freien Ukraine anrichtet und was sie für die Menschen bedeutet, und zwar heute, hier wie dort, hautnah. Welche Auswirkungen hat es, wenn der russische Imperialismus das Existenzrecht eines Landes und dessen Unabhängigkeit aggressiv infrage stellt? Wie lernt man mit der eigenen Fassungs- und Hilflosigkeit, mit Schmerz, Wut und Trauer umzugehen, wie, dafür eine Sprache zu finden, weiterhin an die Kraft des Wortes zu glauben und an ihm festzuhalten, obwohl es einer angesichts von Kriegsgräueln und Barbarei nicht nur die Sprache verschlägt, sondern der Lauf der Geschichte stets anderes gelehrt hat?

„In der Westukraine, woher ich komme und wo sich im Laufe des letzten Jahrhunderts verschiedene Imperien und Diktaturen immer wieder abgewechselt haben, galt das Schweigen als eine Voraussetzung für das Überleben.“

Geboren wurde Tanja Maljartschuk 1983 in Iwano-Frankiwsk, arbeitete eine Zeit lang in Kyjiw/Kiew und emigrierte 2011 aus privaten Gründen nach Wien, wo sie heute lebt. Sie ist Journalistin und Schriftstellerin, schreibt ihre Texte sowohl in ukrainischer als auch in deutscher Sprache und wurde u.a. 2018 mit dem Bachmannpreis und 2022 mit dem Usedomer Literaturpreis ausgezeichnet. Seit dem 24.Februar 2022, als Russland auch offiziell den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen sein Nachbarland begann, ist Maljartschuk zudem oft eingeladene Kommen-tatorin in Sendeanstalten des deutschsprachigen Raums und versucht nun seit einem Jahr, sich und uns allen diesen Krieg begreifbar zu machen. Im aktuellen Buch versammelt die Zeitzeugin luzide Essays, die sie zwischen 2014, der Zeit der Majdan-Proteste und der russischen Annexion der Krim, und Herbst 2022 in verschiedenen Medien publizierte. Dass es diese Essays gibt, ist der Beharrlichkeit von Redakteuren zu verdanken, die Maljartschuk nachdrücklich zum Schreiben animierten, denn von allein hätte sie dafür keine Kraft gefunden, wie sie in ihrer Danksagung am Ende des Buchs darlegt, in der sie auch Maria Weissenböck und Claudia Dathe dankt, die einige auf Ukrainisch verfasste Texte ins Deutsche übertrugen.

Maljartschuk hat ihre Essays chronologisch geordnet, beginnend 2014 und endend im September 2022. Eine Ausnahme ist der erste im Buch abgedruckte Text „Erinnerung an das Sinnliche“, entstanden 2020, der dem Hören, Riechen, Schmecken und Sehen nachspürt und damit typischen Sinneseindrücken mit Bezug zur Ukraine. Schon in der dritten Zeile ist das Thema nicht nur des ersten Texts, sondern der Hintergrund des ganzen Buchs angesprochen:

„Ich würde sagen: Heimat ist dort, woher deine Traumata stammen ... Man sitzt im Käfig seiner Heimat für immer fest.“  

Dieses Festsitzen und damit die tiefe Verwurzelung thematisiert Tanja Maljartschuk in immer neuen Anläufen. Es sind Essays, die sich mit dem heutigen Krieg und damit mit der bislang letzten der Tragödien und Heimsuchungen auseinandersetzen, dabei auch die früheren in den Blick nimmt, denen die Menschen im Staatsgebiet der heutigen Ukraine ausgesetzt waren und sind.

„Die Ukraine ist ein Land der großen Dinge. Große Städte, mächtige Flüsse, unendliche Felder, entsetzliche Tragödien.“

Maljartschuk gelingt es mit großer Wahrhaftigkeit, private Erzählungen und Erlebnisse eindrücklich mit historischen Katastrophen, Kriegen und Pogromen zu verbinden, etwa der Vertreibung und Ermordung fast aller ukrainischen Juden durch die Nationalsozialisten im zweiten Weltkrieg, von deren Existenz jiddische Worte im Ukrainischen unauslöschbar Zeugnis ablegen. Oder dem von Stalin angeordneten Hungertod von Millionen Ukrainer*innen, der unter dem Namen Holodomor in die Annalen der Bestialitätsgeschichte einging und den Maljartschuks Großmutter als Kind überlebte. Oder den wechselvollen ambivalenten Beziehungsgefügen zu Russland, zu den Russ*innen und zum Kommunismus. Es sind vielfältige Traumata, die sich nicht nur in den Familien fortsetzten und in Erzählungen oder im Verschweigen weitergegeben wurden, sondern auch in Persönlichkeitsstörungen, Panikattacken und Angststörungen nachfolgender Generationen nachwirken. Zugleich bezeugt Maljartschuk „das Wunder von Einheit und Kraft“, das sie stärkt und ihr Hoffnung gibt. Denn „Heimat“ ist für sie nicht nur verbunden mit historischen und aktuellen Katastrophen sowie familiären Verflechtungen. Die Ukraine war und ist auch die Heimat ihr wichtiger Denker*innen. Einer ihrer Lieblingsdichter ist der einst vom Sowjetregime verfolgte Wassyl Stus. Sie fühlt sich dem ebenfalls in Iwano-Frankiwsk geborenen Juri Andruchowytsch nahe, erwähnt Taras Prochasko und die „drei wunderbaren Lyrikerinnen Halyna Petrosanjak, Maria Mykyzej und Anna Sereda“, Literat*innen also, denen sie sich verbunden fühlt.

Die Autorin weiß, es gibt kaum Trost, denn nichts kann ungeschehen gemacht werden. Doch es gibt Zeug*innenschaft, ein Leben im Zwischen und eines danach, trotz aller Verluste, Wunden und Beschädigungen ein Weiterleben mit Momenten des Innehaltens, in denen man zu sich kommt, sich wiederfindet im bewussten Ausatmen, um Einhalt und in absichtsloser Stille die eigene Stimme zu finden. Das Buch erzählt von dieser eigenen Stimme, die durch den ukrainischen Alltag und durch Traditionen, durch Geschichte und Geschichten geprägt wurde und durch russische Aggressionen gegen ein Land, dessen Menschen sich ungebrochen nach einem selbstbestimmten Leben und einer freien Ukraine sehnen. Es ist eine Stimme, die unter die Haut geht!



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