Tal Nitzán: Vier Gedichte
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Foto: Bar Gordon
Tal Nitzán
Vier Gedichte
aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer
Der Rest der Kinder
Nachdem du deinen Kindern
Flügel hast wachsen lassen und Kiemen
sie weit von dir fortgestoßen hast
und gelehnt an die wacklige, durchbrochene Reling
des Schiffes
zuschaust, wie sie immer kleiner werden
sich dem Festland nähern, das seine Arme ausbreitet
endlich ein Riesenstein weggerollt ist und etwas Winziges
so ähnlich wie Freude –
zieht eine kleine Hand am Saum deines Kleides.
·
So viele sind auf ihn gefolgt seitdem
wurden auf ihn gestapelt
dass mir sein Name
manchmal entfällt
weil so viele hinzugekommen sind seitdem
wer in den Rücken, wer in den Nacken
wer aus der Luft
wer mit zerrissenem Hemd
wer im Weglaufen ohne Schuhe
wer schreit ich gehör zu ihr ich gehör zu ihr
oder nach seiner Mutter ruft oder stumm ist
so viele, dass
es manchmal ist, als hätte ich zu meiner Schande
den Namen meiner Jugendliebe vergessen
einen Augenblick dann
ist sein Name vom Grund befreit, kehrt
Iyad zu mir zurück.
So viele sind auf ihn gefolgt seitdem: Am 30. Mai 2022 wurde Iyad al-Hallaq, ein 32-jähriger
Palästinenser aus Ostjerusalem, der an Autismus litt, von einem israelischen Polizisten
erschossen, weil er ihn als Terroristen verdächtigte. Vor dem Bezirksgericht in
Jerusalem argumentierte der Polizist, die Situation falsch eingeschätzt und aus
angenommener Notwehr gehandelt zu haben. Er wurde daraufhin freigesprochen, was
entsetzte Reaktionen und Widerstand in der israelischen wie in der
palästinensischen Gesellschaft auslöste.
Wer in den Rücken (den Schuss bekam): Die hebräischen Worte sind ein Echo zu dem Pijut „Unetane tokef
(keduschat hajom)“ (Wir wollen die Macht der Heiligkeit des Tages schildern),
das an Rosch Haschana und Jom Kippur gesprochen wird und damit den Höhepunkt
der „Jamim Noraim“, der Ehrfürchtigen Tage bildet. Leonard Cohen knüpfte mit
seinem Song „Who by Fire“ an diesen liturgischen Text an.
ich gehör zu ihr: Der Autist Iyad
al-Hallaq wurde auch am Tag seiner Tötung von der Betreuerin zur Förderschule begleitet.
Als die Polizisten ihn zu verfolgen und zu schießen begannen, schrie er: „Ich gehör
zu ihr!“
Der
letzte Stern
(Bebendes Wiegenlied)
(Bebendes Wiegenlied)
Dies
ist die Nacht niedergehender Sterne
Sterne
über Sterne fallen herab
auf
deinen zitternden Schlaf
auf
dein kleines Herz.
Und
die Nacht ist schwarz wie der Ozean
und
am anderen Ende kein Morgenlicht
keine
Wünsche
kein
Mensch.
Ein
Kind atmet, flimmert, verschwindet
wer
kann das betrauern
mit
der Hand hier, die Mitschuld trägt
an
einem erstarrten Herzen.
Deine
Augen auf dem Bild wussten nicht
der
letzte Stern
ist
kein Stern
er
verschlingt dein kleines Herz.
Für Tamim
Daoud, dem am 10.5.23 bei einer
Bombardierung der israelischen Luftwaffe in Gaza vor Schreck das Herz
stillstand; er wurde fast fünf Jahre alt.
Der weiche Punkt
…at the hour when we are
trembling with tenderness
lips that would kiss
form prayers to broken stone.
T.S. Eliot
trembling with tenderness
lips that would kiss
form prayers to broken stone.
T.S. Eliot
Hier ist die weiche Stelle.
Auch wenn das Herz in seiner Stille
inmitten der Stadt versank wie ein Stein –
wisse: Dies ist der weiche Punkt.
Halte meine Hand in der Welt.
Ich sah eine Mutter, wie sie zu ihrem Kind spricht voll Hass,
es mit Worten vernichtet.
Ich sah, wie ein Gebäude zu Staub zerfällt,
langsam, Etage für Etage –
wie viel wir zu bemitleiden,
wie viel wir zu lindern haben.
Wo die Nacht einen ungeküssten Nacken umschließt,
ist das nicht wieder gutzumachen: Für jedes Ersticken
in jeder Kehle gibt es nur ein Heilmittel,
schau, ganz einfach: Dies ist der Punkt.
„Der weiche Punkt“, aus: Tal Nitzán: Zu deiner Frage. Gesammelte Gedichte, aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer, Berlin: Verlagshaus Berlin 2015, S. 47.
Die Übersetzungen aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer wurden gemacht bzw. ausgewählt für die Veranstaltung „Unseren Schmerz verstehen, von Vers zu Vers. Ein Abend mit israelischer und palästinensischer Poesie", kuratiert von Stephan Milich und Gundula Schiffer, Lesung und Gespräch auf Arabisch, Deutsch und Hebräisch mit Mona Yahia und Gundula Schiffer, Yahya Ekhou und Stephan Milich, Moderation: Fatma Tuna, Das »andere« Literaturcafé im Literaturhaus Köln, Mittwoch, 20. November, 19 Uhr.
Tal Nitzán gehört zu den wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen
hebräischen Literatur – als vielfach ausgezeichnete Dichterin,
Schriftstellerin, Übersetzerin und Herausgeberin. Sie hat sieben Gedichtbände
und drei Prosabücher veröffentlicht und rund 80 Werke der spanischen und
englischen Literatur ins Hebräische übersetzt. 14 Anthologien ihrer Lyrik sind
weltweit in Übersetzung zu lesen, darunter Zu Deiner Frage,
Deutsch von Gundula Schiffer (Verlagshaus Berlin 2015). Ihr achter Lyrikband
erscheint demnächst.
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