Takuboku Ishikawa: Einsamer als der Wintersturm
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Timo Brandt
Den Zeitraffer
stummschaltende Augenblicke
„Warum man so traurige Gedichte übersetzen soll? Weil sie Werke eines bedeutenden Dichters des nachfeudalen Japan sind. Weil sie in Japan berühmt sind. Weil sie direkt und unverschlüsselt die Gefühle eines Menschen zeigen, der in einer fernen Kultur und in einer andern Zeit lebte.“(Aus dem Vorwort)
Ein langes Leben war ihm allerdings nicht bestimmt: Ishikawa
Takuboku (1886-1912), der zu den wichtigsten Dichtern des modernen Japan zählt,
starb bereits mit 26 Jahren an Tuberkulose. Davor führte er ein unstetes Leben
mit wechselnden literarischen Ambitionen und Anstellungen, ständig geplagt von
Geldnot und der Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes.
Obgleich er auch Romane und Literaturkritiken schrieb, ist
er vor allem für seine Tanka-Gedichte bekannt und hier vor allem für die erst
nach seinem Tod erschienene Sammlung Trauriges
Spielzeug, aus der auch die Gedichte in dieser deutschen Auswahl stammen.
Takuboku schrieb sie in den letzten zwei Jahren seines Lebens.
„Ich verlasse das Haus und nur fünf Blöckeversuche ich zu gehenwie ein Mensch, der eine Arbeit hat –“„Als ich auf dem Heimweg die letzte Straßenbahn versäumte,war mir zum Weinen zumute.Noch dazu regnete es.“
Obwohl Tanka in europäischen Übersetzungen und Varianten
klassischerweise als Fünfzeiler gelten, werden sie in Japan anscheinend auf
sehr unterschiedliche Weise gesetzt. Takuboku setzte sie als Dreizeiler (also
im Japanischen von oben nach unten in drei Spalten).
Die Übersetzung von Ruth Linhart wahrt diese Zeilenanzahl
und versucht auch ansonsten die inhaltliche Reihenfolge und Stellung der
Satzteile korrekt wiederzugeben (und beschreibt in ihrem Vorwort, das auch
einen Lebensabriss von Takuboku beinhaltet, warum das bei Übersetzungen aus dem
Japanischen so schwierig ist).
„Die Menschen gehen allein dieselbe Richtung.Mein Herz schaut von der Seite zu.“„Dass mir alles egal ist, was auch geschieht,dafür fürchte ich michheimlich dieser Tage.“
Die Gedichte haben mehrere Themenfelder und stellen eine Art Tagebuch der letzten zwei Jahre in Takubokus Leben dar. Sehr oft thematisiert werden die Angst vor den Schulden-eintreibern und der sich verschlechternde Gesundheitszustand, aber auch klassischere Themen wie Natur und momentane Freude/momentane Trauer stehen immer wieder im Mittel-punkt.
Linhart beschreibt Takuboku als politisch engagierten Geist
(er las Kropotkin und andere anarchistische und marxistische Denker, glaubte an
die politische Relevanz von literarischen Texten und verlor einmal wegen eines
Streikaufrufs seinen Lehrerposten), der aber gleichzeitig mit seinem
Familienleben überfordert war (er hatte bereits mit achtzehn Jahren seine
Jugendliebe geheiratet und seine erste Tochter wurde drei Jahre später geboren).
Oft ging er alleine in eine neue Stadt und konzentrierte sich ganz auf seine
literarische Arbeit.
„Ich betrachte meine schmutzigen Hände –gerade sowie in letzter Zeit das eigene Herz.“„Ach, das Gesicht des Kindes, das sich erstaunt freutals es die Katze am Ohr ziehtund diese Miau macht.“
In den Gedichten erlebt man Takuboku allerdings als
Menschen, der diese problematischen Einstellungen zum Familienleben durchaus
reflektiert. Nicht selten sind sie von einer Sehnsucht getragen, dass das, was
sich gerade im Gedicht an Zuneigung oder Erkenntnis ergeben hat, bleibende
Änderungen an der eigenen Sicht auf die Dinge, am eigenen Verhalten bewirken
möge.
Generell begegnen wir in diesen Gedichten einem Menschen,
der von allen Seiten (gesundheitlich, finanziell, familiär) bestürmt wird und
in den kurzen Gedichten auch so etwas wie einen Rückzugsort findet, in dem die
Stürme allerdings noch nachhallen. Am wenigsten in diese Rückzugskategorie
fallen die Gedichte über seine Krankenhausaufenthalte. Sie sind frontaler und
stehen oft, so wirkt es auf mich, für die Sprachlosigkeit, die sich im Kampf
mit der damals unheilbaren Krankheit einstellt.
„Beim Aufwachen tut mir der Körper weh,ich kann mich nicht bewegen.Ich möchte weinen und warte, dass es hell wird.“„Dann wollen sie also nicht leben?Als der Arzt das sagte,schwieg mein Herz.“„Ans Fenster des Krankenhauses gelehnt,beobachte ich, wie die anderen Menschengesund vorbeigehen.“
Kein einziges Mal ist allerdings direkt vom Tod die Rede.
Auch bitterste Klagen hört man selten. Die Tanka sind fixiert auf ihren Moment,
ihre schmale Autonomie, in der das, was sie verhandeln, nicht in größere
Zusammenhänge eingeordnet werden muss.
Dadurch sind sie auch immer Gedichte, die von Einsamkeit,
vom Alleinsein handeln. Selbst in den Szenen, in denen andere Personen
vorkommen, verkörpern die Tanka die klare Abgrenzung der Erlebnis- und Bewusstseinswelt.
Die gerät dann und wann in Kontakt mit anderen Welten, wird aber gerade in
solchen Momenten wiederum auf sich zurückgeworfen – das Verbindende bleibt
trotzdem etwas Separates.
„Ich vergaß die Medizin einzunehmen,und nach langer Zeit wiederschimpfte meine Mutter mit mir, das freut mich.“
Natürlich berühren diese Gedichte. Und natürlich sind sie
trotzdem schnell konsumiert. Herausragendes wird man hier nicht finden. Aber
das ist auch nicht die Absicht dieser Gedichte, so scheint mir. Sie wollen
nicht herausragen, noch wollen sie bloßes Dokument sein. Vielmehr messen sie
die Ausschläge bestimmter Erfahrungen, fassen sie kurz und abrisshaft zusammen.
So geht man als Leser/in durch das Buch und erkennt, wie sehr
doch die eigenen, täglichen Erfahrungen immer wieder eine kleine Eruption
bedeuten, die man oft schon gar nicht mehr bemerkt, würdigt. Man lebt und das
bedeutet auch, immer wieder für Momente ganz von etwas eingenommen zu werden: von
einer Idee, einem Gefühl, einer Frage, einem Zweifel, einem Wunsch, einer
Beobachtung.
Diese Momente kommen in kaum einer Biographie vor, sie sind
in den seltensten Fällen maßgeblich oder dergleichen, schlagen sich nicht
zwangsläufig in etwas nieder – sie gehören zur Gänze der Person, die sie empfindet.
Manchmal lassen sie auch die größeren Kontexte hinter sich. Das letzte Tanka in
der Sammlung lautet:
„Draußen vor dem Garten ging ein weißer Hund.Ich wende mich um.Sollen wir uns einen Hund halten, frage ich meine Frau.“
Takuboku Ishikawa: Einsamer als der Wintersturm. Gedichte der
Sammlung „Trauriges Spielzeug“. Japanisch / deutsch. Übersetzt von Ruth
Linhart. Frauenfeld (Waldgut Verlag) 2018. 212 Seiten. ca. 26,00 Euro.