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Sylvia Schmieder: Fraktur

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Sylvia Schmieder

Fraktur


Komm rein, es zieht, mach die Tür zu. So dunkel mitten am Tag, hol die Stehlampe rüber. Und glotz nicht so. Warum schauen mich alle so rührselig an? Die Ranke, ach was, das ganze Sekretariat ist Kopf gestanden! „Den Arm gebrochen, den rechten Arm, Sie Armer …“ Die Ranke übertreibt es. Doch. Mitleid ist der Anfang vom Ende, merk dir das! Genau.
    Was reden sie, in der Firma? Nein. Nicht das. Du musst genauer hinhören. Sprechen sie über mein Alter. Reden sie von Überlastung. Wenn sowas aufkommt, sofort unterbinden. Natürlich wollen die wissen, wie es passiert ist, dafür haben wir eine Sprechweise vereinbart. Die Beleuchtung der Tiefgarage war defekt, genau. Der Karton auf der Treppe im Weg. Sag nicht gestürzt! Gestolpert, bitte merken. Auch Arm gebrochen klingt übrigens nach Kleinkind, nach Hilflosigkeit, doch. Wir sind erwachsen, aber noch nicht senil! Gott bewahre: Im Zenit bin ich, in der goldenen Mitte, in den besten Jahren, genau! Also sagen wir Fraktur. Und keine Details. Die sollen sich nicht dran aufgeilen. Einfach Fraktur! Aber natürlich reicht das!
     Nach der CT können wir den Zeitrahmen abschätzen. Wieder in die Offensive gehen. Ich weiß ja, dass auf dich Verlass ist ... Du bist mein rechter Arm, jetzt im doppelten Sinn, nein, wirklich. Ich vergesse sowas nicht, das weißt du, ich vergesse nichts. Das Positive wie das Negative: Alles fein säuberlich gelistet, bis zum jüngsten Gericht.
    Es zieht, ja, das weiß ich! Das Fenster schließt nicht richtig. Altbau, das hat man davon. Ich hatte den Griff gestern plötzlich in der Hand, in der linken natürlich, ja, ausgebrochen. Und der Rahmen ist schief. Die Hausverwaltung besorgt die Teile, solange zieht es eben, da muss man durch. Kurs halten, auch wenn es zieht, haha! Die Thomsen lacht sich ins Fäustchen, wenn die von meinem Unfall hört. Der kommt das sowas von zupass. Aber wir haben überhaupt keinen Grund, unsere Politik zu ändern! Die Richtung stimmt, das Team ist sich einig, das hab ich dir schon am Telefon gesagt. Das Bauamt wird einknicken müssen. Aber natürlich. Den Bürgerverein haben wir auf unserer Seite, das sind Leute mit Menschenverstand. Hast du gemerkt, wie gut das Quartiersgedöns bei dem Stuckow ankam! Hast du gemerkt! Ich hab´s dir gesagt: Damit kriegt man ihn.
    Und jetzt musst du ran. Ich werde noch Wochen nicht Autofahren können, ist dir das klar! Wochen! Das ist eine Prüfung, verdammte Scheiße. Mit dem leeren Ärmel, wenn der so baumelt, sieht furchtbar aus. Doch. Kriegsversehrt, das geht gar nicht. Gibt es Spezialsakkos für solche Fälle? Muss es geben, die Ranke soll sich kümmern. Wichtig! Und ich brauche sie noch heute hier, weiß sie das! Ja, ruf sie an, nein, nicht jetzt! Nachher.
     Was treiben sie, im Büro? Die Zügel straff halten. Sag ihnen, ich komme vorbei, aber sag nicht wann. Ich weiß auch wirklich nicht wann. Du wirst mich abholen müssen, oder Frau Ranke, nein, das soll dann meine Frau machen. Petra kommt mit dem Zug - wahrscheinlich. Dann muss sie halt die Limousine fahren, wozu steht die vor der Tür. Das muss jetzt mal sein. Die liebe Petra fährt sonst nur mit dem Smart, und ich darf nicht neben ihr sitzen! Aber jetzt ist Ausnahmezustand. Da kenn ich kein Pardon. Der Smart ist was für junge Hüpfer, nicht für reife Frauen wie sie. Sie will doch immer für voll genommen werden! Also soll sie jetzt mal die Limousine fahren.
     Es bricht ja einiges weg, im Moment, sogar mein Bett ... Das ist kein Witz. Ein Bettpfosten ist einfach weggeknickt, heute Nacht. Nein, ich habe es nicht wüst getrieben, wie denn, mit dem Arm und ohne Frau. Petra weiß das noch gar nicht. Aber ich habe es soweit wieder gerichtet. Sowas mach ich mit links, haha! Hat mich gut drei Stunden gekostet. Jetzt starrst du mich wieder an. Doch. Du starrst.
     Petra kommt, sobald sie kann. Dazu hat man eine Frau, denke ich doch. Aber es ist immerhin fast eine Tagesreise, und sie hat noch Dinge zu regeln, sagt sie. So ist das, wenn man sich mal braucht. Strümpfe anziehen ist furchtbar. Kannst du dir das vorstellen? Nein, nicht vorstellen, besser nicht, und nicht grinsen, bitte. Brot schneiden: ganz unmöglich. Aber dann kauft man halt geschnittenes. Und kriegt das Geld nicht aus dem Portemonnaie – elend! Du kommst dir vor wie der letzte Krüppel, Jahrzehnte gealtert, von einem Tag auf den anderen. Nein, ich brauche keine Haushaltshilfe, vorläufig nicht. Ich warte mal ab. Petra kann nicht einfach so aufspringen und ab die Post. Das ist klar.
    Wo ist die Presseerklärung? Sag Frau Hoffmann, die muss heute raus. Aber nicht an diesen Daam, die Hackfresse, auch wenn er noch so zuständig ist beim Tagblatt. „Fraktur“, siehst du! Die Hoffmann ist Profi. Die weiß, wie man sich intelligent ausdrückt. Wir sind ein Superteam, sag ich doch, da kann nichts schiefgehen. Eigentlich. Manchmal meine ich, ich träume. Auch das Erdbeben heute Morgen.
     Das Erdbeben, ja.
     Nein. Nicht verhört.
   Ich weiß, dass es kein Erdbeben gab! Sie rammen hier Rohre durch den Boden. Grabenlose Rohrverlegung, das wird es gewesen sein, nehme ich an. Du schaust schon wieder so – erschrocken. Ich hätte das nicht erwähnen sollen, das war jetzt ein Fehler. Doch! Widersprich mir nicht. Was hab ich dir neulich gesagt: Man muss nur mit Fehlern umgehen können … dann? Dann bringen sie einen ganz nach vorn, genau. Das ist so! Die werden sich wundern. Du musst los, es sieht nach einem Wolkenbruch aus, hast du was für die Papiere? Natürlich sieht es nach einem Wolkenbruch aus, der schwarze Himmel, schau ihn dir doch an. Ganz liebe Grüße an die Frau und die Kleinen. Nicht vergessen. Und mach im Treppenhaus Licht an, es ist doch finster wie Nacht.


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