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Swantje Lichtenstein: Kommentararten

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Jayne-Ann Igel

„Was im Inneren passiert“

Anmerkungen zu Swantje Lichtensteins neuem Band „Kommentararten“


Wir leben in einer Gegenwart, in der Kommentare oft gewichtiger erscheinen und von unausweichlicherer Präsenz als die Gegenstände, mit denen sie sich auseinandersetzen. Und kaum eine Website kommt heute ohne Kommentarfunktion aus – wenn doch, gewinnt schnell das Gefühl Oberhand, von Partizipationsmöglichkeiten ausgeschlossen zu sein. Kommentare verstehen sich in diesem Kontext (abweichend z.B. von einem klassisch wissenschaftlichen oder literaturkritischen) vor allem als Statement oder als Elemente eines Meinungsbildungsprozesses, und zumeist werden sie ad hoc abgegeben. Im Falle von Swantje Lichtensteins Neuerscheinung haben wir es mitnichten mit solcherart Kommentaren zu tun, sondern vielmehr mit poetischen Texten, denen ab und an der Charakter von Versuchsanordnungen eignet, mit Texten, die ihren Gegenstand umso wesenhafter hervortreten lassen. Im Sinne der Autorin ließe sich am ehesten sagen, dass  jegliche künstlerische Entäußerung eine Art Kommentar zur Wirklichkeit, zu einem Geschehen darstellt. Und wenn sie also von Kommentararten spricht, bedeutet das auch, dass sie in diesem Band ihre Möglichkeiten konsequent durchspielt, in unterschiedlicher Gestimmtheit.

Zunächst präsentiert sie das Material, im ersten Kapitel die „Sätze“, die ohne Interpunktion auskommen und in denen die Worte gleichwertig erscheinen. Hier herrscht Großschreibung, ganz gleich, ob es sich um ein Substantiv, Verb oder eine Präposition handelt. Es ist, als beanspruchte jedes Wort für sich einen eigenen Ereignisraum und verselbständigte sich im Sprechen. Im folgenden Kapitel, das den Titel „Avatare“ trägt ( man wird verleitet, an jene Wesen zu denken, die auf virtueller Ebene, stellvertretend für uns, als Masken miteinander in Beziehung treten) erkundet die Autorin Dimension und Kontext diverser Begrifflichkeiten bzw. Kategorien, deren Innenleben. Interpretament lautet eine davon, andere sind Scholie, Kommos (Klagegesang) und Auslegwaren. Möglicherweise fungieren die Worte selbst als Scheinwesen, als Vorspiegelung von etwas, Anklänge. Und dabei stellt sich gelegentlich die Frage: Wer spricht, und von wem?


Den Texten eignet z.T. der Charakter von poetisch verdichteten Erörterungen, an den Rändern der Sprachfähigkeit, die mit Gewinn gelesen werden können. Erörtert wird an einer Stelle z.B., ob und warum Textarbeit Kunst ist, dabei bringt sie wie beiläufig auch Hegel ins Spiel, durchaus als Anregung zu verstehen, sich mit dessen Kunst- und Ästhetiktheorie näher zu befassen. Hier finden sich auch schöne Beispiele, wie die Autorin über den Wortklang ihre Textarbeit vorantreibt und mit diesem dichterischen Verfahren andere Sinnebenen eröffnet: Dinge sind Gemachtes (gemach, gemacht, hier/ geht es langsam weiter). Wort entspricht nicht./ Das Reale. Die Symbole (-pole, weiblich). (S. 17)

Die im Kapitel „Logisches Kommentarium“ den Texten beigegebenen Kommentare wirken z.T. kryptisch, rätselhaft, obgleich sie Bezüglichkeiten zum jeweiligen Haupttext vorspiegeln. Ihnen eignet ein Hang zur Absenz, zum Eigenleben, zur ironischen Brechung eines Diskurses, der selbst im Verborgenen bleibt. Und das scheint Methode zu sein. Auf was beziehen sie sich? Am ehesten wohl auf einen Metazusammenhang, auf einen Prozess, denn es ist, als würden wir zu Zeugen eines Sprechens gemacht, von dem nur Versatzstücke an die Oberfläche gelangen. Es geht um so grundlegende Begriffe wie das Sein, das Nichts, die Bestimmung, das Selbst, die Leere, die auch als philosophische Termini beobachtet und ausgelotet werden. Anders als z.B. bei Elke Erb, wo Kommentare oft Weiterungen des poetischen Raums eines Textes darstellen, eignet ihnen hier eine andere Funktion, nämlich die der Absonderung von den Texten, denen sie doch als Subtext zugeordnet sind. Der Abstraktionsgrad des jeweiligen Haupttextes ist hoch, während die Kommentierungen quasi auf einer sinnlich psycho-somatischen Ebene operieren, ab und an auch etwas salopp daher kommen. Da ist etwa von Wortschmerzen die Rede, bierseligen Geschichten (S. 75). Zumeist ist der Punkt nicht auszumachen, wo der Beitext die Federführung übernimmt …

Auch etliche Texte der anderen Kapitel durchzieht diese philosophische Grundierung, so geht es im Kapitel „NEUDEF“ um die Sondierung von Räumen, des Außen und des Innen, des Verhältnisses dieser Kategorien zueinander. Überdies scheint es verhängnisvoll, die Dinge mit der Wahrheit zu verwechseln (S. 46). Es ist, als schauten wir durch ein Kaleidoskop, das alles dem Anschein nach Vertraute in immer wieder anderen Varianten präsentiert und verfremdet. An einer Stelle heißt es: niemand braucht das, was im Inneren passiert, im Außen (S. 40). Was nichts mit einer Absage an die Sinnhaftigkeit jeglicher Entäußerung zu tun hat, vielmehr bilden die Wahrnehmung von Strukturen, bilden Zuweisungen und Bestimmungen (z.B. von Räumen) den Fixpunkt. Und manches liest sich wie eine Einladung zum Experimentieren.

Das ist der Weg zurück. Das ist die tapetenlose
Stille. Da ist kein Leder, kein Stoff, kein Samt,
die Eierkartons hat man längst verbannt, das
Innen der Wände liegt offen und rau:
Grau. Und wenn es heruntertropft,
ziehen die Schlieren den Schleim mit sich,
der Kleister wird mit der Oberflächenspannung
durch teure Chemikalien versiegelt. Lack. Ab.
Versehentlich verwechselt man die Dinge
mit der Wahrheit. Stattet die Blicke und die
Gesten aus und ändert den Weg, also ihn zum
Ziel oder wechselt zum Produkt mit dem
Ergebnis, mit Steinen und mit Rückenwinden.
(S. 46)

FORMALE WERKSTÜCKE AKZENTUIEREN SALON-
ARTIGE RÄUME
(S. 47)


Einige der Texte in „NEUDEF“, wie der oben zitierte, weisen deutlich rhythmisierte Passagen auf, erinnern an Sprechgesänge. Interessant finde ich dabei das Verfahren, ihnen jeweils in Versalien gefaßte Konnotationen gegenüberzustellen, die in ihrer Lapidarheit, Ironie gelegentlich kontrapunktisch wirken oder Handlungsanweisungen gleichen und dazu verführen, die Texte wiederholt und „gegen den Strich“ zu lesen.

Am Ende des Bandes, im Kapitel „Tagen“, dem Charakter nach eine Art Log- oder Tagebuch, finden sich Gedichte, bei denen Bilder, Stimmungen, Beobachtungen und Reflexionen im Vordergrund stehen, oft Momentaufnahmen, wie diese:

Ich sah einen Jungen mit roten
Docs an einer Tüte saugen, ich sah
die Corner Boys aufpassen, ich sah
einen Kronleuchter auf der Straße, sah
Tauben in Autowaschanlagen baden,
sah Widderköpfe auf dem Parkplatz in
Blutlachen und einen kleinen Jungen
mit glitzerndem Anzug in starrend. Ich
sah Schichtungen von Speisen und
Plastiktüten mit Frischfleisch. Ich aß
die fedrigen Baumwollflöcken.
(S. 100)


Diese Texte wirken mitunter minutiös und entwickeln einen Sound, dem man sich kaum zu entziehen vermag, man möchte einfach mehr davon.


August 2015


Swantje Lichtenstein: Kommentararten. Berlin (Verlagshaus J. Frank) 2015. 100 Seiten. 13,90 Euro.

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