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Sunna Dís Másdóttir: Später, wenn du mit dem Sterben fertig bist

Werkstatt/Reihen > Reihen > Wortlaut Island
Foto © Saga Sig
Sunna Dís Másdóttir

Ljóðstafur Jóns úr Vör 2023 / Der Jón-úr-Vör-Poesiestab 2023

Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer



Später, wenn du mit dem Sterben fertig bist
Später, wenn du mit dem Sterben fertig bist, nehme ich dich von hier mit, wickle dich in die
dunkelrote Decke, unter der du dich versteckst, decke dich zu mit nepalesischer Yakwolle und stecke deine Zähne ein.
Vom Schwamm tropft das Wasser auf den Nachttisch. Er ist rosa wie Zahnfleisch auf seinem weißen Stiel, und du schließt den Kiefer um ihn wie ein Säugling an der Brust seiner Mutter, sobald er deine Lippen streift. Der erste Reflex ist der letzte, der vergeht.
Später, wenn du mit dem Sterben fertig bist, gehen wir in den Zirkus und essen Zuckerwatte,
die am Gaumen haftet, am Zahnfleisch klebt, gesponnener Zucker auf einem Stab aus Papier,
er zergeht auf der Zunge wie die Zeit vergeht, und ich reiche dir deine Zähne und sehe, dass
deine Hände wieder fliegen können.



Á eftir þegar þú ert búin að deyja

Á eftir þegar þú ert búin að deyja ætla ég að taka þig með mér héðan, sveipa um þig
dimmrauða teppinu sem þú felur þig undir, hylja þig nepalskri jakuxaull og stinga
tönnunum þínum í vasann.
Vatnið drýpur úr svampinum á náttborðinu. Hann er tannholdsbleikur á hvítum pinna og þú
læsir kjálkunum um hann eins og ungbarn um móðurbrjóst þegar hann strýkst við varir þínar. Fyrsta viðbragðið er það síðasta sem hverfur.
Á eftir þegar þú ert búin að deyja förum við í sirkus og borðum kandíflos sem
límist í góminn klístrast við tannholdið spunninn sykur á pappírsvafningi, hann leysist
upp á tungunni eins og tíminn og ég rétti þér tennurnar og sé hendur þínar verða
fleygar á ný.


Sunna Dís Másdóttir, geboren 1983, lebt als Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Dozentin für kreatives Schreiben in Reykjavík. Sie ist ausgebildet in Englischer Sprache und Literatur, Kulturmanagement und Kreativem Schreiben, das sie mit einem Master an der Universität von Island abschloss. Sie ist eine der sechs Dichterinnen, die das Poesie-Kollektiv Svikaskáld / Betrügerische Dichterinnen bilden und veröffentlichte in deren gemeinsamen Gedichtbänden (Ég er ekki að rétta upp hönd / Ich hebe nicht die Hand, 2017, Ég er fagnaðarsöngur / Ich bin ein Freudengesang, 2018 und Nú sker ég netin mín / Nun zerschneide ich meine Netze, 2019) sowie auf der Literaturplattform Starafugl. Ihre Artikel wurden in isländischen Zeitungen und Kulturzeitschriften wie Tímarit Máls og menningar und Börn og menning veröffentlicht. 2022 erschien ihr Gedichtband Plómur / Pflaumen.

Am 21. Januar 2023 wurde die isländische Lyrikerin Sunna Dís Másdóttir für dieses Gedicht mit dem Ljóðstafur Jóns úr Vör, dem Jón-úr-Vör-Poesiestab ausgezeichnet.

Die Jury begründete die Wahl ihres Gedichts zum Siegesgedicht u.a. wie folgt:
In einem außergewöhnlich gelungenen Prosagedicht wird ein sehr feines und bewegendes Bild tiefer Intimität in selten im Rampenlicht stehenden Situationen gezeichnet. Der Ton wird schon im Titel des Gedichts gesetzt. Er bricht traditionelle Sprache auf und schafft so eine neue und unerwartete Perspektive, ein neues Verständnis von Tod (…) „/ Später, wenn du mit dem Sterben fertig bist“ zeigt auf wundersame, innovative und einprägsame Weise, wie ein geliebter Mensch nach dem Tod im Leben, in den Herzen und sogar in der realen Vorstellung der Überlebenden weiterlebt. Der fließende Rhythmus und die Bildsprache des Gedichts verleiten den Leser dazu, immer wieder zu ihm zurückzukehren und es mehrmals zu lesen, während die Zeit, wie es im Gedicht heißt, „auf der Zunge zergeht“.

Das Übersetzer-Duo Gíslason/Schiffer gratuliert der Autorin aufs Herzlichste und fühlt sich geehrt, hier mit ihrer Zustimmung sowohl das Originalgedicht als auch seine Übertragung ins Deutsche veröffentlichen zu können.

Die Auszeichnung mit dem Ljóðstafur Jóns úr Vör / Der Jón-úr-Vör-Poesiestab ist Ergebnis eines alljährlichen Lyrikwettbewerbs, der seit dem Jahr 2001 in Kópavogur, der im Südwesten Islands gelegenen zweitgrößten Stadt des Landes, stattfindet, in Erinnerung an den einst dort lebenden und wirkenden Dichter und ersten Stadt-Bibliothekar Jón úr Vör.
Zu dem ihm zu Ehren stattfindenden Wettbewerb kann ein jeder unter einem Pseudonym ein Originalgedicht in isländischer Sprache einreichen. Nach einer Vorauswahl durch eine Jury treten so erfahrene Dichterinnen und Dichter und jüngere, unbekannte gleichberechtigt in einem Lesewettbewerb gegeneinander an. Der Preis besteht aus einer Geldprämie, vor allem aber erhält die preisgekrönte Dichterin, der preisgekrönte Dichter einen silberverzierten Spazierstock, der Jón úr Vör gehörte, – zur Aufbewahrung für ein Jahr. Am Stab ist eine Plakette mit dem Namen des jeweiligen Preisträgers, der jeweiligen Preisträgerin und dem Jahr der Verleihung angebracht. Verliehen wird die Auszeichnung stets am 21. Januar im Rahmen einer Feier zum Geburtstag des Dichters Jón úr Vör.
Geboren wurde Jón úr Vör an diesem Datum 1917 in Patreksfjörður im Nordwesten Islands, er arbeitete u. a. als Buchhändler, Redakteur und eben als Bibliothekar, vor allem jedoch war er Lyriker und trug insbesondere mit seinem Gedichtband Þorpið / Das Dorf (1946) zu einer Modernisierung der isländischen Poesie bei. Er starb am 4. März 2000.


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