Sunna Dís Másdóttir: Fünf Gedichte
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Sunna Dís Másdóttir
Fünf Gedichte
(Aus: Plómur / Pflaumen, Verlag Mál og menning / Sprache und Kultur, Reykjavík 2022)
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
FASAN
Eines
Morgens ist er da
regungslos
auf
dem Rasen zwischen Pflaumenbaum
und
Himbeerbüschen
regungslos
den
Kopf gekrönt
mit
Königsgrün
den
Kopf geneigt
beäugt
er mich durch
eine
rote Maske
er
sieht meine
und
läuft davon
NACHT
Der
Radweg ist feucht
der
Regen heute Abend hat die Nacht
aus
der Erde gezaubert
eine
dunkle Schlange
mit
glühender Dunkelheit in den Augen
die
im Takt
mit
meinen Atemzügen tanzt
in
meinem Land gibt es keine Schlangen
keine
Nächte
BUCHE
Jeden
Frühling tanzten wir
ringsum
die jahrhunderteralte Buche
die
Laubkrone so dicht wie die Jahre
die
sich nach mir streckten
einige
Frühlinge nachdem
ich
mich zum letzten Mal
vor
ihr verneigt hatte
war
sie tot
der
neue Schulbaum musste
Schritt
für Schritt
von
seinem Standort versetzt werden
damit
er nicht verwelkte
vor
lauter Schock mitsamt
den
Wurzeln ausgerissen worden zu sein
EICHEL
Ihr
lacht freundlich
über
mein Erstaunen
ich
fülle die Taschen mit Maronen
meine
Brust mit Glück
wenn
ich in den See wate
tut
sich in der hässliches Seitenstraße bei der Busstation
eine
Lücke zwischen den Apfelbäumen auf
die
Bäume blühen
das
Herz
ist
eine Eichel
ERDE
Damals im Herbst kehrten wir zurück und fanden
die Pflaumen als faulenden Haufen auf dem Boden liegen. Die
Haut
schlaff und aufgedunsen, fein gepudert wie eine gut gepflegte
Leiche.
Weiße Flecken auf der Oberfläche, wo der Schimmel durchgeschlagen
ist. Sie lagen vor meinem Fenster auf der harten
Erde und wurden den Winter über langsam
mit ihr eins. Ein Haufen verfaulender Pflaumen, bis
nichts mehr übrig war als die schleimigen Steine.
Sunna Dís Másdóttir, geboren 1983, lebt als
Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Dozentin für kreatives Schreiben in
Reykjavík. Sie ist ausgebildet in
Englischer Sprache und Literatur, Kulturmanagement und Kreativem Schreiben, das
sie mit einem Master an der Universität von Island abschloss. Sie ist eine der sechs
Dichterinnen, die das Poesie-Kollektiv Svikaskáld
/ Betrügerische Dichterinnen bilden, und veröffentlichte in deren gemeinsamen
Gedichtbänden (Ég er ekki að rétta upp hönd / Ich hebe nicht die
Hand, 2017, Ég er fagnaðarsöngur / Ich bin ein Freudengesang, 2018
und Nú sker ég netin mín / Nun zerschneide ich meine Netze, 2019)
sowie auf der Literaturplattform Starafugl. Ihre Artikel wurden in
isländischen Zeitungen und Kulturzeitschriften wie Tímarit
Máls og menningar und Börn og menning veröffentlicht. In 2022
erschien ihr Gedichtband Plómur / Pflaumen, dem die hier veröffentlichten
Texte entnommen sind.