Sujata Bhatt: Die Stinkrose
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Adela Sophia Sabban
Sujata Bhatt: Die Stinkrose. Gedichte.
Englisch – deutsch. Übersetzt von Jan Wagner. München (Edition Lyrik Kabinett
bei Hanser, Bd. 45) 2020. 160 Seiten. 20,00 Euro.
Als das Londoner
Kunstzentrum „Southbank Centre“ und die BBC die auf Englisch dichtende
indisch-amerikanische Dichterin Sujata Bhatt (*1956) im Jahr 1995 fragten, ob
sie sich an einer Serie von Geister-Gedichten beteiligen wolle, schrieb Bhatt ein
Gedicht über das Leben auf der Nordseeinsel Juist (wo Bhatt im Frühjahr
desselben Jahres mit ihrer Familie Urlaub gemacht hatte): Ineinandergeschobene
Stimmen von Inselbewohnern und Reisenden aus den vergangenen neunhundert Jahren
erzählen von den Gefahren der Gezeiten und der Strömungen, berichten von
verunglückten Schiffen und Sturmfluten. Das Juist-Gedicht ist mit elf Seiten das
längste Gedicht in dem im März in der Edition Lyrik Kabinett bei Hanser
erschienenen Band der Dichterin, „Die Stinkrose“. Mit den Gedichten der Sammlung,
die von Jan Wagner ins Deutsche übertragen wurden, liegt eine Auswahl aus
Bhatts bisher gedrucktem Werk vor, die dem deutschen Publikum die Variationsbreite
dieser einen dichterischen Stimme präsentiert; dazu trägt gerade auch das
Juist-Gedicht bei.
Beim
Gedichteschreiben, so meinte Sujata Bhatt einmal, sei es so, als würde sie
Bilder, Klänge, Rhythmen und ‚Gefühlstönungen‘ in Wörter überführen. Es
entstehen Gedichte mit genauen Beobachtungen der Menschen und ihrer
Tätigkeiten; Gedichte mit Nacherzählungen von Gedankengängen, die Verbindungen
zwischen Dingen, Orten und Menschen auf einfache Weise offenlegen; Gedichte mit
Beschreibungen von Szenen, von Dingen und von Tieren, auf wenige Gesichtspunkte
konzentriert. Sorgfältig sind die Zeilensprünge gesetzt, die die Wörter oder
Wortgruppen und ihre Bedeutungen ‚zur Sprache kommen lassen‘. Vieles hat
erzählerischen Charakter.
Thema in Bhatts
Gedichten sind wiederholt und in immer neuen Wendungen Sprache, Herkunft und
Heimat. Die jetzt in Bremen lebende Dichterin verbrachte die Kindheit in
Gujarat und Maharashtra und kam als junges Mädchen erst nach New Orleans,
später nach Connecticut. Ihre Gedichte schrieb sie von Beginn an auf Englisch,
einer Sprache, die sie erst im Alter von fünf Jahren erlernte. In „Die
Stinkrose“ ist Indien immer wieder präsent, etwa in dem Gedicht über ein Mädchen,
das Kuhfladen (als Brennmaterial) in einem großen Korb sammelt. Zugleich werden
die Spannungen zwischen Sprache, Herkunft und Heimat angesprochen, etwa wenn in
einem Gedicht mit Indien-Bezug gefragt wird: „Welche Sprache war nicht die des
Unterdrückers?“, oder wenn es im Gedicht „Nanabhai Bhatt im Gefängnis“, einem
Gedicht über den Großvater (einen Freund Mahatma Gandhis), der mehrmals inhaftiert
wurde, heißt: „[…] mein Großvater, mitten in der / Nacht, mitten im Schreiben,
/ zwischen den Ideen hält er inne, liest Tennyson, seinen Lieblingsautor – “. Vielleicht
allerdings klingen angesichts dessen in einem Gedicht („Jene, die fortgeht“) die
Worte zur Heimat etwas zu einfach: „Aber ich habe die Heimat nie verlassen. /
Ich habe sie mit-/ genommen – hier in meinem Dunkel / in mir selbst.“
Sujata Bhatts bekanntes,
in englischen Schulbüchern behandeltes Gedicht „Search for My Tongue“ über ihre
eigene Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit, in dem englische, in lateinischen
Buchstaben geschriebene Strophen mit solchen auf Gujarati in Gujarati-Schrift
abwechseln, wurde zwar nicht in „Die Stinkrose“ aufgenommen, aber auch so
scheint die Sensibilität für die eigene Sprache in vielen Gedichten durch.
Sprache
überhaupt ist ein bestimmendes Thema des Bandes. Bhatt interessiert sich nicht
nur für die eigenen, sondern auch für fremde Sprachen. In einem Gedicht über
Fledermäuse sind die Namen der Tiere aus verschiedenen Sprachen versammelt und
werden weitergedacht: „Zinzirritta“, „Hreremus“, „Pipistrello“, „Flittermouse“,
„Flackermaus“ … und in einem anderen Gedicht lernen wir, wie das estnische Wort
für Eidechse lautet („sisalik“). In dem mehrstimmigen Chor des Juist-Gedichts
erklingen auch plattdeutsche Verse. Aber all dies hat nichts von einem Raritätenkabinett
an sich: Es geht um die Gegenwart der Vielfalt.
Mit Vergleichen,
mit Brückenschlägen zwischen Dingen, Lebewesen und menschlichem Tun werden in
Bhatts Gedichten neue Sinnzusammenhänge sichtbar, werden Sachverhalte, wie etwa
Politik oder gesellschaftliche und soziale Probleme wie selbstverständlich in
den Denkraum von vermeintlich Konkreterem gestellt. Die glänzende Haut der
Fledermäuse wird als dünne Seide, „dünn wie unsere“, bezeichnet, die seidenen Saris
der Mutter im Schrank werden mit „wohlgenährten Schlangen“ verglichen, die
dünnen Wurzeln der Radieschen werden beim Radieschen-Schneiden zu den Schwänzen
von Labormäusen in Beziehung gesetzt, denen Enzephalitis-Viren injiziert werden
(Bhatt arbeitete einige Jahre in der medizinischen Fakultät der Johns Hopkins
University). Ein Gang über die Brooklyn-Bridge wird verbunden mit Gedanken zu
Flüchtlingen und zu versehentlich getöteten Kindern, die bei Auseinandersetzungen
in die Schusslinie geraten.
Auf
leise-intensive Weise ist so in den Gedichten Bhatts neben Bildern, Klängen und
dem eigenen Empfinden auch Politisches präsent, ebenso das Frau-Sein. In einem
Gedicht geht es um die Beschneidung eines jungen Mädchens bzw. um die Teilnahme
an der Beschneidung als Zuschauerin eines Films. „Ist das Voyeurismus?“, fragt
sich die Dichterin; oder ermögliche das Zusehen, von dem Gesehenen mit Worten
Zeugnis abzulegen. Bhatt schreibt zugleich auch erotische Gedichte, zwei davon
enthält die Sammlung. Dass die Dichterin gerne das Zwiegespräch mit Malern und
ihren Gemälden sucht (ihr Gedichtband „A Colour for Solitude“ aus dem Jahr 2002
befasst sich mit der Malerin Paula Modersohn-Becker), zeigt im vorliegenden Band
das Gedicht „Papageien“, das Frida Kahlo gewidmet ist.
Die titelgebende
„Stinkrose“ ist übrigens der Knoblauch, der in einem eigenen Gedicht besungen
wird, aber auch sonst wiederholt auftritt. Hier besteht eine inhaltliche Verbindung
zum Übersetzer des Bandes, Jan Wagner. Auch er nimmt bekanntlich immer wieder
einzelne Pflanzen, Früchte und Tiere zum Ausgangspunkt seiner Gedichte, etwa
den Giersch (der bei der Vorstellung Wagners bei Lesungen mittlerweile kaum je
vergessen wird), die Mücke, die Maulbeeren. Dass er die Gedichte Bhatts
übertragen hat, passt also, und er macht es gut. (Nur eines sei angemerkt: Sollte
man „mind“ am Ende des Juist-Gedichts, das einen Verweis auf Wallace Stevens’
Gedicht „The Idea of Order at Key West“ enthält – dessen Idee von „Ordnung“
hier allerdings verkehrt wird – wirklich mit „Gemüt“ übersetzen?)
Die in „Die
Stinkrose“ gesammelten Gedichte präsentieren eine wache Achtsamkeit in Sprechen
und Sehen, eine Achtsamkeit gegenüber dem, was uns umgibt und was uns ausmacht;
es lohnt, das wahrzunehmen.