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Sudabeh Mohafez: Behalte den Flug im Gedächtnis

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Gerrit Wustmann

Ob man sich verabschiedet, ob man sich begegnet
Sudabeh Mohafez' Erzählungen pendeln zwischen Deutschland und Iran


„Behalte den Flug im Gedächtnis“. So lautet der Titel der Erzählungen von Sudabeh Mohafez, die gerade in der Edition Azur erschienen sind. „Behalte den Flug im Gedächtnis. / Der Vogel ist sterblich!“ So lauten die wohl berühmtesten Verse der iranischen Dichterin Forugh Farrochsad (1935 – 1967), der die iranische Lyrik des 20. Jahrhunderts mehr zu verdanken hat als jedem anderen Dichter der letzten Jahrzehnte.

„behalte den flug im gedächtnis“, das ist auch der Titel des einzigen Gedichts, das die Autorin unter die Erzählungen geschmuggelt hat, und wieder warte ich sehnsüchtig darauf, dass nach Romanen, Erzählungen, Mikroromanen und Kürzestgeschichten endlich ein Lyrikband aus ihrer Feder erscheint:

behalte den flug im gedächtnis

ob schnee lag. ob uniformierte patroullierten. ob
es morgen war oder abend. ob viele taschentücher
aufgebraucht wurden. ob ich müde war. ob über-
haupt jemand an der absperrung stand. ob die luft
anders roch als sonst. ob die grenzer am flughafen
nett waren oder bedrohlich. ob wir gefrühstückt
hatten an diesem tag. ob ich ein buch im handgepäck
hatte. ob ich mich von irgendjemandem verabschie-
det habe. ob die sonne schien. ob ich angst hatte. ob
ich einen fensterplatz oder einen am gang hatte. ob
ich den berg in wahrheit überhaupt sehen konnte.
ob die geschwister quengelig waren. ob wir abends
irgendjemandem bescheid gegeben haben. ob ich
verstand, warum die frau ständig von heimat sprach.
ob ich ahnte, dass der mann nicht ahnte, dass es für
immer war. ob ich vorher noch einmal durch den
garten gegangen bin. ob jemand die tür hinter uns
schloss. ob ich mich noch einmal umgedreht habe.         

Die Anknüpfungen an Forugh sind sehr subtil, aber vorhanden. Nicht nur hier, sondern auch in der Prosa, die so poetisch ist, wie das Gedicht prosaisch ist. Es geht um Ichfindung und Auflehnung, um die Frage, was Heimat ist und was Kultur damit zu tun hat, ums Überleben und um die Liebe beziehungsweise ihre oft absurde Unmöglichkeit. Eine Verneigung vor der großen iranischen Dichterin? In gewisser Weise ja. Ein Abarbeiten an ihr? Nein, keineswegs. Der Titel ist Programm. Inhaltlich. Nicht in dem Sinne, dass pausenlos eine Verbindung zu der Zitierten hergestellt wird. Das sei erwähnt, um zu klären, was den Leser erwartet.

Mit dem Berg im Gedicht ist der Alburs gemeint, der majestätisch im Norden Teherans aufragt, Wahrzeichen und Sehnsuchtsort, manifestierter Gegensatz, wenn selbst im brütend heißen teheraner Hochsommer seine Spitzen weißbedeckt weit über der Millionenmetropole schimmern. Der Berg taucht öfter auf in den Erzählungen. Mal ist er sichtbar für das kleine Mädchen, das im Winter dem kleinen deutschen Jungen zu erklären versucht, dass der Weihnachtsmann erst morgen kommt, dass der Mann auf dem Dach der Barfi ist, der den Schnee runterschippt. Als die Dinge klarer werden, taucht auch der Berg aus dem Nebel wieder auf. Die Protagonistin in „Sediment“ sieht ihn in Berlin, dieser grässlichen Stadt, die so einen Berg bitter nötig hätte. Da taucht er plötzlich auf, über der Spree: „Er ist wieder da und hat mich überrascht, wie immer. Er kommt und geht, wie es ihm passt.“ Später im Buch, in der längsten Geschichte, spielt er wieder eine Rolle, diesmal im Leben von Nahid, die in den Siebzigern, noch vor der Revolution, in den Slums am Südende Teherans lebt und sich allmorgendlich aufmacht, um in den Villen der reichen Europäer im Norden zu putzen. Dort, wo der Berg sich erhebt. Und der Berg ist nicht in jeder Geschichte. Er kommt halt, und er geht, so wie es ihm passt. Und doch wird er zu einer Art rotem Faden.

Es ist das erste Mal, dass Sudabeh Mohafez Texte gesammelt hat, in denen sie sich auch mit ihren eigenen iranischen Wurzeln beschäftigt. Weil sie, wie sie im Vorwort schreibt, bei Lesungen immer wieder gemerkt hat, wie groß das Interesse des Publikums ist. Die Erzählungen sind leise, geduldige Blicke in die Leben ihrer Figuren, die oft, aber nicht immer, zwischen Iran und Deutschland pendeln, das eine im anderen Land entdecken, der Frage der Herkunft und Zugehörigkeit nachgehen und der Frage, was eigentlich Kultur ausmacht. Und dazwischen finden sich tragikomische Episoden wie die der Ausländerin in Berlin, die den versoffenen Neonazi tröstet, dessen Freundin sich umgebracht hat, und sich, obwohl mitfühlend, doch dauernd fragt: Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?

Eine Frage übrigens, die den zweiten roten Faden des Buches bildet. Beantwortet wird sie nie. Sie wird stattdessen auf die unterschiedlichsten Weisen gefragt. Ein Buch, das den Blickwinkel verschiebt, das macht es so lesenswert.

Sudabeh Mohafez: Behalte den Flug im Gedächtnis. Erzählungen. Dresden (Edition AZUR) 2017. 128 Seiten. 17,90 Euro.
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