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Streiflichter. Fénycsóvák

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Armin Steigenberger

Der grünende Wald der Gräber und das absolut vertrackte Einfache


Vor der Präsentation der Streiflichter, der Anthologie ungarischer Dichtung, im Lyrik Kabinett München im März 2018, hatte ich eher wenig Berührung mit Poesie aus Ungarn. In Deutschland ist, zumindest in meiner Wahrnehmung, von ihr nicht allzu viel bekannt. Auf Anhieb fallen mir zwei Namen ein – es sind zwei Autorinnen mit ungarischen Wurzeln: Kinga Tóth¹, Performerin und Poetin, erobert seit einigen Jahren sehr umtriebig auch die deutschen Lesebühnen mit unkonventionellen Klang- und Soundexperimenten. Orsolya Kalász erhielt für ihren Band Das Eine, 2016 in der brueterich press erschienen, 2017 den Peter-Huchel-Preis. Sie hat neben Árpád Hudy eines der Nachworte verfasst. „Die Autoren im Band repräsentieren drei aufeinander folgende Generationen aus dem ungarischen Sprachraum, auch die Poesie Siebenbürgens ist durch maßgebliche Stimmen vertreten.“ In ihrem Vorwort beschreibt Julia Schiff den Prozess, wie sie ihre Autor*innen ausgewählt hat. Einige Texte im Band sind bereits historisch und teils sogar noch der klassischen Moderne zuzuordnen. Sieben Autor*innen in der Sammlung sind heute leider nicht mehr am Leben.

„Mit großem Gespür für poetische Qualität hat Julia Schiff, geb. 1940 im Banat, über Jahrzehnte ungarische Dichtung leidenschaftlich, hingebungsvoll und kompetent ins Deutsche übertragen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Ungarn veröffentlicht das Lyrik Kabinett jetzt eine Blütenlese dieser unermüdlichen Kulturvermittlung: die Anthologie Streiflichter, die deutsche Leser für die ungarische Lyrikszene sensibilisieren und den ungarischen Dichterinnen und Dichtern zeigen möchte, dass sie hier wahrgenommen werden.“² Daniella Jancsó und Wolfgang Berends haben an diesem Vorhaben redaktionell mitgewirkt. Dass nun, heraus-gegeben vom Lyrik Kabinett München, ein ganzes Buch mit ungarischer Dichtung existiert, gibt deutschsprachigen Lesern die Chance, eine Lücke zu schließen und die Möglichkeit, sich umfassend und intensiv mit ihr zu befassen.

Der Abend im Lyrik Kabinett bleibt mir nachhaltig in Erinnerung. Stark im Kopf ist mir Julia Schiff, wie sie eingangs mit fragiler Stimme das Buchprojekt vorgestellt hat, das für sie zweifellos eine Art Lebenswerk darstellt: Wie sie den Prozess beschrieben hat, mit den Autoren in Kontakt zu treten, und wie dabei der Gedanke nach und nach gereift ist, trotz vieler Widerstände diesen Band zu machen. Seit Mitte der 1980er Jahre hat sie begonnen, ungarische Dichtung zu übersetzen. Es waren einige der Autoren anwesend, die ihre klangvollen Gedichte im ungarischen Original vorgetragen haben: Gábor Schein, Ákos Győrffy, und Tibor Zalán, die gleichzeitig die drei Generationen der im Buch vertretenen Autor*innen verkörpern. Durch den Abend führte Enikő Dácz, Mitarbeiterin am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas. Orsolya Kalász hat die deutschen Übersetzungen mit vorgetragen.

Mit einem Huldigungstext an Attila József beginnt der Band.

János Pilinszky
Attila József

Soldat des Universums,
Landser des Elends,
haben wir überhaupt etwas für ihn getan,
wenn wir den Toten zurückbetten
in den grünenden Wald der Gräber.
                 
In diesem Gedicht von 1998, das allein mit dem grünenden Wald der Gräber ein sehr einzigartiges Bild findet, wird dem ungarischen Dichter ein Denkmal gesetzt. „In Ungarn zählt Attila József zu den größten Dichtern des Landes. So wird seit 1964 in Ungarn der Geburtstag Józsefs als „Tag der Poesie“ gefeiert, was von der Wertschätzung der Nachwelt zeugt.“ (Wikipedia). Das Gedicht huldigt mit Attila Jószef dem bedeutendsten Dichter Ungarns, der bereits im Alter von 32 Jahren verstorben ist³. Es gibt in den Streiflichtern weitere Texte, die explizit bzw. in Widmungen anderen Dichtern ihre Wertschätzung ausdrücken. Neben der bewussten Erwähnung ungarischer Berühmtheiten wie József, Márai und Bartók lassen sich Anknüpfungen an René Char, Friedrich Hölderlin, Samuel Beckett, Tomas Tranströmer, Allen Ginsberg oder den Maler Van Gogh finden.

Gerade in den Gedichten am Anfang es Buches beziehen sich viele der eindrucksvollen Metaphern mit überraschenden Bildfindungen auf Natur, auch wenn sie „inwendig“ etwas ganz anderes verhandeln. Hier werden starke Naturbilder oft zum „Austragungsort“ für geradezu existenzielle Fragen.

Ágnes Nemes Nagy
Bäume

Lernen muss man. Die Bäume im Winter
Die über und über bereiften.
Unbewegbare Vorhänge
(…)                                                                (1967)
            
Die Vorstellung, Bäume lernen zu müssen, es überhaupt zu können, fasziniert mich. Viele der älteren Gedichte haben eine gewisse Lakonie, ihre Sprache ist verdichtet, oft sind die Texte zu Strophen geformt und konfrontieren mich immer wieder mit eigenwilligen Denkanstößen. Die meisten neueren Gedichte in der Anthologie sind eher lang. Versmaß und gebundene Sprache sind dabei eher selten. Der Text Triptichon (Triptychon) von Zsuzsa Rakovszky hat Anklänge an Reim, der aber locker gehandhabt wird; es sind in einigen Fällen eher Assonanzen. Teils gibt es Stabreime, was die klangvollen Gedichte unterstreicht, wie im Text Valami (Etwas) von Péter Vasadi, das mit Áthúzza magát. Áthúz. einsteigt (Es durchdringt. Es dringt ein.) und weiter unten fortsetzt mit Àtjárja. Àténekli. Àtatlakítj (Es durchzieht sie. Es durchsingt sie. Es formt sie um). Imre Babics setzt sich mit Haiku auseinander, indem er um sie herum regelrechte Metagedichte ausformt. Im Text Lehetne címer (Es könnte auch ein Wappen sein) von Erzsébet Tóth gibt es acht Verszeilen, die alle mit dem Buchstaben A beginnen. Übersetzt klingen sie so (Zeile 2 bis 9):

(...)
Und die Dinge von einst, das Wohlbekannte von damals!
Die schlängelnden Bananen-Reihen.
Die Nikolaus-Invasion.
Das Diamantenhaus. Die Pelze.
Die Auslagen. Die Prahlerei mit der Unterwäsche.
Das Gedränge. Die Angst vor dem Gedränge.
Auch heuer werde ich kein Dekolleté tragen.
Weihnachten.
Auch diesmal brauche ich kein Geschenk,
aber jemand soll mir den Bratäpfel-Duft
der Abende zurückgeben, und zum Sommer
die moosbedeckte Bank im Kirchhof.                 (1997)
                          
Wie in diesem Gedicht, das für mich auch Töne einer wütenden Anklage hat, gibt es einige Gedichte, die sich um Verlust drehen, wo ein gewisser Abgesang auf alles Neue stattfindet. Im Gedicht Èdes hazàm (Lieb Vaterland) von Ottó Orbán aus dem Jahr 2001 wird vor allem in politischer Hinsicht der Rechtsbeugung, Korruption und Nazivergangenheit, sowie einem grassierenden Sprachgebrauch („der aus dem Menschen Schlachtvieh macht“) und einer „Ungarntümelei“ explizit der Spiegel vorgehalten.

Im Gedicht Márai kehrt heim aus Paris wird eine weitere Referenz erwiesen, nämlich dem ungarischen Schriftsteller Sándor Márai. Ein Zuwachs an globalisierter Urbanität wird konstatiert, Paris wird mit Pest (dem Stadtteil von Budapest) verglichen bzw. überblendet. Eine gewisse Hassliebe wird deutlich, sich mit dem abzufinden, was die eigene Heimat bedeutet.

György Gömöri
Márai kehrt heim aus Paris

zerlumpte Kinder, Frauen mit Kopftüchern,
Harngestank in fauliger Hitze, „Bonbons-Zigaretten!“ – Rufe
aus dem Zugfenster gesehen bleibt das Land zurück –
aber esistgutso und noch einmal esistgutso

(…)

mach ich mich auf in das ungeheure Pest,
die Menschen sind auffällig gut oder auffällig schlecht
gekleidet es gibt sehr wenige Autos,
das Gepolter schäbiger Straßenbahnen setzt sich durch,
staubig ist diese Stadt, abgenutzt, traurig,
sie stellt ihren Neontand herausfordernd zur Schau,
ist aber trotzdem die meine    ihr gehörte meine Jugend
jetzt werde ich hier leben, schreiben    bin da    heimgekehrt                       (1997)
                                     
Im Gedicht La pastorella von Márton Kalász könnte man, wenn auch sehr reduziert, fast Vanitas-Elemente entdecken. Und doch dreht sich alles nur scheinbar harmlos um den eigenen Garten und die „schmucke Karettschildkröte“, die der Hund „weggeschnappt“ hat und die nach Auftauchen des Abbés wie von Zauberhand wieder da ist. Die Bildwelten des Textes kann man auch als Bezugnahme auf Émile Zolas Die Sünde des Abbé Mouret sehen.

Ottó Fenyvesi bringt 1993 ein langes Parlandogedicht, in dem er gewisse Formen westlichen Lebensstils in einem Schnelldurchlauf durch die Historie teils idealisiert, teils schmäht. Hier ist Allen Ginsberg die Referenz.
 
Ginsberg anhängend

ich verabschiede mich von der Kommunistischen Partei
und von Mutters zerrissenem Strumpf –
ich zitiere Ginsberg (…)

Charlie Parker sickert sanft aus dem Wasserhahn,
und Coca Cola auf dem Amtsweg,
während die albanisch-serbische Sezession den Himmel kräuselt,
eigentlich müsste man etwas anderes sagen,
etwas über das absolut vertrackte Einfache,
über die Rambo-Wirklichkeit,
den künstlerisch-sexuellen Gemischtwarenhandel,
den verfetteten Boogie Woogie (…)

währenddessen man Ginsberg einbürgert,
eines von Ginsbergs Langstrecken-Poemen. (...)
                                 
Interessant ist, dass neuere Gedichte im Buch sich eher wie „Langstrecken-Poeme“ ausnehmen. In diesem Text ist die Ambivalenz komplett sichtbar. Faszinierend der Vers

eigentlich müsste man etwas anderes sagen,
etwas über das absolut vertrackte Einfache
    
Häufig hatte ich bei der Lektüre den Eindruck, anhand einer (ich nenne sie:) sehr ehrlichen und zugleich frohen Bildlichkeit wird genau das „absolut vertrackte Einfache“ dargestellt. Was auch immer das ist – bei mir kommt etwas an. Es ist mutig, es so zu nennen. Einige Texte drehen sich um Erkenntnisgewinn oder versuchen z. B. ganz lapidar, anhand der Namen vieler Verstorbener, die Frage zu stellen: und die Erde, wo verbirgt sie ihre Gebeine? (Imre Oravecz, Andere Frage).
 
Orsolya Kalász geht in ihrem Nachwort auf Julia Schiff ein, „wie sie Autoren und Gedichte auswählt“, indem sie Dichter*innen als „Seelenverwandte“ betrachtet. Das Ergebnis ihrer jahrzehntelangen Anstrengungen ist dieses „Sprachbauwerk“, das die Leser in ihren Händen halten.

Nach der Lektüre bleibt der Eindruck, einen sehr gelungenen Einblick in die ungarische Dichtung bekommen zu haben, der nichts ausspart, der im Gegenteil ihre Vielschichtigkeit und den Prozess deutlich macht, wie sich die ungarische Dichtung von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute entwickelt hat. Árpád Hudy zeigt in seinem ausführlichen Nachwort die geschichtlichen Stationen der „lebendigen und farbenfrohen ungarischen Lyrik“ auf.


Die Übersetzerin des Bandes, Julia Schiff, wurde 1940 in Detta im Banat geboren und als 11-Jährige mit ihrer Familie in die Bărăgan-Steppe verschleppt. 1956 durften die Deportierten zurückkehren. Nach einer Ausbildung zur Grundschullehrerin studierte Schiff an der Universität Temesvár/Timişoara mit Abschluss der Philologischen Fakultät (Rumänisch/ Französisch). 1981 übersiedelt sie mit ihrer Familie in die Bundesrepublik. Fünfzehn Jahre lang war sie am Institut für Romanische Philologie der Universität München tätig. Heute lebt sie als freischaffende Schriftstellerin, Essayistin, Literaturkritikerin und Übersetzerin in München. Veröffentlichungen u. a. Steppensalz (2001), Nachtfalterzeit. Gedichte (2008), Reihertanz (2011), Verschiebungen (2013) und Katzengold (2016). An Übersetzungen erschien von ihr zuletzt: György Mandics / Zsuzsanna M. Veress: Aus den Aufzeichnungen von János Bolyai. (Pop-Verlag 2017).
Orsolya Kalász, geboren 1964 in Dunaújváros, ist heute eine der zentralen Vermittlerinnen zwischen der ungarischen und deutschen Kultur. In den 1970er Jahren wuchs sie in eine ungarisch-deutsche Zweisprachigkeit hinein. 1980 bis 85 studierte sie Germanistik, Ungarische Literatur und Sprachwissenschaft an der Universität Eötvös Loránd in Budapest. Seit 1984 arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin. Mit Babymonster und die Gärtner legt sie 1997 ihren ersten Gedichtband vor, für Das Eine erhielt sie 2017 den Peter-Huchel-Preis.
Der Journalist und Sprachwissenschaftler Árpád Hudy, 1955 in Arad (Rumänien) geboren, war zunächst in Ungarn Mitarbeiter u. a. des Klauseburgener Rundfunks, der ungarischen Sendung des Rumänischen Fernsehens u. a.
1986 übersiedelte er nach Deutschland, 1988 bis 1993 bei der ungarischen Sendung des Radio Free Europe beschäftigt. 2000 bis 2004 Korrespondent aus Deutschland des Arader Tagesblatts Nyugati Jelen, seit 2001 Redakteur von dessen literarischem Beiblatt Irodalmi Jelen, in dem er zudem mit maßgeblichen Beiträgen vertreten ist.
Wer sich näher mit ganz aktuellen ungarischen Gedichten befassen möchte, findet unter der Rubrik Dies wird die Hypnose des Jahrhunderts – Ungarische Lyrik der Gegenwart eine Zusammenstellung, ausgewählt von Orsolya Kalász und Peter Holland.


¹ Von ihr, die erst in den letzten Jahren aktiv wurde, ist in der Anthologie kein Beitrag enthalten.
²
Website des Lyrik Kabinetts München, https://www.lyrik-kabinett.de/veranstaltungen/event/streiflichter-fenycsovakungarische-gedichte-als-neues-blaues-buch-des-lyrik-kabinetts/
³
Hier sollte die Besprechung von Mario Osterland zu Attila Józsefs Buch “Liste freier Ideen” erwähnt werden, das kürzlich bei roughbooks erschienen ist http://signaturen-magazin.de/attila-jozsef--liste-freier-ideen.html
Márton Kalász ist der Vater von Orsolya Kalász.
Die Biografien sind ebenfalls der Website des Lyrik Kabinetts entnommen.


Streiflichter. Fénycsóvák. Eine Anthologie ungarischer Gedichte. Ungarisch – deutsch. Auswahl und Übersetzung: Julia Schiff. Mit Nachworten von Orsolya Kalász und Árpád Hudy. München (Stiftung Lyrik Kabinett) 2018. 224 Seiten. 24,00 Euro.
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