STRECKENLÆUFER, Heft 34
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
STRECKENLÆUFER, Heft 34
Das Verschwinden des E

In einem
der berühmtesten Prosawerke der literarischen Avantgarde, dem Roman „La
disparition“ des französischen Sprachartisten Georges Perec (1936-1982), ist
der Buchstabe „E“ der Furie des Verschwindens zum Opfer gefallen. Aufgrund
einer Wette mit einem Schriftstellerkollegen hatte es sich Perec irgendwann in
den frühen 1960er Jahren in den Kopf gesetzt, einen Roman zu verfassen, der auf
den im Französischen wie im Deutschen häufigsten Buchstaben, den Vokal „e“,
verzichtet. Damit begann eins der abenteuerlichsten Experimente der modernen
Literatur-geschichte, in dessen Verlauf der Autor tatsächlich der selbst
auferlegten Regel in allen Konsequenzen folgte und auf 300 Seiten einen
bizarr-verspielten Kriminalroman entwarf, der 1969 im französischen Original
erschien und siebzehn Jahre später in der kongenialen Übersetzung Eugen Helmlés
auf deutsch. Unter dem Titel „Anton Voyls Fortgang“ schuf Helmlé eine sehr
freie Übersetzung des Perec´schen Werks, wobei durch die Aussparung des „E“ auch
in der deutschen Übertragung eine schöpferische Eigendynamik in Gang kam, so
dass man in diesem Fall von einer ästhetischen Autonomisierung der Übersetzung
gegenüber dem Original sprechen kann. Zu welchen subtilen Kuriosa und
ästhetischen Bizarrerien es dabei gekommen ist, erhellt nun das aktuelle Heft
(Nr. 34) der in Saarbrücken edierten Literaturzeitschrift STRECKENLÆUFER.
Hier ist
nämlich ein äußerst geistreiches und witziges Gespräch zwischen dem Schriftsteller
und ehemaligen SR-Redakteur Ralph Schock und dem 2018 verstorbenen Dichter Arnfrid
Astel zu lesen, das alle bisherigen Mutmaßungen über die Entstehung des
Perec-Romans „La disparition“ auf den Kopf stellt. In diesem erstmals
publizierten Gespräch aus dem Jahr 2013 wird zum Beispiel nachgewiesen, dass
Helmlé - von dem meisten Lesern unbemerkt – sich ein Vergnügen daraus machte, dem
Perec-Original drei Seiten auf deutsch hinzuzufügen, die in der französischen
Ausgabe nicht enthalten sind. Arnfrid Astel wiederum, der Perec und Helmlé sehr
gut kannte, erläutert hier eine ebenso gewagte wie originelle These, wie Perec
auf die Idee kam, auf den Buchstaben „E“ in „La disparition“ zu verzichten. Zu
den Standards der Perec-Exegeten gehörte bislang die Vermutung, dass die Eliminierung
des „E“ nicht nur mit der Programmatik der sogenannten OULIPO-Gruppe (Ouvroir
de Littérature Potentielle) zu tun hat, der Perec angehörte und die sich zum
Ziel gesetzt hatte, Literatur nach bestimmten „contraintes“ (= Zwängen) bzw. Regelvorgaben
zu verfassen. Hinzu kam das biografische Trauma Perecs, der als Kind miterleben
musste, wie seine jüdische Mutter verschwand bzw. von den Nazis verschleppt und
in Auschwitz ermordet wurde. Arnfrid Astel legt nun im STRECKENLÆUFER eine andere biografische Spur. Er
verweist darauf, dass Perec einige Zeit in der Bibliothek in Royaumont nördlich
von Paris gearbeitet hat, wo er auf einen dort vorhandenen Band des antiken
Schriftstellers Plutarch gestoßen sei, in dem ein Kapitel Über das
Verschwinden des Epsilons am Apollontempel in Delphi enthalten ist. In der
französischen Ausgabe von Plutarch wurde also La disparition d´epsilon
thematisiert, woraus Perec die Idee zur Eliminierung des „E“ im Roman gewonnen
haben könnte. In weiteren kühnen Spekulationen befasst sich Astel mit der
graphischen Gestalt des Epsilons, seiner Etymologie und seiner Stellung im
griechischen Alphabet.
Das
antikisierende Denken Astels wird nur diejenigen überraschen, die diesen
Dichter und Epigrammatiker nur als dezidiert politischen Autor kennen, der in
den 1970er Jahren „Strafzettel für den Rechtsstaat“ ausstellte. Dabei übersah
man, dass der studierte Biologe und passionierte Antike-Kenner Astel nicht nur
radikale politische Gedichte schrieb, sondern auch eine zarte Naturdichtung und
mythologisch inspirierte Epigramme. Von seinem Dichterfreund Johannes Bobrowski
wurde bereits der junge Astel 1964 ehrfürchtig als „Alkibiades“ angesprochen,
mit dem Namen des athenischen Staatsmanns also, der den Typus des unabhängigen,
ideologieresistenten Staatslenkers verkörpert. In einem weiteren exzellenten
Beitrag im STRECKENLÆUFER
dechiffriert die in Saarbrücken lehrende Komparatistin Irina Rosenau ein
Porträt Astels im Konvexspiegel, ein Foto-Moment, festgehalten durch den
Schriftsteller Klaus Behringer. Rosenau vergleicht dieses Foto des
fingerzeigenden Astel im Konvexspiegel mit einigen Meisterwerken der
Kunstgeschichte, etwa mit dem „Selbstporträt im Konvexspiegel“ des
italienischen Malers Parmigianino aus dem 16. Jahrhundert. Eine phantastische Erzählung
des jungen Schriftstellers Lukas Wedeking über die Erfindung des „Weißen Buches“,
das wie ein Rhizom sich in allen Texten unserer Kultur ausbreitet und dabei
selbst unsichtbar bleibt, rundet dieses experimentell ausschweifende und dem
Gedenken Arnfrid Astels verpflichtete Heft des STRECKENLÆUFERS ab.
STRECKENLÆUFER, Heft 34, c/o Peter Herbertz, In der
Fröhn 13, 66125 Saarbrücken, www.pocul.de, 52 Seiten, 7 Euro.