Steven Uhly: Dichtung und Gesellschaft
Dichtung und Gesellschaft
von Steven Uhly
I. Adornos Ansatz
Im Jahr 1951 hielt Theodor W. Adorno eine „Rede über Lyrik und Gesellschaft“. Er postulierte unmittelbar in der größten Zurückgezogenheit des lyrischen Gedichtes, d.h. textimmanent, einen wesentlichen Bezug zur Gesellschaft. Damit versuchte Adorno eine typische Entwicklung der deutschen Lyrik dialektisch in ihr Gegenteil zu verkehren, nämlich den Rückzug des Subjekts in den idealen Entwurf einer Eigentlichkeit, wo das Gesellschaftliche, das Öffentliche gerade nicht zu Wort kommen sollte. Diese Entwicklung war bereits seit der Romantik in Gang.
Adorno wollte mit seiner Rede deutlich machen, dass diese Flucht ins Innere misslingen muss, weil das Gesellschaftliche immer gegenwärtig sei. Stärker noch: Gerade in der Art und Weise des Rückzugs offenbare sich das Verhältnis des lyrischen Subjekts zur Gesellschaft. Seiner Argumentation lässt er einige Gedichtinterpretationen folgen, wobei er sich v.a. auf Joseph von Eichendorff konzentriert. Über ihn schreibt Adorno:
„Das vorbürgerliche Ferment im Eichendorffschen Konserva-tivismus, das über die Bürgerlichkeit selber die Unruhe von Sehnsucht, Ausbruch und seliger Nutzlosigkeit bringt, reicht aber tief hinein bis in seine Lyrik.“¹
Adorno erklärt ausführlich Eichendorffs Position und verankert sein lyrisches Schaffen als eine Gegenposition zu seinen in Prosa geäußerten Positionen.² Im Anschluss analysiert Adorno einige Gedichte, wobei jedoch immer deutlicher wird, dass der Bezug zum Gesellschaftlichen nicht so sehr im Gedicht selbst, als vielmehr im von Adorno vorgegebenen biographischen Kontext „Eichendorff“ oder in den Zitaten seiner Vorgänger bzw. Zeitgenossen liegt. Textimmanent geht er jedenfalls nicht vor.
Woher rührt dieser methodische Mangel? Ehe eine Beantwortung dieser Frage versucht wird, soll eine weitere, die vorliegenden Überlegungen maßgeblich tragende These so klar wie möglich formuliert werden: Im Gegensatz zu Adornos Deutung ist das Gesellschaftliche niemals universal, sondern stets in unterschiedlichster Weise (kulturell, politisch, sozial, lokal, zeitlich etc.) bedingt.
Dagegen eröffnet das Individuelle auf eine geheimnisvolle Weise den Raum des Universalen. Adorno selbst gibt einen Hinweis darauf, wenn er sagt:
„(...) die Versenkung ins Individuierte erhebt das lyrische Gedicht dadurch zum Allgemeinen, dass es Unentstelltes, Unerfasstes, noch nicht Subsumiertes in die Erscheinung setzt (...)“³
Im selben Zusammenhang erwähnt er ein „schlechtes Allgemeines, nämlich zutiefst Partikuläres“, welches „das andere, Menschliche fesselte“.⁴ Adorno klärt die Stelle nicht weiter, fest steht jedoch, dass das Individuelle und das Partikuläre nicht dasselbe sind. Ebenso wenig wird deutlich, wie das Partikuläre sich zum Gesellschaftlichen verhält. Dass es sich notwendig in irgendeiner Weise zu beiden verhalten muss, dürfte auf der Hand liegen. Vollends ungeklärt bleibt die Bedeutung von „schlechtes Allgemeines“ – hier dürften ungeklärte moralische Ansichten an die Stelle logischer Argumentation getreten sein.
Eine entscheidende Lücke lässt Adorno jedoch im folgenden Passus:
Jene Allgemeinheit des lyrischen Gehalts jedoch ist wesentlich gesellschaftlich. Nur der versteht, was das Gedicht sagt, wer in dessen Einsamkeit der Menschheit Stimme vernimmt.⁵
Damit sind die Begriffe Allgemeinheit und Menschheit mit dem Begriff des Gesellschaftlichen gleichgesetzt, ohne dass ein Argument dafür geliefert wird, und ohne dass die Begriffe selbst geklärt wurden. Wenn unter ‚Allgemeinheit’ das Gesellschaftliche in einem universalen Sinn gemeint ist (alle Menschen leben in Gesellschaft), dann fällt eine Rechtfertigung für den Gebrauch des Gesellschaftlichen fort, da beide Begriffe dasselbe meinen und ‚Allgemeinheit’ eindeutig der umfassendere von beiden ist.
Wenn Adorno unter ‚Allgemeinheit’ das Universale meint, dann stehen wir vor der Frage, ob dieses Universale wie Platons Ideen zu denken sein soll oder nicht. Wenn nicht, dann müsste zunächst einmal geklärt werden, ob es dieses Universale überhaupt geben kann. Ist damit nur das von allen Vereinbarte gemeint, das „kata syntheken“,⁶ so müsste geklärt werden, wie das Gesellschaftliche sich in dieser Übereinkunft ausdrücken kann.
Diese Ungenauigkeit zieht sich durch Adornos gesamte „Rede über Lyrik und Gesellschaft“. Es ist daher nur folgerichtig, wenn Adornos Eichendorff-Analysen, nicht, wie er theoretisch fordert, textimmanent, sondern historisch-biographisch sind. Offenbar gelang es ihm ohne Zusatzinformationen nicht, sein erklärtes Ziel, das Individuelle, das Allgemeine und das Gesellschaftliche zusammen zu bringen.
Damit stehen wir erneut vor der Frage: Wie können Dichtung und Gesellschaft zusammen gedacht werden? Dazu sei zunächst der Versuch unternommen, den ungeklärten Zusammenhang zwischen Individuellem und Allgemeinem zu besprechen.
Das Allgemeine als das (gemeinschaftlich) Vereinbarte tritt dem Leser in jenem berühmten Schmerz von Fernando Pessoas Gedicht „Autopsicografia“ entgegen, den er – der Leser - nicht hat, wenn er den Schmerz des Dichters liest, den dieser so perfekt vortäuscht, dass sogar der Schmerz, den er wirklich empfindet, wie ein vorgetäuschter wirkt.
O poeta é um fingidor
finge tão perfeitamente
que chega a fingir que é dor
a dor que deveras sente.
E os que lêem o que ele escreve
na dor lida sentem bem
não as duas que ele teve
mas só a que eles não têm.
(...)
(Der Dichter macht uns etwas vor
er tut es so vollendet
dass er sogar den Schmerz erfindet
den er wirklich fühlt.
Und die, die lesen, was er schrieb
fühlen deutlich im gelesenen Schmerz
nicht jene zwei, die seine waren
sondern allein den einen, der nicht ihrer ist.)⁷
(...)
Das Individuelle ist das Außersprachliche, das im Augenblick seiner Nennung bereits poetisch wird („deveras sente“). Das wirklich Gefühlte verstummt an seiner eigenen Nennung, das Wort ist eine Chiffre, die vom Leser nur als Negation des Eigenen verstanden werden kann. Etwa zur selben Zeit wie Fernando Pessoa in „Autopsicografia“, definierte der Philosoph Ludwig Wittgenstein die menschliche Kommunikation mithilfe einer Negation. Wie Pessoa wählt er den Schmerz als Beispiel: „Ich muss mir einen Schmerz vorstellen, den ich selbst nicht fühle, um den Schmerz, den der andere fühlt, zu verstehen.“⁸
Sowohl Pessoa als auch Wittgenstein definieren Kommunikation in der Tradition von Aristoteles als Ergebnis einer Übereinkunft.⁹ Das sprachlich Gemeinsame erscheint hier als die wesentliche Voraussetzung für die Kommunikation von Individuellem. Es erfüllt die Funktion des Mittlers zwischen Autor und Leser.
Das Allgemeine ist also dasjenige, was von der Allgemeinheit der Sprechenden vereinbart worden ist. Es ist immer schon da, sobald Worte gemacht werden. Wenn es gesellschaftlich ist, dann nur insofern, als jede Gesellschaft auf dieselbe Weise, nämlich durch Vereinbarung, zu diesem Allgemeinen gelangt. Dagegen ging etwa Platon von einem universalistischen Allgemeinen aus, das jenseits jeder Vereinbarung und a priori besteht – er nannte es „Idee“. Diese Vorstellung dominierte das europäische Denken bis hin zu Ballys und Sechehayes universalistischer Deutung von de Saussures „Signifié“ und seinem Verhältnis einerseits zum „Signifiant“ (zum Wort) und andererseits zum konkreten Ding.
Das Allgemeine – als das sprachlich Vereinbarte – und das Individuelle sind über eine Negation miteinander verbunden. Das Eine ist nicht das Andere, und vermeintlich ist das Eine im Anderen als das Nicht-Eigene auch nicht aufzufinden. Dabei führt die Verneinung des Gemeinsamen („Schmerz“) geradewegs zu einem verneinten Individuellen, da dieses ja nur mitteilbar wird, indem es schon immer im Raum des Allgemeinen zugeordnet ist (Der Dichter/Alle Leser). Durch diese Verneinung spaltet sich “Schmerz“ in zwei ‚Dinge‘ (zwei konkrete Schmerzen), von denen nicht mehr klar ist, worin und womit sie identisch sein mögen, außer in ihrem gemeinsamen (allgemeinen) Namen („Schmerz“). Anders gesagt: Kommunikation kann nur ablaufen, wenn das Nicht-Eigene anerkannt wird. Sprache subsummiert alles Nicht-Eigene und macht auch das Eigene zu einem solchen Nicht-Eigenen. Die Dichtung inszeniert diesen Vorgang.
Das Gesellschaftliche hat hier keinen Platz. Es findet nicht im Gedicht statt, weil es dort nicht zum Ausdruck gebracht werden kann. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: Das Gedicht findet im Gesellschaftlichen statt. Deshalb auch muss Adorno gegen sein Vorhaben, textimmanent vorzugehen, verstoßen und stattdessen den historischen und biographischen Kontext für seine Gedichtinterpretationen zu Rate ziehen. Denn der Künstler bleibt „gegenüber dem Werk etwas Gleichgültiges, fast wie ein im Schaffen sich selbst vernichtender Durchgang für den Hervorgang des Werkes“.¹⁰ Diese Ansicht Heideggers hat übrigens sowohl die Haltung des späten Strukturalismus, als auch des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus zur Institution ‚Autor‘ geprägt. Umberto Eco spricht davon, dass der Autor sterben sollte, nachdem er sein Werk beendet hat, „Per non disturbare il cammino del testo“.¹¹ Ähnlich äußert sich Derrida in seinem Essay „Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie“, wenn er die Offenbarung des Johannes mit ihrer Leugnung des Autors als Archetypus der Funktion „Autor“ beschreibt. Selbst in neuerer Zeit hat Niklas Luhmann in Die Kunst der Gesellschaft das Auftreten des Autors im Werk als Problem angesehen: Durch „den Autor, der sich selbst erwähnt“, entsteht für Luhmann „ein Problem der Authentizität - nicht zuletzt auch das zeitliche Problem der Authentizität, dass der Künstler sich als wiederholt beobachtbar zur Verfügung stellt, obwohl er immer schon wieder ein anderer ist. Die alte Regel war, dass ein Künstler jedes Sichtbarwerden seines Könnens im Kunstwerk selbst vermeiden müsse. (Eben deshalb hatte man das Signieren erfunden). Vielleicht war das ein guter Rat.“¹²
Der ‚Tod‘ oder das Unsichtbar-Bleiben des Autors wird hier immer quasi aus einer fiktionalen oder textimmanenten Perspektive heraus gestellt. Das ist selbst schon ein fiktionales Unterfangen. Es wirkt, als hätten die Poststrukturalisten und Dekonstruktivisten sich gleichsam als Subjekte in den Text hineingedacht, um dann das Verschwinden des Autors zu fordern. Ihre Forderung ist überflüssig, da der Autor im Kunstwerk selbst ohnehin keine Rolle spielt. Selbst wenn er es versucht, wenn der Autor seinen eigenen Namen hineinschreibt, so verwandelt sich dieser Name doch im Rahmen des Kunstwerks und wird zu einer Chiffre, die nicht mehr identisch ist mit dem Autor. Es entsteht kein Problem der Authentizität, weil die Logik der Poesie und der Kunst im weiteren Sinn alles, was in ihr geschieht, um sein Allgemeines erweitert und so zugleich unumkehrbar verändert. Michel Foucault hat den Autor deshalb als eine Funktion aufgefasst:
Der Autorname hat seinen Ort nicht im Personenstand der Menschen, nicht in der Werksfiktion, sondern in dem Bruch, der eine bestimmte Gruppe von Diskursen und ihre einmalige Seinsweise hervorbringt. Folglich könnte man sagen, dass es in einer Kultur wie der unseren eine bestimmte Anzahl von Diskursen gibt, die die Funktion »Autor« haben, während andere sie nicht haben.¹³
Einer der wichtigsten ist der juristische Diskurs. In diesem Diskurs gehört der Autorenname zum Werk als einem Ding in der Gesellschaft. Das Problem der Authentizität stellt sich vor allem dort, und es wird im Zusammenhang mit den Fragen nach den Urheberrechten und der Verantwortung erörtert.
II. Dichtung und Wahrheit
Bisher haben wir, ausgehend von Adornos Erwägungen zu Joseph von Eichendorff und mithilfe von Pessoas „Autopsicografia“, das Individuelle mit dem Autor gleichgesetzt, und gesehen, dass wir auf der Textebene nicht vorankommen, weil dort nur Negationen vorhanden sind. Anders gesagt: Der Mensch Joseph von Eichendorff kann textimmanent niemals sichtbar werden in seinen Gedichten, weil das lyrische Ich und die Funktion Autor zwischen ihm und seinem Werk stehen. Beide sind nicht der Mensch, der einst schrieb. Ebenso wenig kann die Gesellschaft im Gedicht sichtbar werden, weil das Gedicht nach Universalität strebt. Eher noch wird – historisch-biographisch - die Unfreiheit des Dichters deutlich, wenn das Gesellschaftliche in seine Dichtung hinein wirkt. Dann aber ist das Gesellschaftliche nicht positiv ablesbar, sondern es ist wiederum an eine Negation geknüpft: Gerade diejenige Dichtung, die dem sozialen und kulturellen Rahmen, dem sie entspringt, zu sehr verpflichtet ist, zeigt bloß, dass es ihr nicht gelungen ist, das Universale ihrer Wurzel frei zu legen und sich so unabhängig von ihr zu machen. Mittelmäßige oder schlechte Werke können die vorherrschenden sprachlichen Konventionen nicht überwinden, sondern sie bleiben ihnen verhaftet.
Was ist das so genannte Universale der Dichtung? Es ist ein Qualitätsmerkmal großer Dichtung, dass sie die Gesellschaft, der sie entstammt, überdauert. Ein eindrucksvolles Beispiel ist „In der Mitte des Tages“ von Sappho (7. Jh. v. Chr.) in der Übersetzung von Raoul Schrott:
In der mitte des tages
wenn in der senkrecht
herabfallenden hitze
die erde glüht dann
schlagen die zikaden
das lied aus ihren
flügeln noch einen
halben ton höher an.¹⁴
Hier wird eine Wahrnehmung dichterisch verarbeitet, die auch heute, über zweitausend Jahr später, noch erlebt werden kann. Das lyrische Ich tritt nicht in Erscheinung, es ist Medium. Es entsteht der Eindruck, dass die Stimme selbst universal ist, als gehöre sie dem erlebenden Menschen an sich, der eine einfache Wahrheit zum Ausdruck bringt.
Das Universale ist eine Art und Weise der Dichtung, die Wahrheit zu sagen.
Martin Heidegger hat den Zusammenhang von Dichtung und Wahrheit in seiner Vorlesung „Der Ursprung des Kunstwerks“ genauer untersucht. Für ihn ist das „Aufstellen“ von Wahrheit die wichtigste Funktion der Kunst innerhalb der Gesellschaft.
Heidegger geht zunächst ganz allgemein vom Kunstwerk aus, etwa einem Bild von Vincent van Gogh, auf dem ein Paar Schuhe zu sehen sind, und einem Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer über einen Brunnen. Die Architektur bespricht er am Beispiel eines griechischen Tempels.
Im Laufe seiner Überlegungen versucht Heidegger, drei für die westliche Zivilisation grundsätzliche Ding-Begriffe auf das Kunstwerk anzuwenden: den Begriff von Substanz und Akzidenz, den Begriff des Dinges als einer Summe unserer Sinneswahrnehmungen, und den Begriff des Dinges als Stoff und Form. Bei diesem letzten Begriff verweilt er am längsten, da er am stärksten auf den ästhetischen Diskurs gewirkt hat. Dabei weist Heidegger nach, dass die Definition des Dinges als Stoff und Form aus dem Begriff des Gebrauchsgegenstandes, welches er „das Zeug“ nennt, stammt. Das Zeug ist in Form gebrachter Stoff, es zeichnet sich durch Gebrauch und Verlässlichkeit aus.
Das Zeug grenzt er vom bloßen Ding ab, etwa einem unbearbeiteten Stein, und definiert die Kunst dann als ein Ding, das sowohl am Zeug-Begriff als auch am Begriff des bloßen Dings teilhat, und also weder ganz das eine noch ganz das andere ist.
Da der Ding-Begriff nicht zu einer Definition des Kunstwerkes führt, versucht Heidegger anschließend, vom Begriff des Kunstwerkes selbst eine Definition zu entwickeln. Sein Argument lautet hier, dass die Kunst der Ursprung des Kunstwerkes ist. Weil aber die Kunst nur durch das Kunstwerk existiert, und ebenso Künstler und Kunstwerk in einer wechselseitigen Abhängigkeit bestehen, akzeptiert Heidegger diesen Gedankenkreis als Ausgangspunkt seiner Überlegungen.
Er bestimmt, das Werk sei „eine Weise des Werdens und Geschehens der Wahrheit“,¹⁵ wobei die Wahrheit erst durch ihr Geschaffensein zur Wahrheit wird.
Mit dieser Definition begibt Heidegger sich in die Nähe zu Nietzsche. Für Nietzsche ist der Mensch beim bloßen Sprachgebrauch als selbstvergessenes „künstlerisch schaffendes Subjekt“ tätig, welches Metaphern erfindet, die ihm Wahrheiten sind. Bereits hier also erscheint die Wahrheit als etwas Geschaffenes. In diesem Sinn wäre Sprache selbst Dichtung, und Dichtung ließe die wahrheits-schöpferische Kraft der Sprache, die im Alltagsgebrauch in Vergessenheit gerät, sichtbar werden.¹⁶ Der Ursprung der Kunst muss für Nietzsche demnach die Sprache sein, weil diese selbst schon Kunst ist, insofern sie, wie man mit Heidegger sagen könnte „das Seiende zu seinem Sein aus diesem“ ernennt.¹⁷
Aber Heideggers Position ist differenzierter. Zunächst kommt er zu dem Ergebnis, dass alle Kunst im weiteren Sinne Dichtung sei, weil sie die Erde als das Verborgene und die Welt als das Offene in ihrem Widerstreit feiert. Der Gebrauch des Wortes „Erde“ ist dabei eine Weise, sowohl den Stoff des einzelnen Kunstwerks als auch dessen grundlegende Eigenschaft für die Kunst zusammen zu führen. Das Kunstwerk zeigt die Erde erst in ihrer Verschlossenheit und schafft in diesem Zeigen Welt:
Alle Kunst ist als Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden als ein solches im Wesen Dichtung.¹⁸
Dichtung bedeutet hier unmittelbar Schaffung von Wahrheit, also Dichtung im weiteren Sinne. Wie Nietzsche denkt Heidegger beide Begriffe in eins und bezeichnet die Kunst als den Ort, an dem dieses Aufeinandertreffen von Dichtung und Wahrheit geschieht. Dabei achtet er darauf, nicht von einer Synthese im dialektischen Sinn zu sprechen, sondern nennt es einen Widerstreit.
Dann aber wendet er sich dem Sprachwerk als Dichtung im engeren Sinne zu. Zwar betont er, die Dichtung sei „nur eine Weise des lichtenden Entwerfens der Wahrheit, d.h. des Dichtens im weiteren Sinne. Gleichwohl hat das Sprachwerk eine ausgezeichnete Stellung im Ganzen der Künste.“¹⁹ Und hier kommt Heidegger schließlich auf die Sprache selbst zu sprechen, deren Wesen dem des Kunstwerkes ähnlich ist. Das wird deutlich, wenn Heidegger über die Sprache schreibt:
In der landläufigen Vorstellung gilt die Sprache als eine Art von Mitteilung. Sie dient zur Unterredung und Verabredung, allgemein zur Verständigung. Aber die Sprache ist nicht nur und nicht erstlich ein lautlicher und schriftlicher Ausdruck dessen, was mitgeteilt werden soll. Sie befördert das Offenbare und Verdeckte als so Gemeintes nicht nur erst in Wörtern und Sätzen weiter, sondern die Sprache bringt das Seiende als ein Seiendes allererst ins Offene. Wo keine Sprache west, wie im Sein von Stein, Pflanze und Tier, da ist auch keine Offenheit des Seienden und demzufolge auch keine solche des Nichtseienden und des Leeren.²⁰
Heidegger macht hier einen logischen Schlenker, der Licht auf sein Denken wirft. Wenn er nämlich sagt, „im Sein von Stein, Pflanze und Tier“ wese keine Sprache, so denkt er mit Hilfe der Sprache einen außersprachlichen Raum. Das führt scheinbar in einen Widerspruch. Heidegger hat an dieser Stelle das Wagnis auf sich genommen, eine Grenze aufzuzeigen, die zwischen der Sprache und der Welt verläuft. Er hat diese Grenze, indem er sie benennt, als etwas Außersprachliches in die Sprache hereingeholt. Mit anderen Worten: Er hat sie erfunden bzw. erdichtet. Aber, was er sagt, ist trotzdem (oder: deshalb) wahr, denn wir können ihm auch hierhin folgen. Es geht ihm darum zu verdeutlichen, dass wir immer nur innerhalb der Sprache über Seiendes und Nichtseiendes entscheiden können. Sprache ist deshalb grundlegend für die Erschaffung von Wahrheit. Wahrheit ist ein Sprachphänomen.
Dann allerdings betont Heidegger ausdrücklich:
„Die Sprache ist nicht deshalb Dichtung, weil sie die Urpoesie ist, sondern die Poesie ereignet sich in der Sprache, weil diese das ursprüngliche Wesen der Dichtung verwahrt.“²¹
Hier grenzt er sich deutlich von Nietzsche ab, für den es nur einen Begriff von Dichtung gibt, den er sowohl auf die Sprache als auch auf die Kunst anwendet. Auf diese Weise kommt Nietzsche zu seiner Postulierung von „Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinn“. Gerade auch Nietzsches Rede von den Begriffen als einem „Heer von Metaphern“ verdeutlicht seinen absoluten Kunstbegriff.
Heidegger zeigt dem entgegen einen Unterschied auf, indem er einerseits „Dichtung“ meint und andererseits „Poesie“. Dieser Begriff der Dichtung, den Heidegger auf die Sprache anwendet, wird nur möglich durch die Poesie, also durch die Dichtung im engeren Sinne, denn erst sie macht das dichterische Wesen der Sprache sichtbar. Sprache ist also Dichtung erst durch einen Rückschluss von der Poesie aus.
Daneben gibt es bei Heidegger noch einen dritten Begriff von Dichtung: die Kunst als Dichtung im weiteren Sinn:
Das Wesen der Kunst ist die Dichtung. Das Wesen der Dichtung aber ist die Stiftung der Wahrheit.²²
Wir haben es bei Heidegger also mit drei Begriffen von der Dichtung zu tun: Sprache, Poesie und Kunst. Die Sprache in ihrer der Dichtung unmittelbar vorausgehenden Eigenschaft ist der Ursprung der Poesie. Die Poesie ist dem Ursprung am nächsten, da sie Sprachkunst ist. Alle Künste aber haben das eine Ziel, Wahrheit zu erschaffen, oder, wie Heidegger sagt, aufzustellen. Deshalb auch haben alle Künste eine Wirkung auf die Gesellschaft.
Schon Hegel brachte die Poesie mit der Wahrheit in Verbindung. Er beantwortete die Frage nach dem Zweck der Poesie als das „an und für sich Wahrhafte der geistigen Interessen überhaupt, doch nicht nur für das Substantielle derselben in ihrer Allgemeinheit symbolischer Andeutung oder klassischen Besonderung, sondern ebenso für alles Spezielle auch und Partikuläre, was in diesem Substantiellen liegt, und damit für alles fast, was den Geist auf irgendeine Weise interessiert und beschäftigt.“²³
Allgemeines und Besonderes („Spezielles“) sind, wie man sieht, zueinander in Bezug gesetzt. Hegel spricht in diesem Zusammenhang davon, dass „die poetische Phantasie (...) in dieser Rücksicht einmal die Mitte zu halten (hat) zwischen der abstrakten Allgemeinheit des Denkens und der sinnlich-konkreten Leiblichkeit (...).“²⁴
Für uns Heutige, die wir hundert Jahre nach dem „linguistic turn“²⁵ leben, ist es schwierig, Hegels ontologisch begründete Vorstellungen vom Substantiellen oder Wesentlichen nachzuvollziehen. Ebenso suggeriert der Gedanke einer „Mitte“ zwischen zwei „Extremen“²⁶ die von der unmittelbaren sprachlichen Realisierung unabhängige Existenz dieser Extreme bzw. dieser Mitte als Ort. Hier mag Heideggers Kritik an den traditionellen Ding-Begriffen angeführt werden: Das Ding als eine Versammlung aus Substantia und Accidens ist für ihn ein „Überfall“ auf die Dinge, da es schlicht alles Seiende subsummiert.²⁷
Allerdings hat Hegel erkannt, worum es in der Poesie geht, wie aus folgender Stelle hervorgeht:
„Die poetische Vorstellung nimmt (...) die Fülle der realen Erscheinung in sich hinein und weiß dieselbe mit dem Inneren und Wesentlichen der Sache unmittelbar zu einem ursprünglichen Ganzen in eins zu arbeiten.“²⁸
Es geht um die Bildung von Verbindungen zwischen Konkretem und Allgemeinem. Sehr leicht kann man erkennen, dass Hegel sich scheut, den genauen Charakter dieser Verbindung, dieses „in eins“, anzugeben. Ein Ähnliches Zögern spürt man bei Heidegger, wenn er genau zu dieser Frage schreibt:
Das Bild, das die Bauernschuhe zeigt, das Gedicht, das den römischen Brunnen sagt, bekunden nicht nur, was dieses vereinzelte Seiende als dieses sei, falls sie je bekunden, sondern sie lassen Unverborgenheit als solche im Bezug auf das Seiende im Ganzen geschehen. Je einfacher und wesentlicher die Bauernschuhe nur das Schuhzeug, je ungeschmückter und reiner nur der Brunnen in ihrem Wesen aufgehen, umso unmittelbarer und einnehmender wird mit ihnen alles Seiende seiender.²⁹
Nicht nur gibt es hier eine Unsicherheit über den Bezug auf das Individuelle („falls sie je bekunden“) des Dargestellten oder Gesagten, sondern auch ist die konjunktionale Verbindung „je... umso...“ höchst unbestimmt.
Julia Kristeva hat versucht, auf diese Ungenauigkeit einzugehen. Am Beispiel eines Gedichtes von Baudelaire („Une Martyre“) macht sie deutlich, dass das konkret Genannte weder ausschließlich ein Individuelles zum Ausdruck bringt, noch ausschließlich Allgemeines, sondern beides zugleich. Dies aber hat Konsequenzen auf beiden Seiten:
Disons que le signifié poétique jouit d’un statut ambivalent: il est à la fois (donc en même temps, et non successivement) concret et général. Il boucle, dans une application non-synthétique, le concret et le général et, de ce fait, rejette l’individualisation: il est un concret non-individuel qui rejoint le général.³⁰
Kristeva postuliert eine dreiwertige Logik, der zufolge Konkretes und Allgemeines im poetischen Wort gleichzeitig zum Ausdruck kommen, während die diskursiv angelegte Logik beides stets streng voneinander trennen muss, um Entscheidungen des praktischen Lebens zu ermöglichen. Dementsprechend behauptet die Poesie die Existenz von etwas, das nicht existiert:
[...] nous savons que ce que le langage poétique énonce n’est pas (pour la logique de la parole), mais nous acceptons l’être de ce non-être. Autrement dit, nous pensons cet être (cette affirmation) sur le fond d’un non-être. C’est par rapport à la logique de la parole, qui repose sur l’incompatibilité des deux termes de la négation, que la réunion non-synthétique à l’œuvre dans le signifié poétique prend sa valeur signifiante.³¹
Die Poesie ist für Kristeva eine „Anomalie“, die sich nicht auf Beschreibung beschränkt, sondern selbst Sinn produziert.³² Sie vereinigt das Konkrete und das Allgemeine in einer Art und Weise, dass neuer Sinn entsteht, der selbst nicht wiederum in die diskursive (zweiwertige) Logik zurückgeführt werden kann, ohne verloren zu gehen. Trotzdem ist die Poesie nur in ihrer Abhängigkeit zur Allgemeinsprache überhaupt denkbar:
Si tout est possible dans le langage poétique, cette infinité de possibilités ne se laisse lire que par rapport à la ‚normalité‘ établie par la logique de la parole.³³
Obwohl also die diskursive Logik keinen direkten Zugriff auf die Inhalte der Poesie hat, ist die Poesie ohne sie nicht möglich. Umgekehrt hat die Poesie unbeschränkten Zugriff auf die diskursive Logik. Ihre Synthesen können die Alltagssprache beeinflussen und verändern. Darin liegt zugleich ihre Gefährlichkeit für autoritär Denkende.
III. Staatliche und private Zensur
Dementsprechend stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Poesie und Gesellschaft in anderer Hinsicht. Denn die Freiheit der Dichtung ist, je nach gesellschaftlichem Kontext, in unterschiedlicher Weise eingeschränkt. Im Folgenden geht es um das Verhältnis der Dichtung zur Diktatur, aber auch um totalitäre Mechanismen in freien Gesellschaften. Dabei gilt es aufzuzeigen, dass die autoritäre Staatsräson ihre Wurzeln im Autoritarismus des Einzelnen hat.
Die Begriffe Dichtung und Diktatur entstammen beide dem lateinischen Verb dictare (‚diktieren’), das wiederum von dicere (‚sagen’) abgeleitet ist. Beiden, den Dichtern und den Diktatoren, geht es um die Rede. Beide wollen Wahrheit erzeugen. Aber es geht um zwei unterschiedliche Formen von Wahrheit.
Dichter machen Kunst, indem sie etwas erschaffen, was aufgrund seiner inneren Gesetzmäßigkeit wahr ist. Diese Wahrheit ist nicht losgelöst von der Wirklichkeit, sondern sie bringt den, der sich auf sie einlässt, dazu, die Wirklichkeit anders zu betrachten. Die alltägliche oder diskursive Wahrheit folgt dagegen dem Kriterium von Richtigkeit und Falschheit.³⁴ Das Kriterium der Wahrheit als Richtigkeit ist nicht schöpferisch, wie die Sprache schöpferisch ist. Es ist rein feststellend: Etwas ist so, oder es ist nicht so; etwas ist korrekt, oder es ist nicht korrekt. Dieses Kriterium kann deshalb nicht auf die Sprache selbst angewandt werden, etwa in Form von Sprachregelungen oder Tabuisierungen. Sprache ist nicht richtig oder falsch, sondern sie ist einfach da. Richtiges oder falsches Sprechen festzulegen oder falsches Sprechen zu verbieten, ist sinnlos, weil es dadurch nicht verschwindet. Die Sprache kann nicht durch Gewalt verändert werden. Jede Unterdrückung verstümmelt die Sprache, anstatt sie neu zu gestalten.
Diktatoren wollen aber genau dies umsetzen – das Schöpferische und das Richtige sollen eins werden. Aus dieser Verwirrung heraus geraten autoritäre Regime unweigerlich unter einen zunehmenden Druck, an dem sie letztendlich zerbrechen müssen, denn es kommt einem titanischen Anspruch gleich, die Wirklichkeit im Sinne der richtigen Wahrheit verändern zu wollen. Es hieße, Sprache und Dichtung zugleich zu erschaffen. Diesem Widerspruch entrinnt keine Diktatur.
Einer Diktatur geht zwangsläufig eine Radikalisierung des öffentlichen Diskurses voraus, die Gesellschaft spaltet sich in zwei Lager, beide Seiten suggerieren, dass eine Entscheidung fallen muss. Es findet ein Kampf um die Macht über den Diskurs statt, denn der Diskurs selbst „ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht“.³⁵ Die zweiwertige Logik des Diskurses erhält absolute Priorität vor allen anderen Diskursformen, vor allem aber vor der Dichtung, denn die Dichtung verhält sich subversiv zum Entscheidungszwang. Ist eine Gesellschaft einmal soweit, dann gibt es kein Zurück. Die Entscheidung fällt immer. Ganz gleich, wie sie fällt – das Ergebnis wird in jedem Fall eine Diktatur sein. In diesem Prozess verliert die Kunst ihren geschützten Raum, sei es, weil die Dichter glauben, sie müssten ihre Kunst in den Dienst der Gesellschaft stellen, sei es, weil die Gesellschaft eben dies von den Dichtern verlangt. Sie hat nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie entzieht sich dem Zwang und wird subversiv. Dann setzt sie sich der Gefahr der Verfolgung aus. Oder aber sie lässt sich in den Dienst der Gesellschaft stellen. Dann verliert sie ihren Universalitätsanspruch und hört auf, Dichtung zu sein. Stattdessen wird sie Propaganda.
Jetzt wirkt die Gesellschaft tatsächlich in der Dichtung, aber, indem sie es tut, zerstört sie sie. Es bleibt ihr keine andere Wahl, denn die Freiheit der Dichtung ist eine reale Gefahr für den Autoritarismus. Dessen Zwang besteht zwar darin, Entscheidungen bedingungslos herbei zu führen. Aber er ist auf einer theoretischen Ebene durch den Zwang zum Zwang abgesichert, indem er die Behauptung aufstellt, dass es immer eine Entscheidung geben muss. Die Eigenschaft der Kunst, aus einem Entweder-Oder ein Sowohl-Als-Auch zu machen, greift die Zwangsläufigkeit des Zwangs an.
Auch in demokratischen Gesellschaften gibt es das Totalitäre. 2005 hatte der damals 30jährige Video-Künstler Oliver Karl Boeg in mehreren Bars in Karlsruhe eine gefälschte Tagesschau aufführen lassen, in deren Verlauf ein Terrorist der Sprecherin mit gestrecktem Arm eine Pistole an den Kopf setzt. Als bekannt wurde, dass es sich um eine Kunstaktion handelte, um einen so genannten „Echt-Zeit-Aktion-Film“ (Boeg), kam es zu Verstimmungen und zu einem Prozess, in dem es mit den Worten des Staatsanwalts Jürgen Gremmelmaier um eine „negative Kunstfreiheit“ ging, mit anderen Worten: um das Recht auf Freiheit von der Kunst bzw. das Recht auf einen kunstfreien Raum. Boeg war zufrieden mit der Wirkung seiner Aktion: "In künstlerischer Hinsicht fühle ich mich fast geehrt, dass man mit einer Kunstaktion heute noch den vermeintlichen öffentlichen Frieden stören kann."³⁶
Andererseits liegt hier zugleich ein Fall von privater Zensur vor. Die juristische Einklagung eines kunstfreien Raumes meint nämlich nicht die totale Abwesenheit von Kunst, sondern nur die Abwesenheit jener Kunst, deren Anliegen es ist, die ästhetische Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit zu überwinden, das heißt also mit Heidegger: Wahrheit aufzustellen. Die verstörende Wirkung, die von solcher Kunst ausgehen kann, hat im Fall von Boegs Film dazu geführt, dass mindestens ein Zuschauer sich als „Kunstopfer“ empfand und klagte. Boeg wurde zu einer milden Strafe verurteilt, gegen die er Rechtsmittel einlegte.
Im Verhältnis zu den Vorgängen in einer Diktatur sind die Rollen hier scheinbar vertauscht. Nicht der Diktator tritt als Täter auf, der gegen die Freiheit der Kunst verstößt, sondern die Kunst selbst gerät ins Unrecht, der Künstler wird zum Täter, der Bürger zum Opfer. Kunstopfer „V.“ sagte aus: "Das sind doch Irre, die das inszeniert haben, die leben doch völlig in ihrer Kunstwelt und nehmen die Panik der Leute in Kauf."³⁷ V. nimmt die Kunst nicht als selbständige Größe war, er lässt sich zu keinem Zeitpunkt auf ihre anomale Kommunikation ein, sondern er übersetzt sie in die zweiwertige Logik des Diskurses. Demnach ist Boeg ebenso haftbar für seine Kunstaktion wie der Verursacher eines x-beliebigen Schadens, obwohl es im Fall der Kunst gar keinen Schaden gegeben hat. Oder doch? Ist die Verstörung des unfreiwilligen Kunstopfers ein realer Schaden? V. sagte aus: „Ich hab schon 's Blut spritzen sehen."³⁸ Die Kunstaktion, in der ja gar kein Blut spritzte, hat V.s Fantasie angeregt, er war „verwirrt“ und malte sich Schlimmstes aus. Ist er dafür selbst verantwortlich, oder ist es der Künstler? Wenn der Künstler haftbar gemacht wird, so verliert die Kunst ihren eigenen Ort und wird unter den Begriff der „Tat“ subsummiert. Jede Tat steht in notwendigem Zusammenhang mit einem Täter. Als Täter ist der Künstler natürlich haftbar. Der Eigenname und der Autorenname werden identisch. Alles, was wir bisher über die Kunst und ihr Verhältnis zum Künstler gesagt haben, wird hinfällig.
Dies ist in erster Instanz am Amtsgericht Karlsruhe tatsächlich geschehen. Boeg hat also, obwohl das gar nicht seine Absicht war, einen Totalitarismus in der demokratischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland aufgestöbert. Seine eigentliche Intention, die „mediale Einweg-Penetranz hinsichtlich mediengesellschaftlicher Programmierung von ,Bewusstseinen' zu thematisieren",³⁹ hatte zwar auch eine Form von Totalitarismus zum Gegenstand, medialen Totalitarismus, wenn man so will. Aber das Ergebnis zeigt, wie ein Mitbürger die staatlichen Instanzen nutzen kann, um privat Zensur zu üben. Wichtig ist dabei, dass dieser Mitbürger die Erkenntnis, dass es sich ‚nur‘ um Kunst handelt und nicht um die Wirklichkeit, übergeht.
Diktatoren verhalten sich ganz ähnlich. Auch sie sehen den Dichter als Täter, sein Werk als Tat. Diktatoren werden nach ihrem eigenen Verständnis bloß deshalb zu Tätern, weil sie den Staat gegen die Angriffe seiner Gegner verteidigen. Auf diese Weise kann jeder Übergriff auf Künstler gerechtfertigt werden.
Es ist eine Form von Blindheit, die dazu führt, dass Kunst als Delikt erscheinen kann. Diktatoren und Kunstopfer wie V. nehmen jene von Kristeva beschriebene nicht-synthetische Union von Allgemeinem und Konkretem nicht wahr. Sie versuchen genau das, was widersprüchlich ist, nämlich die dreiwertige Logik der Dichtung in die zweiwertige Logik des Diskurses zu übersetzen. Sie tun das, weil sie unfähig sind, die letztere zu verlassen. Sie müssen also eine Entscheidung treffen, und sie wählen stets das Konkrete. V. hat schon das Blut spritzen sehen, und er rückte auch im Nachhinein nicht davon ab. Alle Kunst, die versucht, die ästhetische Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu überschreiten, indem sie Mittel und Wege findet, unsere Sicht auf die Dinge zu beeinflussen, ist im Prinzip ein Delikt, da sie die Wahrheit im Sinne des Richtigen und Falschen unterwandert. Diese Wahrheit ist immer ein Konsens, sei er frei gefunden oder erzwungen. Wenn plötzlich die Kunst daher kommt und eine neue Wahrheit erschafft, so verstößt sie gegen diesen Konsens. Deshalb ist auch die Frage nach Richtigkeit oder Falschheit ihrer Behauptungen irrelevant. Es zählt allein, dass sie es gewagt hat, das zu unternehmen, was die Diktatoren für sich reserviert haben: Die Stiftung von Wahrheit. Die einzige Kunst, die Diktatoren zulassen, ist deshalb die Kunst, die keine Wahrheit stiftet und also Unterhaltungskunst bzw. triviale Kunst ist. In allen neuzeitlichen Diktaturen, im Nationalsozialismus, in der spanischen, der brasilianischen, der argentinischen, der chilenischen Diktatur etc., blühte das Fernsehen mit seinen Shows auf, die harmlose Komödie, der Softporno, das Folkloristische und natürlich alles, was die Diktatur explizit feierte.
Der autoritäre Staat benutzt seine Macht, um eine Form von Kunst zu fördern und die andere zu unterdrücken. Sein wichtigstes Instrument ist die Zensur. Die Zensur ist der Schnittpunkt von dichterischer Rede und autoritärer Gegenrede, hier treffen sich Dichtung und Diktatur zum Zwiegespräch. Der Zensur geht es dabei vor allem um Reduktion: Reduktion von Vielfalt, sei es Meinungs-, ästhetische oder sonst eine Form von Vielfalt. Die Kriterien der Zensoren sind moralischer oder politischer Natur, ihre Anwendung ist aber nicht vorhersehbar.
Howard Saul Becker hat in seinem Essay „Art And The State“ deutlich gemacht, dass der Staat immer ein Deutungsmonopol hat:
„Because the state might act at any time, because it can even if it doesn’t, all works of art have a political meaning – by acting or failing to act, the government indicates that it does or does not think a particular work politically important or dangerous. Even work whose maker had no political intent acquires political meaning in the light of government actions.“⁴⁰
Mit anderen Worten: Der Staat und die Künstler benutzen zwei unterschiedliche Diskursformen. Ihre Inkompatibilität kann, muss aber keinen Konflikt erzeugen, je nachdem, wie autoritär der Staat ist.
Die Willkür der Zensur entsteht aus ihrer irrigen Annahme, dass Kunst nichts Anderes ist als eine Verfremdung oder Übersetzung von diskursiven Aussagen. Kein Zensor geht textimmanent vor, denn das würde bedeuten, sich den Regeln des Kunstwerks zu unterwerfen. Ein Zensor, der Kunst auf diese Weise wahrnähme, verhielte sich subversiv zu seinem Auftrag.
Das Kunstwerk soll sich den Regeln des autoritären Staates unterwerfen. Diese Regeln aber sind nicht zu definieren. Wie soll man etwas regeln, dessen Wesen es ist, Neues hervorzubringen? Die einzige Möglichkeit besteht darin, das Neue einfach nicht wahrzunehmen, sondern nur das Bekannte. Wiedererkennung ist deshalb die zentrale Methode jeder Zensur. Im Prinzip kehren Zensoren zur scholastischen Exegese zurück: Sie untersuchen das Werk nicht hinsichtlich seiner künstlerischen Qualitäten, sondern auf Schlüsselwörter, die, unabhängig vom Kontext des Werks eine Bedeutung im Diskurs der Gesellschaft haben. So ist es möglich, dass ein sprachliches Kunstwerk wegen eines einzigen Wortes verboten wird, obwohl dieses Wort im künstlerischen Kontext keinerlei politische Bedeutung hat. Da aber der Staat als einziger definieren kann, was politische Bedeutung hat und was nicht, kann sich auch niemand im vorhinein nach den Regeln des Staates richten. Auf diese Weise geraten Dichter zwangsläufig in Konflikt mit der Zensur.
Ein wichtiges Ziel der Zensur ist die Kontrolle über die Massenwirkung der Kunst. Sie muss gewährleisten, dass denjenigen Werken, die unerwünschte Reaktionen beim Publikum auslösen könnten, der Zugang zu den Massenmedien verschlossen bleibt.⁴¹ Wenn aber ein Verbot aus jedem Kunstwerk ein Politikum machen kann, dann liegt es nahe, dass die Zensur nicht zielsicher vorgeht, sondern in den meisten Fällen erst das erschafft, was sie bekämpfen will. Den Beweis liefert die geringe politische Sprengkraft der Kunst innerhalb demokratischer Gesellschaften. In den Fällen, in denen die Kunst auch in der Demokratie Konflikte verursacht, hat sie in der Regel einen Totalitarismus ans Licht gebracht (siehe Boegs Kunstaktion).
Man kann also sagen: Es gibt keine gefährliche Kunst, es sei denn, man glaubt daran. Das tun Diktatoren unbedingt. Sie wissen nicht, dass die Kunst keine Entscheidung von ihnen verlangt, sie wissen nichts von der dreiwertigen Logik der Dichtung. Ihr Glaube an die Gefährlichkeit der Kunst hat ihre Wurzeln in ihrer Blindheit für das Wesen der Kunst. Dass sie die politische Macht der Kunst überschätzen und so erst begründen, ist ein unfreiwilliges Eingeständnis dieser Blindheit.
Aber es bedeutet auch: Selbst in dem Fall der extremen Einflussnahme der Gesellschaft auf die Kunst hört die Kunst nicht auf, auf die Gesellschaft zu wirken. Wenn der Staat die Kunst zum Politikum macht, wächst dadurch der gesellschaftliche Einfluss der Kunst. Verzichtet der Staat weitgehend auf die Zensur wie in demokratischen Gesellschaften, so entfaltet die Kunst ihre Wirkung im Privaten.
Foucault setzt voraus, „dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.“⁴²
Es gilt also herauszufinden, welche Methoden die ‚freien’ Gesellschaften entwickelt haben, um der Kunst Fesseln anzulegen, die verhindern, dass sie ihre Kraft entfaltet. Am Beispiel des Künstlers Boeg und seines Kunstopfers V. ist deutlich geworden, dass diese Fesseln privater Natur sind, d.h. dass der Einzelne sich selbst in seiner Rezeptivität für Kunst zensiert. Anders gesagt: In Demokratien herrscht eine besondere Form der Selbstzensur: nicht die Selbstzensur des Künstlers angesichts einer übermächtigen staatlichen Zensur, mit der er versucht, sich zu arrangieren, sondern die Selbstzensur des Bürgers, dem es darum geht, sich vor der subversiven Kraft der Kunst zu schützen. Gelingt es der Kunst dennoch, durchzudringen, kann diese bürgerliche Selbstzensur in Zensur umschlagen. Wenn sie, wie im Fall des Kunstopfers V., Hilfestellung durch eine staatliche Institution erhält, wird sie plötzlich sichtbar und offenbart die private Wurzel des Totalitarismus.
¹ Adorno 1958:116.
² Ibid.:117.
³ Ibid.:75.
⁴ Ibid.
⁵ Ibid.:75.
⁶ Cf. Trabant 2006:31.
⁷ Übersetzung v.V.
⁸ Cf. Wittgenstein 1990:§302.
⁹ Aristoteles nannte es „kata syntheken“ (dt.: ‚nach Übereinkunft’), cf. Trabant 2006:31f.
¹⁰ Heidegger 1960:35.
¹¹ Cf. Eco 1995:509.
¹² Luhmann 1995:123.
¹³ Foucault 1988: 17.
¹⁴ Schrott 1999:111.
¹⁵ Heidegger 1960:60.
¹⁶ Heidegger spricht von der „Lichtung des Seienden, die schon und unbeachtet in der Sprache geschehen ist“. Ibid.:76.
¹⁷ Ibid.:75.
¹⁸ Ibid.:73f.
¹⁹ Ibid.:74.
²⁰ Ibid.:75.
²¹ Ibid.:76.
²² Ibid.:77.
²³ Hegel 1971:14.
²⁴ Ibid.: 15.
²⁵ Damit ist die Abwendung von der ontologisch begründeten Erkenntnistheorie und die Hinwendung zur sprachtheoretischen Erkenntnistheorie zunächst in der Wiener Schule um 1900 und später allgemein in der westlichen Zivilisation gemeint.
²⁶ Ibid.: 61.
²⁷ Heidegger 1960:14-16.
²⁸ Hegel 1971: 62.
²⁹ Heidegger 1960: 54f.
³⁰ Kristeva 1969: 191.
³¹ Ibid.: 193.
³² Ibid.: 198.
³³ Kristeva 1968: 254.
³⁴ Heidegger 1960:49. Foucault enttarnt den Gegensatz zwischen dem Wahren und dem Falschen als ein „Ausschließungssystem“ dem in Wahrheit der „Wille zur Wahrheit“ zugrunde liegt. Cf. Foucault 2003:13-17.
³⁵ Ibid.: 11.
³⁶ Cf. Spiegel 2005:142.
³⁷ Ibid.
³⁸ Ibid.
³⁹ Ibid.
⁴⁰ Becker 1984: 185.
⁴¹ Cf. ibid.
⁴² Foucault 2003: 10f.
Bibliographie
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Wittgenstein 1990 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Philosophische
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