Stephen Spender: Der Tempel
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Stefan Hölscher
Stephen Spender:
Der Tempel. Roman. Übersetzt von Sylvia List. Berlin (Albino Verlag) 2022. 304
Seiten. 22,00 Euro.
Freizügige
Jung-Männer-Liebe im Spätherbst der Weimarer Zeit
Schauen wir zunächst losgelöst
von seiner besonderen Entstehungsgeschichte ganz auf den Inhalt von Stephen
Spenders Roman „Der Tempel“ – auf die Welt, in die uns dieses Buch führt:
Zusammen mit seinem Protagonisten Paul Schoner nimmt der Roman seine
Leser*innen nach einem kurzen Auftakt in England mit auf zwei längere Reisen in
das Deutschland der späten Weimarer Republik. Das Jahr der ersten Reise ist
1929, das der zweiten der November 1932.
Paul ist ein in Oxford
studierter Dichter. Zu seinen besten Freunden und geistigen Wahlverwandten
gehören der in seinem literarischen wie sozialen Verhalten extreme Simon Wilmot
(dem W. H. Auden Pate stand) sowie der offen schwule William Bradshaw (der
starke Anleihen an Christopher Isherwood nimmt). Paul selbst ist ziemlich
prüde. Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen ist er nach kurzer Bekanntschaft
mit Ernst Stockmann, den er in Oxford trifft, bereit, nach Deutschland zu gehen
und als Gast von Stockmann in dessen Haus in Hamburg zu wohnen. Stockmann
stammt aus einer reichen jüdischen Familie, in deren Villa direkt an der Alster
jede Menge imposanter Bilder von v. Gogh, Picasso, Courbet und anderen zu
bewundern sind. Noch mehr faszinieren Paul allerdings in kürzester Zeit die
Freunde von Ernst Stockmann, die um ein Vielfaches ausgelassener, freier und
sinnlicher leben als dieser selbst.
Vor allem Joachim Lenz (in sehr
direkter Anlehnung an den Fotografen Herbert List komponiert) hat es Paul
angetan: Joachim, der aus einer ebenfalls wohlhabenden Kaffeehandelsfamilie
stammt, ist spontan, exzentrisch, witzig und immer auf der Suche nach schönen
Jungs, die ihn gerade dadurch, dass sie in ihrer rauen Natürlichkeit so
unreflektiert und schlicht erscheinen, in starke Wallung versetzen und ihn zu
seinen erotisch-natürlichen Schnappschüssen inspirieren. Joachim ist ein
begnadeter Fotograf, aber anders als Paul, der sich durch und durch als Dichter
versteht, fühlt Joachim sich nicht als Künstler – ja hat sogar Angst davor.
Was allen Hauptfiguren des Romans gemeinsam ist,
wenngleich sie sehr unterschiedlich damit umgehen, ist genau das, was Joachim
Lenz in seinen Fotografien bildhaft zum Ausdruck bringt: das leidenschaftliche
Faszinosum junger Männlichkeit. In gewisser Hinsicht ließe sich sagen, alle
wichtigen Figuren des Buchs – Paul, Ernst, Joachim, Joachims Freund Willi und
die später auftauchenden ‚Freunde‘ Lothar und Heinrich – sind schwul. Und doch
passt dieses Wort nur sehr bedingt. Denn zwar durchzieht das ganze Buch ein
Vibrieren homoerotischer Sinnlichkeit; der sexuelle Vollzug davon bleibt jedoch
fast durchgängig implizit und findet, wenn überhaupt, quasi hinter der Bühne
des direkt dargestellten Geschehens statt. Schon der erste Absatz des Buches
ist hierfür prototypisch:
Was Paul an Marston liebte, war seine (wie er leidenschaftlich glaubte) offensichtliche Unschuld. Er hatte diese Eigenschaft gleich bemerkt, als er ihn zu Beginn ihres ersten gemeinsamen Trimesters in Oxford zum ersten Mal sah.
Das Begehren richtet sich
gerade auf die scheinbare „Unschuld“ der jung-männlichen Erscheinung. Es gibt
in „Der Tempel“ – und dieser Begriff steht in dem Buch eindeutig für den
„Tempel“ des Körpers – überhaupt nur eine einzige ganz explizite Sexszene, und
zwar zwischen Paul und Ernst Stockmann bei der von Ernst stark forcierten und
von Paul nur unter höchstem Widerwillen mitgemachten Ostseereise der beiden:
Er merkte rasch, dass es für seinen Kopf wesentlich leichter war, auf Ernsts Annäherungs-versuche einzugehen, als für seinen Körper. Aus einer Art nervösem Ekel – oder vielleicht aus dem Verlangen, das Körperliche möglichst schnell hinter sich zu bringen – kam er sehr schnell. Es war das erste Mal, dass er mit jemandem schlief. Dann wurde ihm klar, dass er nicht wieder in sein Bett zurückkonnte, bevor Ernst Befriedigung erlangt hatte – sonst hätte er Ernst schlimmer gekränkt, als wenn er sich ihm von Anfang an verweigert hätte. Also blieb er in Ernsts Bett, und Ernst presste sich an ihn, wand sich und mühte sich verzweifelt ab, zum Orgasmus zu kommen. Paul begriff, dass er nach Wilmots Maßstab bereits versagt hatte. Seine unwillkürliche Reaktion bewies, dass er unfähig war, Liebe mit Liebe zu vergelten. Aber wenigstens, dachte er, konnte er Sympathie zeigen, indem er bei Ernst blieb, bis er gekommen war. Das aber dauerte eine Ewigkeit, bleierne Minuten, in denen Ernst um seinen schalen Höhepunkt rang. Paul, der auf der Seite lag und von Ernst halb umklammert war, hätte sich ihm nicht ferner gefühlt, wäre er in Hamburg gewesen und Ernst in Altamünde. Ja, er fühlte ein Alleinsein, das weit über sie beide hinausging, weit über ihn selbst sogar, als existierte er nicht, außer in diesem Alleinsein.
Paul verachtet Ernst; er
verachtet in ihm allerdings vor allem das, was ihm selbst so ähnlich ist: das
Verklemmte und Verstockte. Gleichzeitig wird Paul geradezu magisch angezogen
durch die freie Sinnlichkeit, wie Joachim sie zelebriert. Zusammen mit Joachim
begibt er sich im September 1929 auf eine Rheinwanderung, bei der die beiden
Heinrich kennenlernen – ein Junge, in den Joachim sich sofort verliebt, der
sich der Wanderung der beiden anschließt, zumal er von Joachim nicht nur
hofiert, sondern auch materiell bestens versorgt wird und dessen wirkliche
Geschichte bis zuletzt im Dunkeln bleibt. Paul lässt Joachim und Heinrich die
Wanderung schließlich allein zu Ende bringen, da er glaubt, die Zweisamkeit der
beiden sonst zu stören. Das, was Paul an Joachim so fasziniert, ist dabei zugleich
das, was ihn an Deutschland fasziniert. In der aus dem Jahr 1987 stammenden
„Nachbemerkung des Autors“ schreibt Stephen Spender:
Vielen meiner Freunde und auch mir kam Deutschland vor wie ein Paradies, in dem es keine Zensur gab, und die jungen Deutschen führten ein außerordentlich freizügiges Leben. Im Gegensatz dazu war England das Land, in dem der Ulysses von James Joyce verboten war …
Es ist die Sehnsucht nach der
geistigen und sinnlichen Freizügigkeit, die Paul Schoner (und seinen Paten, den
Autor) zu seinen Reisen nach Deutschland aufbrechen lässt. Und doch ist das
Deutschland der zweiten Reise vom November 1932 ein gänzlich anderes Land als
es 1929 noch schien. Phänomene wie Antisemitismus, Homophobie und das
staatsferne Treiben paramili-tärischer Einheiten sind schon in den ersten Teil
der Erzählung fein eingewoben. Im zweiten Teil, also bei der zweiten Reise von
Paul kurz vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, werden sie immer
dominanter, sodass, was bei Pauls erstem Aufenthalt noch als Ahnung klang, sich
immer mehr dunkel verdichtet:
«Ich weiß es nicht. Vielleicht wird es herrlich, vielleicht setzt sich die Einsicht durch, dass es darauf ankommt zu leben, bloß zu leben, zu leben um des Lebens willen, vielleicht liegt so etwas vor uns wie die neue Architektur, eine nichtmaterialistische neue Welt.» Er lachte. «Oder vielleicht kommt nichts von alledem, sondern etwas Schreckliches, Grauenhaftes, vielleicht das Ende!» Er hob die Hand, und seine Augen leuchteten, als sähe er auf einer riesigen Leinwand Filmbilder eines letzten Krieges – das Ende von allem.
Auch Heinrich, der Junge von er Rheinwanderung, taucht im
zweiten Teil noch einmal auf: Heinrich ist mittlerweile in die SA eingetreten.
Als Joachim in seiner Wohnung, zu der Heinrich einen Schlüssel hat, durch
Zufall und in Heinrichs Abwesenheit dessen Uniform entdeckt, bespuckt er sie
voll Ekel von oben bis unten, wofür Heinrich sich rächt, indem er zusammen mit seinem
komplett in schwarzes Leder gekleideten SA-Kumpan Horst die gesamte Einrichtung
von Joachim zerstört und nur gerade eben noch verhindern kann, dass Joachim von
Horst, der ihn mit einem Messer angreift, umgebracht wird.
Es war, wie Spender in der
Nachbemerkung von 1987 feststellt, ein Zufall, der ihn das ursprüngliche
Romanmanuskript zu „Der Tempel“, das auf seinen eigenen Deutschlandreisen am
Ende der Weimarer Republik beruht, hat wiederfinden lassen. Entstanden ist
daraus über 50 Jahre nach dem Ende der Weimarer Republik und mehr als 40 Jahre
nach dem Ende der Naziherrschaft in Deutschland der Roman, der uns jetzt in
deutscher Übersetzung von Sylvia List vorliegt als eigenwillige Melange aus
Autobiographie, Fiktion und Geschichtsdeutung – wie Spender selbst betont:
Der Tempel ist also ein komplexes Gebilde aus Erinnerung, Fiktion und nachträglicher Erkenntnis. Die nachträgliche Erkenntnis ist sicher das entscheidende Element, denn sie ließ mich beim Lesen des Manuskripts erkennen, wie sehr der Roman auf 1918 und den Ersten Weltkrieg bezogen war und nun wieder rückblickend von 1933 und 1939 aus betrachtet wurde.
Die Stärke des Romans liegt
dabei sicher nicht nur in der „nachträglichen Erkenntnis“, sondern darin, dass
er die Lesenden im Strom dieser durch heftige Gegensätze geprägten Spätphase
der Weimarer Republik aus der Perspektive einer für männlichen Eros
inspirierten Freundesgruppe mit kunstvoller Leichtigkeit mitschwimmen lässt.
Ganz ohne Pathos, aber mit subtiler Einfühlung in die Welt und die Figuren der
Geschichte.
Wir danken
queer.de für die freundliche Erlaubnis der Zweitverwertung dieses Beitrags.