Stephan Reich: Wenn's brennt (Auszug)
Stephan Reich
„Wenn’s brennt“
(Auszug)
Es überrascht mich, aber wenn man so richtig eins auf die Fresse bekommt, dann wird es erst mal sehr, sehr still. Ich will ausweichen, aber Maltes Faust trifft mich seitlich am Kopf. Es kracht, als würde Holz brechen oder als wäre mein Kopf ein leerer Raum, in dem jemand etwas Schweres fallen lässt, und dann ist es ruhig. Ich taumele zur Seite, aber ich falle nicht. Hinter mir sehe ich Finn auf dem Boden vor der Empore liegen, mit dem Gesicht im Staub, er rudert mit den Armen im Schotter, als wolle er wieder aufstehen, und durch meine gebückte Haltung ist die Erde gedreht und es sieht aus, als versuche er, sich von der Welt abzustoßen. Nina schreit, glaube ich. Malte sagt etwas, nein, auch er schreit es, aber die Stille ist in ein Fiepen übergegangen und ich kann ihn schlecht verstehen. So muss sich eine dieser Rückkopplungen anfühlen, die man manchmal vor einem Verstärker abbekommt, nur dass man selber der Verstärker ist. Ich schmecke Blut, aber ganz sicher bin ich da nicht. Ich will mich aufrichten, sacke aber auf die Knie. Neben mir steht Maltes Roller. Vorhin, als ich das Knattern des entdrosselten Motors im Dorf gehört habe, war mir klar, was passiert. Und Finn ging es ähnlich, glaube ich, er ist von der Couch aufgestanden und hat sich den Nacken gedehnt, wie im Film. Nina war direkt ganz hysterisch, ist aufgesprungen und hat uns angefleht, abzuhauen, aber da bog Malte schon auf den Schotter, und weglaufen ging dann nicht mehr, so viel war klar. Ich sehe, wie Malte zu Finn geht, der es geschafft hat, sich auf Knie und Ellbogen aufzurichten, und wie er ihm in den Magen tritt und dann ins Gesicht. Ich schreie etwas, höre mich aber nicht. Malte dreht sich zu mir, schreit auch etwas, aber auch ihn höre ich nicht. Er kommt auf mich zu, packt mich an den Haaren und schlägt mir wieder ins Gesicht, auf das Jochbein, und jetzt falle auch ich. Der Schmerz breitet sich über meinen Kopf aus, als wäre er flüssig und kurz bin ich ganz in mir eingeschlossen. Ich will mir reflexhaft auf die Wange fassen, aber dann fällt mir die Geschichte dieses Fußballers ein, der sich mal das Jochbein bei einem Kopfballduell gebrochen hat. Der hat sich auch an die Stelle gepackt, nur war da eben kein Knochen mehr, sondern nur noch ein Loch, und dann musste er kotzen und ist mit einem Schock vom Platz. Aber vielleicht wäre das jetzt gar nicht so schlecht. Trainer, bitte auswechseln, schnell. Nina hockt neben mir, ich sehe sie aus dem Augenwinkel, ich schmecke Erde und Dreck und Blut und ich glaube, sie weint. Ich will aufstehen, aber es geht nicht. Nicht, weil mir die Kraft fehlt, eher weil ich nicht weiß, in welche Richtung ich mich vom Boden abstoßen müsste. So wie als ich noch klein war, da hat mich im Urlaub am Meer mal eine Welle erwischt und unter Wasser gedrückt. Und als ich wieder nach oben tauchen wollte, bin ich mit dem Kopf in den Meeresboden gestoßen, weil ich nicht mehr wusste, wo ich gerade war. Ich will mit Nina ans Meer fahren, denk ich, und da trifft mich Maltes Fuß in die Rippen und mir bleibt die Luft weg. Ich falle auf die Seite, sehe Nina, wie sie aufspringt und Malte sie wegschubst. Finn liegt jetzt ganz ruhig auf dem Boden. Malte hat einen Kumpel mitgebracht, den ich nicht kenne. Er steht in Motorradkleidung am Roller und wirkt ganz gelassen. Vielleicht bin ich ja der einzige, der sich vorher noch nie geschlagen hat, und dann denke ich kurz an das Gespräch mit Nelson, und wie froh ich bin, dass man sich wohl doch nicht einscheißt. Jetzt, in diesem Moment, in dem Malte vor Finn steht und ihn anbrüllt, obwohl der ganz reglos daliegt, in dem Nina auf dem Boden hockt und heult, Maltes Kumpel am Roller steht, als ginge ihn das alles gar nichts an, und ich auf der Seite liege und mir den Kopf halte, da wünschte ich mir doch sehr, dass Nelson auch hier am Schotter wäre, bei uns.
Malte holt wieder aus, und ich rufe „Du Hurensohn“. Ich höre es wie durch Wasser. Malte lässt den Fuß wieder sinken, der Finn am Kopf hätte treffen sollen, und dreht sich zu mir um. „Du verfluchter Hurensohn“, sage ich, ganz langsam, ganz deutlich, ich höre mich jetzt wieder besser. Malte kommt auf mich zu, nur noch ein paar Meter Schotter, denke ich, zwischen mir und dem K.-o. Nina kreischt und heult, springt Malte an, aber der packt sie bei den Schulter und wirft sie wieder zu Boden. „Ist gut jetzt“, höre ich Maltes Kumpel sagen und anschließend mich selber: „Ich bring dich um.“ Malte lacht. „Wie willst du das machen, Herrmann?“, fragt er und dann springt Finn ihn von hinten an, legt ein Messer an Maltes Kehle und sagt „So.“
Dann ist es wieder erstmal still, aber diesmal ist die Stille nicht in mir, diesmal ist sie außerhalb. Malte ist mitten in seiner Bewegung erstarrt, Finn hat ihn an den Haaren gepackt, seinen Kopf von hinten auf Maltes Schulter gelegt und presst die Klinge an Maltes Hals, der langsam zu bluten anfängt. Finn heult, das sieht man ganz deutlich, und seine Tränen fließen über in die Schwälle von Blut, die ihm aus der Nase und aus dem Mund laufen, das Kinn hinunter und auf Maltes Shirt. Man hört den Fluss rauschen und die Bäume am Ufer im Wind und ich merke, wie mein Schmerz nicht mehr da ist, nur noch eine Art Angst und die Frage, woher zum Geier Finn das verdammte Messer hat.
„Finn, mach kein Scheiß“, schreit Nina und Maltes Kumpel setzt sich in Bewegung, aber Finn dreht sich mitsamt Malte zu ihm und sagt „Bleib stehen.“ Er spuckt Blut dabei, das auf Maltes Wange landet, die Hand mit dem Messer zittert ganz deutlich, und mit der anderen reißt er Maltes Kopf ruckartig hin und her.
„Mach doch, Möller. Du Lappen“, sagt Malte, und ich schreie „Jetzt halt doch mal das Maul“, und Nina schreit auch etwas, nur Maltes Kumpel hält sich zurück. Ich sehe den Hass in Finns Augen, sehe, wie sich die Muskeln seines Unterarms zusammenziehen und wieder lösen, wie sich das Messer unter den Bewegungen leicht in die Haut schiebt und denke, dass jetzt gleich vielleicht ein Mensch vor mir stirbt. Zwar nur Malte, aber trotzdem.
„Finn, mach keinen Scheiß“, sage auch ich und nehme die Hände nach oben, als würde ich mich ergeben. „Finn, bitte“, sagt Nina, aber sie bekommt es kaum raus, weil sie so hemmungslos weint. Finn drückt sein Gesicht an Maltes Wange, verreibt das Blut mit kreisenden Bewegungen, fragt: „Wie fühlt sich das an?“ Er schnauft, müsste jetzt nur seinen Arm nach hinten ziehen, dann wäre Maltes Kehle durchschnitten und er würde vor uns im Staub verbluten, „Wie fühlt sich das an?“, wiederholt er, aber dann schubst er ihn weg.
„Du bist ein beschissener Psycho, Möller.“ Die beiden stehen sich kurz gegenüber, Finn wiegt das Messer in der offenen Hand, und Malte reibt sich den Hals. Sein Gesicht sieht aus, als hätte er selber böse auf die Fresse bekommen, die linke Backe ist blutverschmiert und dicke rote Flecken ziehen sich über sein Shirt. „Komm“, sagt sein Kumpel.
„Du kannst dir eigentlich die Kugel geben, du Irrer. Tu uns allen einen Gefallen und bring dich um, Mann“, sagt Malte und geht rückwärts zum Roller. Nina sitzt immer noch am Boden und weint, ich stehe wie angewurzelt und sehe zu Finn und dann wieder zu Nina, deren Schluchzen sich im Knattern des Rollermotors auflöst. Ich gehe einen Schritt auf sie zu, aber da steht sie auf und rennt weg, den Schotter entlang und verschwindet hinterm Aldi.
Finn und ich sitzen noch lange auf dem Sofa, reden aber sehr wenig. Meine erste Schlägerei hab ich mir anders vorgestellt, fast als eine erbauliche Sache. So initiationsritusmäßig. Ein Ausnahmezustand, in dem man an seine Grenzen gelangt und darüber hinaus und aus dem man gestärkt hervorgeht, aber wahrscheinlich ist das nur irgendein Macho-Gedanke in mir, durch den ganzen blöden Hollywood-Actionscheiß, der mir das Hirn aufgeweicht hat. Finns Nase blutet nicht mehr. Er nimmt ein Bier aus dem Kasten, öffnet es und wäscht sich damit das Blut aus dem Gesicht. Ich tue das gleiche, das Bier schäumt und prickelt und brennt in der Wunde an meiner Lippe. Woher er das Messer habe, frage ich und reibe mir Bier aus den Augen. Dass mich das nichts angehe, antwortet er. Ich merke, wie meine Hände zittern und ich mich schwächlich fühle. Es wird dunkel, der Fluss rauscht, irgendwann höre ich ein Moped im Dorf und schrecke kurz hoch, aber es ist nicht Malte. Finn steht auf, springt von der Empore und verschwindet wortlos im Abend. Ich rutsche auf den Rücken, lege die Beine hoch, es ist sehr warm und meine Seite schmerzt, als steckte ein Messer darin. Die Nacht ist klar und ich sehe die Sterne deutlich und zahlreich und ich denke an einen Spaziergang mit Papa vor vielen Jahren, auf dem er mir erklärt hat, dass viele der Sterne schon längst tot seien und nur noch ihr Licht existiere, das noch auf dem Weg zu uns sei. Und ich trinke noch ein Bier aus dem Kasten und frage mich, wann die Dinge eigentlich aufgehört haben, so zu sein, wie sie sind. Seit wann es nur noch das Licht von Sternen gibt und nicht mehr die Sterne selbst, wo Finns Messer bloß herkommt und wie knapp es wohl war, die Distanz bis zu dem Punkt, an dem er diese eine Bewegung mit seinem Arm wirklich vollzogen hätte, und unter all dem Gerausche um mich und den Schmerzen in meinen Rippen und in meinem Kopf und der Erschöpfung dieses schief gelaufenen, beschissenen Initiationsritus schlafe ich irgendwann ein.
Stephan Reich: Wenn's brennt. Roman. München (Deutsche Verlags-Anstalt) 2016. 240 Seiten. 14,99 Euro.