Steinunn Ásmundsdóttir: Erdbeben und ein weiteres Gedicht
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Foto: Valgarður Gíslason
Steinunn
Ásmundsdóttir
Erdbeben
und ein weiteres Gedicht
(Aus:
Fuglamjólk / Vogelmilch, DIMMA, Reykjavík 2023)
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
ERDBEBEN
zuerst
kommt ein dumpf-luftiger Schlag
dann
beginnt auf dem alten Leuchter das Lampenglas zu zittern
die
Katze krümmt sich auf dem Kissen, Bange in den Augen
hier,
wo ich im Bett liege bei Tagesanbruch
die
Amsel draußen vor dem Fenster ist verstummt
ich
höre das Porzellan klirren im Schrank
möglicherweise
rütteln sich Wörter und Sätze
ein wenig zusammen im Bücherregal
so
geht das schon seit Tagen
ich
lasse mich von diesem Beben nicht mehr aus der Ruhe bringen
aber
ich spüre vage ein schwindelerregendes Rauschen im Nervensystem
DIE
MEISTEN SIND FORTGEFLOGEN
die Eiderente quakt
draußen auf der Welle
das Meer plätschert
gegen einen rostigen Eisensteg
ein Rettungsring
schlägt gegen seinen Galgen
in der Abendbrise
es
riecht nach Herbst
Herbst
im Innern
Herbst
im Wind
Herbststimmung
bei den Vögeln
ihr
Gesang ist eintönig
geworden, schleppend
die
Sommerliebe ist dahingeschwunden
die
meisten sind fortgeflogen
alle
außer uns
die
wir vielleicht
an
Winterschlaf denken
darauf
vertrauen, dass
uns
etwas Gutes widerfährt
bald
zerzaust sich das Meer
der
Winter ist da
ich
harre aus
Steinunn
Ásmundsdóttir wurde 1966 in
Reykjavík geboren. Die Welt Bereisen, Schreiben, Journalismus, Engagement für
Naturschutz und Landbewirtschaftung, das waren zunächst ihre
Hauptbeschäftigungen.1996 kehrte sie nach einem längeren Auslandsaufenthalt in
ihre Heimat zurück und zog nach Egilsstaðir, wo sie mehr als zwei Jahrzehnte
lebte, eine Familie gründete und die längste Zeit als Journalistin und
Fotografin für die Tageszeitung Morgunblaðið arbeitete und später als Redakteurin der regionalen
Zeitung austur glugginn und die Nachrichten-Website Austur Frétt. 2016
begann sie nach zwanzigjähriger Pause wieder mit dem Schreiben von
Belletristik. Steinunn Ásmundsdóttir lebt heute in Reykjavík.
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