Steffen Marciniak: Prinzenverstecke
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Florian Birnmeyer
Steffen Marciniak: Prinzenverstecke. Berlin (Verlag der 9 Reiche) 2023. 32 Seiten. 9,00 Euro.
Es gibt Gedichtbände, die bestechen durch ihre Komposition, durch ihre ausgearbeitete Struktur ebenso wie durch Sprache und Rhythmus. Zu diesen lyrischen Werken gehört „Prinzenverstecke“, ein schmaler Band aus dem Hause Lyrik Edition Neun, dem man mehr zutrauen darf, als der bescheidene Umfang von 27 Gedichten zunächst vermuten lässt.
Steffen Marciniak begibt sich in den drei mal neun Gedichten, die jeweils einem inhaltlich bzw. formal strukturierenden Thema („Prinzenverstecke“, „Ziffermythen“, „Nordlauschen“) unterge-ordnet sind, auf die Suche nach dem Verlorenen, dem versteckten Prinzen, der bukolischen Liebe, die er in mythischen Landschaften und nordischen Gefilden zu finden hofft.
Nicht Edelweiß noch Miere weisen den WegZu einem arkadisch durchflößten Leben ⋅ für michUnd dich ⋅ bis dann Basaltgesteine anheben:Zu einer Steinblume ⋅ die ein Geländer bildetUm neunundneunzig Stufen zu einer PforteHinter der ich deine geheime Insel vermute.(Steinblume)
Marciniaks Lyrik ist gerichtet auf die – nicht blaue, aber
doch romantisch verklärte – Blume, die im ersten Teil des Bandes mal als
Wüstenblume, dann wieder als Steinblume und schließlich als Meeres-, Schnee-
oder auch als Feuerblume vorkommt. Das lyrische Ich durchlebt die verschiedenen
Stadien der natürlichen Elemente und wechselt zwischen Utopie, Bukolik,
Melancholie und Prinzenversteck, dem idealisierten und geliebten Du der
Gedichte, hin und her.
Ich schreite voran und schreie nach dem SinnDieser schroffen Wüste voll rauer SedimenteDoch ich finde den See mit den rosa Flamingos.(Salzblume)
Im zweiten Teil des Bandes gibt die Ziffernlogik von 1 bis 9
den Gedichten eine Struktur vor, dazu kommt eine mythologische Thematik, gerade
so als sollte die leidenschaftliche Aussage der vorangegangenen neun Gedichte
durch die neu gefundene Ordnung aufgewogen und ins dialektische Gegenteil
verkehrt werden. Während sich Gedicht 1 dem ersten Menschen der Bibel, Adam,
widmet, folgt mit dem zweiten Gedicht ein mythologisches Werk über die
Dioskuren usw.
Mythologie und Nummernsymbolik verbinden sich bei Marciniak
gekonnt, auch wenn dies manchmal wie ein in der neueren Lyrik ungewohntes
Korsett wirkt. So begegnen wir im Gedicht „Vier Ströme“ den vier Elementen, den
vier Erzengeln und den vier Himmelsrichtungen genauso wie den vier Tageszeiten
und Jahreszeiten:
Über dem Obelisken ⋅ der an den Himmel reichtAhne ich die Blitze aus Glanz der vier ThronengelMichael ⋅ Uriel ⋅ Gabriel ⋅ Raphael. Am WeltentischLenken sie meinen Blick in vier Sonnenrichtungen:Afrika im Süden ⋅ am Nil ⋅ gehüllt in VergangenheitDer ersten Menschen ⋅ die hier aufgetaucht sind.Wer vermutete hier den Quell des Entstehens?
Marciniak schreibt eine formal sehr ausgeklügelte Lyrik, die mitunter ein wenig
zu sehr auf die Gelehrsamkeit und die mythologische Erlesenheit setzt und
darüber ins Prosaische hinübergleitet. Stark ist Marciniaks Dichtung dort, wo
er Erfahrung, Gefühl und Mythologie, Sage, Märchen zu einem wirkkräftigen
Ganzen verbindet:
Im Klingen erwacht aus dem Schlafe die Nacht ⋅Die Mondlibellensichel leuchtet den FlügelwesenIhren Weg. Wie Glühwürmchen im PizzicatoschrittFinden elfische Gäste sich zur Mittsommernacht ein.
Dies trifft vor allem auf den dritten Teil des Bandes zu,
der nordische Sage mit Reise- und Lebenserfahrungen in Lettland, Litauen,
Norwegen, Dänemark sowie klassischen Musikstücken kombiniert, die man als
Ergänzung zu der Lektüre anhören kann (Genannt wird zu jedem der neun
abschließenden Gedichte ein Komponist mit Musikstück). Marciniaks Gedichte in
diesem Teil sind im Grunde poetische Kommentare zu der Musik, die diese in
lyrischer Form weiterentwickeln, in einer raffinierten Verknüpfung
verschiedener Kunstformen und Gattungen.
So zum Beispiel in „Lettische Farben“ (Musikstück:
„Regenbogen“ von Janis Ivanovs):
Siebenmal blitzt im Regenbogen der Harfenhall,Die Schar der Geigen schiebt Nässewolken fortUnd letzte Tropfen malen den Farbenkreis.
Mal ruhig, mal düster, mal persönlich, dann wieder
poetologisch zu lesen fährt Marciniak in diesem letzten Teil noch mal alle
Geschütze auf und wechselt häufig die Tonart und Sprechweise. Persönlich wird
es beispielsweise in „Schwedische Nächte“, wo die Dichotomie aus Utopie, Ideal,
idealisierter Liebe und Traurigkeit und Melancholie wiederkehrt:
Traurigkeit schmelzt [sic!] meine Kraft ⋅ wenn andereSpotten ⋅ weil ich süße Worte dir widme ⋅ wieAuch den Engeln oder Epheben – Da trittst duAuf meine Schwelle und lockst mich ins Freie.
Im letzten Gedicht des Bandes wird das Lied „Prayer for
Ukraine“ von Valentin Silvestrov aus dem Jahr 2014 von Marciniak poetisch
kommentiert, wobei das Gedicht durchaus politischer und kämpferischer hätte
formuliert sein dürfen.
Ein Gebet den Verteidigern ⋅ denen mit jedem RufDer Geige ⋅ eine Blume aus der Heimaterde wächst ⋅Mit weißen Blüten aus Schmerz. Über Dornen wehtDer Wind zum Traum ⋅ einer Rückkehr in die Freiheit.
Marciniaks Domäne ist jedoch nicht der Kampf, sondern das
Individuum, die Sage, das Bukolisch-Gefühlvolle. Er ist ein mythologisch belesener
und vorgebildeter Lyriker, der sich in der Utopie und im Altertum zuhause fühlt,
auch wenn das in unseren Zeiten nicht überall Anklang findet.