Stefan Hölscher: Queere Lyrik - wen juckts?
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Stefan Hölscher
Queere Lyrik - wen juckts?
Queere Lyrik befindet sich in
zweifacher Hinsicht im Abseits: als Lyrik und als queer, was ich hier als
Überbegriff von LGBTIQ, also Lesbian / Gay / Bisexual /
Transgender / Intersexual / Queer verstehe.
Lyrik ist in unserer
Gesellschaft ein Randphänomen geworden, das offenbar nur noch sehr wenige Menschen
umtreibt. Ist, wie die Statistik des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
verkündet, die Zahl der Leser*innen schon generell in den letzten Jahren
dramatisch gesunken (von 2012 bis 2016 um über sechs Millionen Buchkäufer*innen),
so liegt die Zahl der Lyrik-Leser*innen (Schüler*innen mal ausgenommen) im
absolut homöopathischen Bereich, wie insbesondere die Auflagen von Bänden zeitgenössischer
Lyrik zeigen, bei denen schon 500 Stück als ziemlich viel gelten dürfen.
Und auch wenn queere Menschen
und Lebensformen, zumindest in Gesellschaften wie unserer
stärkere Anerkennung bekommen haben als jemals zuvor, so ist doch jede Person,
die nicht basierend auf dem ursprünglich im Geburtsregister eingetragenen
Geschlecht als heterosexuell zu betrachten ist, abweichend von der großen
Mehrheit.
Queere
Lyrik ist also ein echtes Randphänomen, ein Phänomen am Rande des Rands. Ein
Phänomen für Menschen mit einem doppelten Riss in ihrem existenziellen
Selbstverständnis. Lyrik in einem ernstzunehmenden Sinn dieses Worts bezieht
sich immer auf einen, gegenüber dem ‚normalen‘, prosaischen Wahrnehmen und Denken, abweichenden Blick auf die Welt. Und wer queer ist, entspricht nicht dem
heteronormativen Bild des Seins, das den meisten auch heutzutage noch mit ihrer
Sozialisation gründlich eingeimpft wird. Diejenigen, die queere Lyrik umtreibt,
müssen also wirklich durch und durch schräg sein.
Was
eigentlich ist queere Lyrik? Ich möchte es aus pragmatischen Gründen mit der
Definition hier einfach halten. Unter queerer Lyrik verstehe ich Lyrik, die
dezidiert queere Phänomene zum Gegenstand hat. Solche Lyrik wird zumeist von
queeren Menschen verfasst. Sie handelt von anderen Arten zu lieben und allem,
was damit zusammenhängt.
In der
Literaturgeschichte ist queere Lyrik, die zumeist homosexuelle Lyrik war, ein
sehr altes Phänomen. Viel früher als Prosa mit homosexueller Thematik gab es
entsprechende Gedichte. Schon in der Antike wimmelt es davon und in den Epochen
zwischen der Renaissance bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wimmelte es dann noch
viel mehr. Viele große Dichter*innen haben queere Lyrik verfasst (was weder
heißen soll, dass sie sie selbst so genannt hätten, noch dass die
Verfasser*innen in jedem Fall im hier zugrunde gelegten Verständnis queer
waren): Zum Beispiel Theognis, Vergil, Shakespeare, Lord Byron, von Platen,
Walt Whitman, Verlaine, Oscar Wilde, Jean Cocteau, W. H. Auden, Sappho, Mascha
Kaleko und viele andere mehr. Die Texte nicht weniger von ihnen wurden erst
spät, am Ende einer Karriere oder sogar erst posthum veröffentlicht. Dies
wiederum hat unverkennbar damit zu tun, dass Homosexualität – anders als die ‚reine
platonische Liebe‘, bei der Sexualität gerade nicht vorgesehen ist – im
offiziellen gesellschaftlichen Leben über die längste Zeit abendländischer
Geschichte hinweg verpönt, verboten, verfolgt und bestraft wurde. Die
alt-griechische paiderastia, also die Liebe eines erwachsenen Mannes zu einem
älteren Knaben oder Jüngling, bei der der Mann den Jungen nach einem strengen
Kodex, der allerdings nicht selten übertreten wurde, auch erotisch ins
Erwachsensein einführt, muss hier als Sonderfall gelten.
Kentaur Chiron lehrt Achilles
das Lyra-Spiel. Fresko Neapel,
Archäologisches Nationalmuseum.
Sieht
man vom poetischen Ausdruck der paiderastia ab, zeigt queere Lyrik faktisch bis zum
Ende des 20. Jahrhunderts in der abendländischen Geistesgeschichte die Merkmale
einer verdrängten Außenseiterkultur. Dies gilt für ihre karge Rezeption; dies
gilt für den literaturwissenschaftlichen Umgang mit ihr, der bis in die zweite
Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein ignorierend und abwertend war. Queere Texte
wurden gerne, statt als ‚echte Literatur‘, als rein psychologisch zu
betrachtender Ausdruck ihrer Autor*innen gesehen. Dies gilt besonders aber
auch, wenn man auf die Themen queerer Lyrik schaut.
Das historisch
häufigste Thema ist die lyrische Erhöhung des/der unerreichbaren Geliebten,
unerreichbar weil die über alles geliebte Person diese Liebe abweist oder diese
Liebe, als auch mit Sexualität verbundener Partnerschaft, als grundsätzlich
unmöglich wahrgenommen wird. Vor allem im 20. Jahrhundert kommen dann Themen
hinzu wie die zum Teil sehr ungeschminkte Referenz auf queere Sexual- und
Lebensformen (zum Beispiel bei Pier Paolo Pasolini, Allen Ginsberg oder Hubert
Fichte) und die Auseinandersetzung mit dem Verlust durch Krankheit / Aids (zum
Beispiel bei Detlev Meyer oder Mario Wirz). Dies ist der Kern der thematischen
Spannungsfelder, aus denen queere Lyrik ihre Kraft und Besonderheit geschöpft
hat.
Womit sich
die Frage stellen könnte: Was ist eigentlich nun? Nicht nur sind so viele
Leser*innen weg, sondern schlimmer noch: Die Themen scheinen verschwunden. Wenn
Homosexuelle genauso wie Heteros heiraten können, wenn queerer Alltag gar nicht
mehr so ungewöhnlich ist, wenn Sex in allen Varianten überall verfügbar
dargestellt (und ausgelebt) wird, wenn es ziemlich wirksame Mittel für die HIV-Prävention und Behandlung gibt, was gibt es dann eigentlich noch in der queeren
Poesie zu sagen? Natürlich bleiben die Themen da, wo all dies anders aussieht als
etwa bei uns. In 72 Ländern ist Homosexualität, Stand heute, immer noch verboten,
in 13 Ländern, darunter Iran, Saudi-Arabien und Teilen Nigerias steht sogar die
Todesstrafe darauf, während homosexuelles Verhalten in anderen Ländern, in Asien
und Afrika, ‚einfach nur‘ mit Gefängnis und Peitschenhieben bestraft wird. Auch HIV und Aids, wovon natürlich nicht nur LGBTIQs betroffen sind, sind vor
allem in einigen afrikanischen Ländern bis heute ein verheerendes Übel. In
Ländern wie Deutschland stellt sich die Situation nun aber anders dar.
Was
heißt das für queere Lyrik? Man könnte meinen, sie hat ein Themenproblem, und
es ist vielleicht nicht nur Zufall, dass es in den letzten zwei Jahrzehnten im
deutschsprachigen Raum keine queeren Lyriker*innen von größerer Bekanntheit,
wie sie etwa der 1999 an AIDS verstorbene Detlev Meyer noch hatte, mehr gibt. Zwar finden sich noch queere Gedichtbände, so etwa der 2012 erschienene
und durchaus lesenswerte Band von Peter Salomon „Die Jahre liegen auf der
Lauer“. Aufmerksamkeit entsteht dafür aber nahezu gar nicht – weder in der
LGBTIQ Community noch in der aktuellen Lyrikszene.
Auch
gab und gibt es kaum Sammlungen queerer deutschsprachiger Lyrik: Die 1994 von
Joachim Campe als Insel-Taschenbuch herausgegebene Anthologie „Matrosen sind der
Liebe Schwingen“, die „Homosexuelle Poesie von der Antike bis zur Gegenwart“ ihres Erscheinens vereint, gibt es nur noch antiquarisch. Ebenfalls die von
Martin Ripkens und Hans Stempel zusammengestellte Sammlung schwuler,
deutschsprachiger Gedichte aus dem 20. Jahrhundert „Ach Kerl, du gehst mir
nicht aus dem Kopf“. Noch dünner sieht es mit Sammlungen lesbischer Lyrik aus.
Und der vom Autor dieser Zeilen zusammen mit Alfred Büngen 2015 herausgegebene
Band „Queerlyrik“ basiert ausschließlich auf den Einsendungen zu einem
Queerlyrik-Wettbewerb und ist damit auch keine umfassendere Anthologie. Eine
solche scheint offenbar als Projekt vom Haus für Poesie in Planung zu sein,
doch muss man/frau hierauf offenbar noch ein Bisschen warten …
Ist
queere Lyrik im deutschsprachigen Raum also ein allmählich aussterbendes
Randphänomen? Ich glaube nicht. Auch wenn es Liebeslyrik heutzutage generell
schwer hat, Gedichte über Liebe, Partnerschaft und Sex – auch in ihren queeren
Formen – wird es geben, solange es Menschen gibt. Und solange wird es auch
lyrische Reflexionen über das eigene Selbstverständnis, Gewordensein und
Anderssein geben – etwas, das bei queeren Menschen in aller Regel besonders
ausgeprägt ist, da sie sich als abweichend von der herrschenden
Heteronormativität erst finden und definieren müssen. Die Abweichung hat dabei
nicht nur eine die Entwicklung des Einzelnen betreffende, sondern auch eine
historische Dimension. Es ist sicher kein Zufall, dass viele der neueren
queeren Romane in ihrem Handlungsrahmen auf der Zeitachse deutlich zurückspringen
(zum Beispiel der mit seiner Handlung in den dreißiger Jahren des letzten
Jahrhunderts einsetzende Roman „Verwirrnis“ von Christoph Hein, die
autobiographisch gefärbten Romane „Hör auf zu lügen“ von Philippe Besson und
„Das Ende von Eddy“ von Edouard Louis und diverse andere). In der
Auseinandersetzung mit der eigenen existenziellen Differenz spielt das Erbe der
Geschichte eine kaum zu unterschätzende Rolle.
All
dies bietet eine reiche Themenfülle für queere Lyrik. Hinzu kommen
Themenfelder, die bisher deutlich weniger zum Gegenstand geworden sind. So geht
es zum Beispiel in dem im März 2019 erschienenen Gedichtband des ungarischen
Lyrikers Zoltán Lesi „In Frauenkleidung“ um den Lebensweg intersexueller
Sportler*innen zu Beginn der 30er Jahre. Da wäre also noch Neuland zu entdecken
…
Vor
allem aber liegt in dem doppelten Riss – lyrisches Denken und queeres Sein –
auch ein doppeltes Potenzial für Reibung, Perspektivenwechsel und
Herausforderung. Das lässt sich nutzen. Und es lässt sich zum Beispiel so
nutzen, dass queere Lyrik mit Inhalten und Formen spielen darf. Sie kann dies
auf ganz natürliche Weise tun, denn Queerness bedeutet immer auch, aus
etablierten Mustern und Formen auszusteigen und Anderes, Schräges, Unerwartetes,
auch Unpassendes zu tun.
Gegenüber
den Gepflogenheiten der aktuellen deutschsprachigen Lyriklandschaft heißt das
zum Beispiel: Queere Lyrik kann sich die kognitive Sprödigkeit der
Gegenwartslyrik zu Eigen machen. Muss sie aber nicht – vor allem nicht
flächendeckend. Sie kann auch ganz anders. Sie darf experimentieren, provozieren,
ätzen und brennen. Sie darf schrill, kitschig, expressiv und emotional sein.
(Und natürlich zwischendurch auch wieder ganz prosaisch-konstruiert-gelassen.)
Queere Lyrik darf zu unterschiedlichen Arten des Juckens führen – auch bei
ausgemacht coolen poetischen Heteros.