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Stefan Hölscher: denk/mal/frei

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Amadé Esperer

Stefan Hölscher: denk/mal/frei. Saustarke Sprüche und renitente Reflexionen. Vechta (Geest Verlag) 2021. 100 Seiten. 11,00 Euro.

Denk / mal / frei. Sauschlaue Sprüche und renitente Reflexionen


Endlich ist mal wieder ein lesenswertes Buch mit Aphorismen erschienen, die das altehrwürdige Genre in den bunten, hellen, teils schrillen, jedenfalls lebensfrohen Tonarten neuer Lebenswirklichkeiten abbilden, kommentieren und teils hymnisch besingen, teils ironisch, sich selbst auf die Schippe nehmend, reflektieren.
    Als Kernmotto des ebenso klugen wie verschmitzten Bandes sprang mir sofort der folgende Spruch ins Auge:

Um den Punkt, an dem jemand steht, wirklich zu verstehen, ist es nötig, den Weg, den er bis dahin gegangen ist, zu sehen.

Das ist ein ebenso wahrer wie nachdenklich machender Satz, der wie viele andere Sätze in diesem Vademecum, den Nagel unserer heutigen Zeit, die sich in schnelllebigen Facebook oder Twitter-Posts, allzu oft auf Kosten von anderen austobt, exakt auf den Kopf trifft.
    Der Satz zeigt auch gleich den Unterschied auf zwischen Aphorismus und Social-Media-Spruch. Während letzterer manchmal durchaus aphoristische Qualität haben mag, so ist er doch meist auf etwas ganz anderes aus: auf das schnelle, möglichst plakative Statement in eigener Sache. Aphorismen aber, so kurz sie auch sprachlich ausfallen mögen, sind nicht aufs Flüchtige, Flüssige und Persönliche angelegt, sondern aufs Nachhaltige, Nachdenkliche und Überpersönliche. Sie wollen andere an Einsichten teilhaben lassen, deren Wahrheiten sich beim Verfasser¹ nicht erst beim Tippen der Sätze entwickeln, sondern lange vor dem Niederschreiben in seinem Herz und Hirn herangereift sind. Karls Kraus hat dies in einem treffenden poetologischen Aphorismus auf den Punkt gebracht:

Einen Aphorismus kann man in keine Schreibmaschine diktieren. Es würde zu lange dauern².

Als Weingenießer drängt sich mir natürlich auch die Metapher vom gereiften Wein auf: Ein guter Aphorismus ist wie ein lange gelagerter Châteauneuf du Pape. Man öffnet einen Jahrgang ja frühestens nach fünf Jahren. So ist es auch mit einem guten Aphorismus. Er braucht vielleicht keine fünf Jahre, aber mindestens so viel Reifezeit, dass seine Botschaft in konzentrierter Form möglichst konzise zu Sprache wird. Wie viele Wörter er dann umfasst, ist unerheblich, allerdings wird er meist nicht allzu lange geraten. Denn als ausgereifter, schmackhafter Aphorismus enthält er gewiss so viel Würze, dass er, was die Wortzahl angeht, mit der sprichwörtlichen Kürze auskommt.
    Solcherart nun sind die meisten Aphorismen, die Hölscher in seinem Brevier zusammengestellt hat. Beeindruckend ist die weite Landschaft an Themenfeldern, die der Autor scharfsinnig beackert.

Er führte nicht sein eigenes Leben. Doch wessen Leben war es dann?

Natürlich wundert es nicht, dass sich Hölscher mit Vorliebe auch erotischer und queerer Themen annimmt und auch vor intim Sexuellen nicht zurückschreckt:

Wilde Orgasmen, weises Akzeptieren und lebensfrohes Jubilieren sind durchaus different. Doch gehören sie seit alters her zur besten Medizin, die des Menschen Leben kennt.

Ohne Obsessionen hat das Leben mehr Gelassenheit. Doch weniger Lebendigkeit.

Sex ohne Perversion ist wie Arbeit ohne Lohn.

Männer sind eine geile Spezies, nur nicht die ungefähr 97% von ihnen, die dumm, unappetitlich, arrogant, ignorant, ausgetickert, verlogen, hässlich oder all das zugleich sind. Doch der, den du gerade liebst, gehört gewiss zu den 3 anderen.

Es kommt der inniglichen Liebe wie dem heißen Sex zu Gute, wenn man erkennt, dass beide zusammenkommen können, aber nicht müssen und es meistens auch nicht tun.

Die Idee, dass nur da, wo Liebe ist, auch Sex sein soll, ist sicher gut gemeint; aber für gewöhnlich der Anfang vom Ende der Beziehung.

Aber auch Metaphysisches umkreist Hölschers Aphorismen. Besonders bemerkenswert fand ich seine Gedanken zum Erhabenen, einem Begriff, dessen Assoziationswelt man im Umfeld von hedonistischen Betrachtungen gar nicht so erwarten würde:  

All die komplexen Differenzierungen, die wir vornehmen, machen die Welt nicht zu einem besseren Ort. Aber das Gefühl von Erhabenheit, das sie uns geben, bildet einen wirksamen Schutzfilm gegen Kratzer auf unserer Optik.

Oder:

Wenn du gelernt hast, dass all das, was du besitzt, nur eine Leihgabe ist, kannst du beginnen zu lernen, dass all das, was du bist, nichts anderes ist.

Hier wird in saloppem Duktus fast so etwas wie der Glaube an Transzendenz spürbar. Es sind genau Aussagen wie diese, welche der Autor zwischen jene auf genussweltliche Lebensaspekte bezogenen Aphorismen einstreut, die dem Buch auch eine wohltuende vertikale Dimension verleihen.

Auch ethische Aspekte berührt Hölschers Gedankenwelt. So etwa, wenn er schreibt:  

Auf den Listen großer Taten stehen viele große Taten. Doch es fehlen darauf die kleinen. Für einen anderen Menschen wirklich da zu sein, sich zu kümmern, für ihn zu sorgen, auch ohne Lohn und schöne Worte, ist nach außen gänzlich unscheinbar. Doch gehört es wohl zum Größten, was Menschen möglich ist.

Oder:

Den Gedanken „Mir bleibt keine andere Wahl als…“ solle man stets ergänzen um den Zusatz „es sei denn, ich wollte ehrlich, mutig und gütig sein.“

Oder auch:

Das Bewusstsein, dass sich in jeder noch so kleinen Begegnung ein einzigartiger Teil des Lebens zeigt, gibt dem Moment vielleicht mehr Schwere, doch es eröffnet zugleich die Leichtigkeit des Seins.

Diese und ähnlich mitreisende, wunderbar zutreffende Sätze würde man, wie einen lieben Menschen, am liebsten umarmen. Das sind Aphorismen, die beglücken und zeigen, dass der Autor mit viel Lebensweisheit spricht und sowohl über sich als auch die Welt als beste aller Errungenschaften herzhaft lachen kann. Und dieses Lachen ist so ansteckend, dass man direkt von einer Art aphoristischer Hausapotheke sprechen kann. Dem dauergestressten Zeitgenossen, von dem ständig verlangt wird, nicht nur eine Haltung zu allem möglichen, sondern dazu auch noch die richtige Haltung zu haben, bieten Hölschers Aphorismen die Möglichkeit, sich mittels „Schmunzeln – Lächeln – Lauthals Lachen“ zu befreien von all dem pseudomoralischen „Woke“, der derzeit auf uns von allen möglichen Seiten einstürmt. Wie wohltuend befreiend sind da Sätze wie:

Ich möchte endlich mal nicht wissen, was ich als nächstes tue.

Ich habe gelernt zu dem zu stehen, was ich bin: ein echt seltsamer Vogel. Erst so konnte ich fliegen lernen.

Die Naivität, die man braucht, um an die Heilung des Denkens durch Argumente zu glauben, ist das, was man Scharfsinn nennt.

Bis es wirklich perfekt ist, hält der Perfektionist den Atem an. Danach ist die Luft raus.
Auch der Perfektionist erreicht die Vollendung erst mit dem Tod.

Alte Inquisitorenweisheit: Reine Wahrheit und gottgleiche Perfektion bleiben ohne Folter pure Illusion.

Mancher entwickelt sich so, dass man ihn am liebsten schnell wieder einschnüren möchte.

In den Bereich „Therapeutisches Schmunzeln“ gehören auch Aphorismen wie diese:

Die Wege gesunder wie ungesunder Ernährungsweise sind faktisch die gleichen: sie beginnen im Kopf, führen über den Magen und enden im Klo.

Der Mensch ist, was er isst. Sind wir deshalb so giftig geworden?

Wer gesund lebt, stirbt länger.

Die große Varietät an berührten Themenbereichen und die quantitative Vielzahl an Aphorismen bringt es natürlich mit sich, dass man als Leser nicht mit allem Gesagten übereinstimmt. Das passierte bei mir beispielsweise beim Lesen folgender Sätze:

Wer Logik sät, wird Mystik ernten.

Je mehr die Komplexität sich steigert, desto mehr nähert sie sich wieder der Trivialität.

Das kaufe ich dem Autor natürlich nicht so einfach ab, beruht doch nach meiner Überzeugung alles vernünftige und diskursive Denken auf Logik. Und auch, dass Komplexität trivialer wird, wenn sie zunimmt, halte ich, wenn ich naturwissenschaftlich denke, für sehr subjektiv, um es einmal so zu formulieren. Allenfalls, dass ein der zunehmenden Komplexität ausgesetzte Mensch diese irgendwann nicht mehr als solche wahrnimmt und dann fälschlicherweise für trivial hält, leuchtet ein.
    Wie dem auch sei: Aphorismen leben ja im Allgemeinen von der Überspitzung, der Übertreibung. Allerdings sollten sie auch verallgemeinerbar sein, damit sie ein Publikum finden, das sich angesprochen fühlt. Dennoch können Aphorismen natürlich auch, wie uns Karl Kraus³ ja anschaulich vorgeführt hat, sowohl einen Über- als auch einen Unterschuss an Wahrheit enthalten. Wichtig ist jedoch, dass sie zündend sind, Zündungsenergie besitzen. Davon beziehen sie die Impulse, die die Leser zum Nachdenken, zum selber Weiterdenken anregt. Diese Anregungs-energie haben die Hölscher´schen Aphorismen. Viele machen nachdenklich, viele versprühen vor allem Lust, Liebe, Leidenschaft, gepaart mit Toleranz und Vergnügen an der Vielfalt heutiger Seinsmöglichkeiten. Kurzum, jeder Geschmack, jede Vorliebe, jedes Bedürfnis wird hier ebenso einfühlsam wie scharfsinnig, ebenso elegant wie witzig befriedigt. Was ich wirklich an Hölschers Buch schätze ist, dass es eine optimistische inklusive Toleranz ausstrahlt. Seine Aphorismen machen nicht Front gegen Andersdenkende oder Andersfühlende. Ganz im Gegenteil: Sie strahlen die Wärme eines humanistischen Weltbildes aus und verleihen aufgrund ihrer Authentizität ein angenehmes Gefühl. Sie sind in diesem Sinne gute Literatur und sollten in keiner zeitgemäßen Bibliothek fehlen.


¹  Ich verwende aus sprach-ästhetischen Gründen ausschließlich das grammatikalische Geschlecht, das mit dem biologischen nichts zu tun hat.
²  Karl Kraus, Aphorismen, Sprüche, Widersprüche, Pro domo et mundo. Nachts, hrsg. Von Ch. Wagenknecht (Schriften, Bd. 8), 1986, Frankfurt am Main.
³  Karl Kraus, Aphorismen, Sprüche, Widersprüche, Pro domo et mundo. Nachts, hrsg. Von Ch. Wagenknecht (Schriften, Bd. 8), 1986, Frankfurt am Main.


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