Stefan Heuer: Es wird immer weitergehen, Musik als Träger von Ideen – Kraftwerk in Madrid
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Es wird
immer weitergehen, Musik als Träger von Ideen –
Kraftwerk im Teatro Real in Madrid
von Stefan Heuer
20.45 Uhr am Donnerstag, 27. Juli 2023.
Bei noch immer 32oC
posieren Touristengruppen lächelnd vor dem Palacio Real im westlichen
Stadtzentrum von Madrid. Das Haar sitzt, aber darum geht es an diesem Abend
nicht – zumindest uns nicht.
Nur einen Steinwurf vom Palast
entfernt, im Teatro Real am Plaza de Oriente, dem 1850 erbauten Opernhaus,
herrscht bei weitaus entspannteren Temperaturen erwartungsvolles Stimmengewirr.
Prominente erklimmen die VIP-Stage, werden interviewt, bekommen ihre Goodie Bags.
Ein besonderes Event ist für diesen Abend angekündigt; keine Premiere, kein Otello,
kein Nabucco, sondern das Gastspiel einer seit über 50 Jahren aktiven deutschen
Band: Kraftwerk. Also alles ein bisschen anders als an anderen Abenden. Im
Zuschauerbereich keine Kostüme und Anzüge, sondern Band-Shirts und Krawatten
mit blinkenden Leuchtdioden. In der mit schwerem Samt und einem überdimensionierten
Wappen ausstaffierten Königsloge heute kein Felipe samt Gemahlin, sondern das
Mischpult samt Serge Graefe, der den deutschen Elektro-Pionieren bereits seit 2005
den Live-Sound verpasst.
Erst Viertel vor neun, noch genügend Zeit
also, um mit meinem Sohn durch dieses wunderbare Gebäude zu stromern, von den
Rängen aus in den Saal zu schauen und Fotos zu machen. Wir winken Rolf Meurer
zu, dem Haupttechniker, der bei den Konzerten zumeist rechts neben der Bühne
seinen Arbeitsplatz hat. Er winkt kurz zurück und fotografiert uns, so wie er vor
Konzerten immer Fotos macht.
Die Sitze im Saal und auf
den Rängen sind noch spärlich besetzt, aber wie sich herausstellt, soll sich
das später ändern. Die Gäste machen noch Selfies, trinken Wein, genießen die
Atmosphäre im sehenswerten Foyer.
Beim Blick auf die mit 4
grauen Pulten und hintergrundfüllender LED-Wand spartanisch gehaltene Bühne ein
unerwarteter Flashback, meine erste musikalische Erinnerung: 1977, ich war 6
Jahre alt, saß ich an fast jedem Abend mit meiner um 5 Jahre älteren Schwester auf
dem Boden, spielte Canasta und hörte Schallplatten. Und beinahe ein ganzes Jahr
lang waren dies allabendlich zwei Platten im Wechsel: Low von Bowie und Trans Europe Express von Kraftwerk.
Kraftwerk bestand damals aus
dem heute als "classic" bezeichneten Lineup, aus den Gründungsmitgliedern
Ralf Hütter und Florian Schneider sowie Karl Bartos und Wolfgang Flür. Aus
dieser Zeit ist heute nur noch Ralf Hütter an Bord. Florian Schneider, am 21.
April 2020 verstorben, verließ die Band 2009. Karl Bartos nahm 1991 seinen Hut,
Wolfgang Flür bereits 1987. Im Laufe der Jahre kam es immer mal wieder zu
Wechseln in der Formation, der 76jährige Hütter ist bis heute die Konstante.
Zur aktuellen Besetzung gehören neben ihm auch Henning Schmitz (seit 1991),
Falk Grieffenhagen (seit 2012) sowie seit kurzem Georg Bongartz, der den
langjährigen Mitstreiter Fritz Hilpert ersetzte.
Um 21.20 Uhr, Saal und Ränge sind inzwischen
voll besetzt (gemischtes Publikum, vom 10jährigen mit Eltern bis zum
80jährigen, der die Band in den 1970ern als Dreißigjähriger gehört haben mag,
ist alles vertreten), geht es dann mit der gut 10minütigen Pre-Show los, einer
Soundcollage, bevor pünktlich um halb zehn unter lautem Jubel die seit Jahrzehnten
zu jedem Kraftwerk-Konzert gehörige Vocoder-Ansage den Konzertbeginn ankündigt:
Meine Damen und Herren, Ladies and Gentlemen …
Zur einleitenden Sequenz von
Nummern/Numbers vom 1981er Album Computerworld kommen die Musiker
auf die Bühne, wie immer gemessenen Schrittes und in festgelegter Reihenfolge. Numbers
geht nahtlos in Computerwelt über, das Konzert nimmt Fahrt auf. Hütter &
Co. arbeiten sich durch ein Best-of der Bandgeschichte, spielen das (bis auf Metropolis)
gesamte Man Machine-Album von 1978, ergänzen um Songs von den anderen 7 Alben
aus dem offiziellen Kanon: Electric Café, Tour de France, TEE,
Das Model, Autobahn, Planet of Visions sowie Radioactivity,
das auch nach all den Jahren nichts von seiner Aktualität und Bedrohlichkeit
verloren hat. Hütters Stimme fest und markant und im Verlauf der meisten Songs
zweisprachig deutsch/englisch. Die Fans feiern, bedenken die Musiker immer
wieder mit Zwischenapplaus.
Wer immer noch die kursierende
Ansicht vertritt, Kraftwerk würden nicht live spielen, sondern lediglich hinter
ihren Pulten mimen, wird an zahlreichen Stellen eines Besseren belehrt, variieren
die Musiker ihre Songs doch von Konzert zu Konzert deutlich in Sound und Länge.
Boing Boom Tschak vom Album Electric Café (bei Wiederveröffentlichung
umbenannt in Techno Pop) geht dann nach ziemlich genau zwei Stunden in
den traditionell letzten Song des Abends über: Music Non Stop. Jeder der
vier Musiker gönnt sich und dem Publikum ein charakteristisches Solo, um zu
guter Letzt unter Applaus die Bühne zu verlassen. Zum Schluss also nur noch
Ralf Hütter auf der Bühne, nach seinem Solo und der Verabschiedung der Fans
(auf Deutsch und in Landessprache) beim Abgang wie immer mit tiefer Verbeugung
und Hand auf dem Herzen.
Das
Konzert im Teatro Real: beeindruckende Location, mächtiger Sound,
begeisterungs-fähiges Publikum und sichtbare Spielfreude der Band – mehr kann
man von einem Konzert nicht erwarten.
Wer immer Kraftwerk mag oder mal mochte:
Man sollte sie zumindest einmal live gesehen haben. Für Karlsruhe am 12. August
ist es wohl zu spät, wenn man sich nicht auf Ebay-Preise einlassen möchte, denn
die 16.000 Karten für das einzige Deutschlandkonzert in 2023 waren innerhalb nur
eines Tages komplett vergriffen. Vielleicht gibt es noch Karten für Zürich am 14.
September? Ansonsten absolvieren Kraftwerk von Ende November bis Mitte Dezember
eine Australien-Tour. Da soll es ja auch schön sein.