Stan Lafleur: La poésie est dans la rue – über Lyrik im öffentlichen Raum
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La poésie est dans la rue –
über Lyrik im öffentlichen Raum
von Stan Lafleur
Das wilde Beschriften des urbanen Raums reicht zurück bis in die Antike:
„ADMIROR TE PARIES NON CECIDISSE – QVI TOT SCRIPTORVM TAEDIA SVSTINEAS“ („Ich staune,
Wand, dass du nicht zerfallen bist, / da du soviel Unflat von Schreibern
ertragen musst!“) lautet eines von tausenden erhaltenen Dipinti (Bemalungen)
und Graffiti (Ritzungen) in Pompeji. Neben bis heute gängigen Nachrichten und
derben Sprüchen scherzenden wie sexuellen Inhalts hatten und haben die
widerstandsfähigen Mauern Pompejis auch reihenweise teils korrekt, teils
fehlerhaft von Wandbekritzlern angebrachte, der Hochkultur zugerechnete Verse
von Autoren wie Lukrez, Ovid, Properz oder Vergil, auszuhalten.
Eine zusammenhängende Geschichte der Dichtung im öffentlichen Raum harrt
bislang ihrer Verfasser. Die pompejanischen Inschriften werden seit dem 19.
Jahrhundert von Spezialisten erfasst, abgeschlossen ist der Prozess bis heute
nicht. In der vor rund 100 Jahren gegründeten deutschen Inschriftenforschung
machen lyrische Zeilen allenfalls ein Randgebiet aus; in Mitteleuropa finden
sich insbesondere an Fachwerkgebäuden Haussprüche und Epigramme barocker oder
noch älterer Herkunft, über deren Bedeutung und Zusammenhänge nur aus heutiger
Sicht geurteilt werden kann. Die von der Inschriften-Wissenschaft erforschte
Neuzeit endet um 1650. Vermutlich erst im vergangenen Jahrhundert beginnen
europäische Dichter, Städte und Landschaften als Textträger zu bearbeiten. Mit
seinen „testi-poemi murali“, Einwortgedichten, die er 1944 auf Mailänder Mauern
anbringt, funktioniert Carlo Belloli die Stadt zum Buch um und setzt sich mit
Möglichkeiten und Notwendigkeiten dieses frisch eroberten Schreibuntergrunds
auseinander. U.a. das visuelle Moment des Gedichts gewinnt dadurch an
Bedeutung; Vertreter der Konkreten Poesie, der nicht zufällig das lateinische
Wort für Beton, concretum, innewohnt, entwickeln fortan das Spiel mit
visuellen, klanglichen und räumlichen Dimensionen und Positionierungen des
Gedichts. Zum Aufscheinen der 60er-Jahre postulieren die Situationisten
zielloses Umherschweifen, um den urbanen Raum zu erforschen und zu verwandeln.
Künstler, Intellektuelle, Linke machen sich Dérive- und Récupération-Techniken
zu eigen. In der neuen Wahrnehmung füllen sich Straßen und Plätze der
restaurativen Nachkriegszeit mit wilden, zuvor unbeachteten Zeichen und einer
Stimmung, die sich kreativ und konfrontativ entladen wird – während der
68er-Proteste in Paris gelangen schließlich lyrisch-anarchische Parolen wie
„Sous les pavés, la plage !“ („Unter dem Pflaster liegt der Strand“) oder „La
poésie est dans la rue“ („Die Poesie ist auf der Straße“) von anonymer Hand
über Nacht auf Hauswände und von dort als Schlüsselsätze einer Generation um
die gesamte Welt.
Jahrzehnte später findet sich an einem Junimorgen im Jahr 2013 der Schriftzug
„La poésie est dans la rue“ auf erstaunliche Weise wiederbelebt: im Umfeld der
Gezi-Proteste, mit Sprühlack aufs Portal des französischen Generalkonsulats in
Istanbuls europäischem Zentrum unweit des Gezi-Parks appliziert. Protestierende
greifen die Parole auf und sprühen sie, ins Türkische übersetzt, an weitere
Wände. Mit einer Aktion des Konzeptkünstlers Bay Perşembe, der einen Vers von
Ece Ayhan mit der Aufforderung „Schließt das Heft, das Gedicht ist auf der
Straße!“ an einer Istanbuler Hausmauer kombiniert, beginnt ein beispielloser,
anhaltender Wildwuchs poetischer Inschriften, der von Istanbul auf sämtliche
türkischen Städte und, mit dem Hashtag #şiirsokakta (Das Gedicht ist auf der
Straße) versehen, in die sozialen Netzwerke ausgreift, wo seine Anhängerschaft
rasch in die Hunderttausende geht. Zur hohen Schlagzahl der #şiirsokakta-Zeilen
in den Städten trägt bei, dass sie schnell getätigt sind: gewöhnliche
Schreibschriftgröße übersteigen die heimlichen Anbringungen selten und das
benötigte Material steht ohnehin zur Verfügung. Oft kommen mehrere Texte und
Handschriften auf einer Wand bzw. in einer Gasse zusammen, was auf konzertierte
Aktionen schließen lässt. Die Idee des Satzes „La poésie est dans la rue“, der
mehr eine allgemeine revolutionäre Stimmung transportiert hatte, beinhaltet in
seiner türkischen Variante auch die konkrete Vervielfältigung und Produktion
von Versen in der Nachbarschaft.
Versrezitationen gehören in der Türkei seit Langem zum festen Repertoire
politischer Anlässe. Das gilt nicht nur für Demonstrationen wie im Gezi-Park.
1997 wird Recep Tayyip Erdoğan
als Bürgermeister von Istanbul zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt, weil er
ein islamistisches Gedicht von Ziya Gökalp zitiert. Später, als
Ministerpräsident, beginnt er seine Reden u.a. mit Zitaten des kommunistischen
Dichters Nazım Hikmet, den die
junge Republik mehr als ein Jahrzehnt lang inhaftiert hatte. Ein bekannter
türkischer Witz handelt von einem Gefangenen, der aus der miserablen
Gefängnis-Bibliothek ein Buch ausleihen will: „Mit dem Buch können wir leider
nicht dienen, aber der Verfasser wäre vorhanden“, beschreibt die Antwort der
Aufsicht bündig das klassische, bis heute von Repressionen bedrückte Klima
zwischen türkischen Autoren, ihren Lesern und der Staatsmacht.
Als die Gezi-Bewegung die ersten Toten zu beklagen hat, tut sie dies mit auf
Hauswänden angebrachten Zeilen von Metin Altıok („Umarme mich, wo ich mein
Leben gelassen habe“) und Hasan Hüseyin Korkmazgil ("Es ist schwer im Juni
zu sterben"). Insbesondere die Dichter der
İkinci Yeni („Zweite Neue“), einer literarischen Strömung, die sich in
den 50er-Jahren bildete und landläufig als unpolitisch angesehen wird, erleben
im Rahmen von #şiirsokakta paradoxerweise ein Revival aus politischer
Motivation: Verse von Ece Ayhan, İlhan Berk, Edip Cansever, Cemal Süreya oder
Turgut Uyar erscheinen überall im Land auf Wänden und Mauern. Der Istanbuler
Dichter Gökçenur Ç berichtet im Gespräch über Gezi wie der republikanische
Flügel dort seinen gängigen Slogan „Wir sind die Soldaten Mustafa Kemals“
lanciert habe, woraufhin der von anderen, damit nicht einverstandenen
Protestlern erst auf einen Arabeske-Sänger mit ähnlichem Namen umgemünzt und
schließlich zu „Wir sind die Verse Turgut Uyars“ wurde. Später kommen
feministische Zeilen von Gülten Akın („Ich schnitt meine schwarzen Haare ab“)
oder Lale Müldür („Ich wollte, dass dir etwas Schlimmes geschieht / ich wollte,
dass du dich in mich verliebst“) und Eigenproduktionen der nachrückenden
Dichtergeneration hinzu; aber auch Verse so unterschiedlicher Persönlichkeiten
wie Nazım Hikmet und Sultan Selim der Grausame bzw. die typisch melancholische
Feier der eigenen Stadt („Wenn du blau trägst vergesse ich das Meer“)
transportieren –
nebst Zeilen aus Popsongs, zu denen in der Türkei nicht wenige zeitgenössische
Gedichte werden –
die Vielfalt der wilden Straßenlyrik.
Die Halbwertszeit solcher meist mit Filz- oder Benzinstift angebrachten Verse
unterdessen ist kurz, Wind und Wetter greifen die ohnehin flüchtig wirkenden
Inschriften an und löschen viele bald wieder aus. Achim Wagner, der die
#şiirsokakta-Bewegung fotografisch dokumentiert, berichtet, dass die
Stadtverwaltungen anfangs illegal angebrachte Verse überstreichen lassen und
gleichzeitig Lyrikenthusiasten den Verwaltungen nachts auf Twitter ankündigen,
gleich wieder loszuziehen, um Straßen und Wände neu zu beschriften. Bis heute
setzt sich, wenngleich in deutlich abgeflachtem Maße, dieses Neubeschriften
gegen Sonne, Regen und Überstreichungen fort – und die Stadtteilverwaltungen
von Çankaya (Ankara) und Kadıköy (İstanbul) fördern zwischenzeitlich Poesie im
öffentlichen Raum und beziehen sich in der Auswahl auf die #şiirsokakta-Bewegung,
sprich auf die am Häufigsten von zahllosen anonymen Händen in die Architektur
der Viertel geschmuggelten Texte.
Viele #şiirsokakta-Interventionen überdauern tatsächlich ihre ephemere Präsenz
auf Hauswänden, Stromverteilerkästen oder dem Trottoir, weil sie fotografiert
und dann im Internet oder Printmedien dokumentiert werden. Ihre Ästhetik steht
in Wechselwirkung mit der jeweiligen Handschrift, dem Schreibmaterial, dem
Untergrundmaterial, der Lokalität. Zugleich eine Ästhetik des unvermittelten
Aufscheinens, des Verbleichens, Abblätterns, Verwitterns, der Heimlichkeit in
aller Öffentlichkeit, des Entdeckt- und Ausgelöschtwerdens, der beharrlichen
Wiederkehr. In Istanbul überwiegen die #şiirsokakta-Vorkommen bis heute das
durchaus vorhandene „offizielle“ Lyrikvorkommen der Stadt (etwa die mit
Gedichten bekannter türkischer Lyriker beschrifteten Parkbänke der
Prinzeninseln) bei weitem.
In Zentralamerika geht Wandmalerei auf die Hochzeit der Maya zurück. In der
Moderne erlangt das politische Wandgemälde (Mural) von Künstlern wie Diego
Riviera oder José Clemente Orozco weltweiten Ruf. Die Präsenz wilder,
semilegaler oder offizieller Murales in Städten und Dörfern dieser Weltgegend
ist erschlagend. Häufig, z.B. in den von hohem Analphabetismus betroffenen
ländlichen Mayagebieten Guatemalas, übernehmen sie Zwecke der
Identitätsstiftung, Bildung und Geschichtsschreibung: ein Wandgemälde zeigt den
Maisanbau und seinen Zyklus, ein zweites klärt das Dorf über Positionen im
Bürgerkrieg auf, ein drittes beschäftigt sich mit den Mythen der Vorfahren usw.
In der Maya-Weltanschauung sind alle Gegenstände belebt, und tatsächlich
vermitteln die mit Gemälden übersäten Mauern und Wände der Mayadörfer eine
Atmosphäre magischer Belebtheit. Zwischen bildnerischen Murales findet sich
bisweilen ein Typus, der gleich Comic Panels Texte mit Bildern verknüpft oder
rein aus Text besteht: das Mural Poético. Auf z.B. Tzotzil verfasst, gehört das
Mural Poético zu den wenigen öffentlich sichtbaren Zeugnissen der selten, aber
zunehmend häufiger verschriftlichten indigenen Sprachen.
Eine lateinamerikanische Besonderheit sind die Botschaften der Acción Poética.
In Quetzaltenango, kurz Xela, von seinen Bewohnern jeweils zurecht als Stadt
des Mondes und des Kakaos bezeichnet, erblicke ich erstmals eine dieser
Interventionen, die fortan in beinahe allen Städten und Dörfern meiner
Reisewege durch Mittelamerika auftauchen. Medial bekannt ist der Name des
Initiators Armando Alanis Pulido. Der mexikanische Dichter begründet die Acción
Poética im Jahr 1996 in Monterrey, als er eigene Texte in der Stadt großflächig
auf Wände pinselt. Die Aktionen bringen ihm den Beinamen El bardo de las bardas
(Der Mauerbarde) ein. Von Pulido stammt auch eines der bekanntesten Textmotive:
„Sin poesía no hay ciudad“ (Ohne Poesie keine Stadt). Die Idee verbreitet sich,
zunächst in Mexiko, heute existieren in allen lateinamerikanischen Ländern und
selbst auf anderen Kontinenten Ableger der Bewegung, zu deren weltweiter
Reichweite die sozialen Netzwerke maßgeblich beitragen: die verschiedenen
Facebookseiten der Acción Poética werden millionenfach abonniert. Die
grafischen Oberflächen bei Facebook erlauben zudem eine Fortsetzung des Formats
ins Elektronische. Zahlreiche selbst organisierte Gruppen sorgen für die
Verbreitung von Idee und Texten.
Auch wenn die Anbringungen überwiegend illegal sind und, anders als die wenige
Sekunden in Anspruch nehmenden #şiirsokakta-Interventionen, eines erheblichen
Zeitaufwands bedürfen, werden sie nahezu überall toleriert. In Interviews
erzählt Pulido wie ihn manchmal Polizisten fragen, was er da treibe, um dann
begeistert das Entstehen lyrischer Zeilen zu verfolgen; lediglich einmal sei er
festgenommen worden und sehr schnell wieder laufen gelassen.
Ihren Wiedererkennungswert beziehen die Acción Poética-Murales aus
Übereinkünften, an denen sich praktisch alle lokalen Aktionsgruppen
stillschweigend orientieren. Verwendet werden Gedicht- oder Liedfragmente in
schwarzen Großbuchstaben auf weiß grundierter Fläche, um an die Buchherkunft
der Verse zu erinnern. Die Autorschaft bleibt ungenannt, die Signatur lautet
Acción Poética, gelegentlich um eine Lokalkennung erweitert. Der klare Strich
gewährleistet gute Leserlichkeit, auch aus dem vorüberfahrenden Auto. Religiöse
und politische Themen werden zugunsten eines eher romantischen Tonfalls
vermieden, die Texte gehen in der Regel nicht über zehn Wörter bzw. zwei Zeilen
hinaus. Die malerische Ästhetik der Lettern ist eine eigene Betrachtung wert.
Letztlich entwickelt die Bewegung auf den Straßen eine spezielle Anthologieform
verstreuter und zerstreuender Versbotschaften, ein poetisches Subraumnetz
voller Tages- und Nachtmantras für Passanten.
In ihrer oft harmlosen, bisweilen aber auch tiefgreifenden
Aphoristik, sowie in ihrer äußeren Form erinnern die verwendeten Verse und
Fragmente an hiesige Kalender- und Postkarten-sprüche. Auf den Wänden des
öffentlichen Raums können sie sich unmittelbar auf ihre Umgebung beziehen, was
bestimmten Texten eine zusätzliche Dimension zu verleihen vermag, so etwa der
mit kopfstehenden Buchstaben an einer Parkmauer angebrachte Vers „El cielo a
tus pies“ (Der Himmel zu deinen Füßen). Selten entdecke ich Acción
Poética-Texte an exponierten Stellen, häufiger an Schulen und in eher
vernachlässigten, nicht-touristischen Ecken. Anders als bei der türkischen
#şiirsokakta-Bewegung spielt das Subversionsmoment bei der Acción Poética keine
beherrschende Rolle. Im Vordergrund steht die Alltags-Konfrontation des weniger
literaturaffinen Publikums mit Literatur. Großteils werden Texte illegal
angepinselt, zunehmend jedoch auf Einladung. So bringt eine offizielle Kampagne
der Stadtregierung im Jahr 2015 Acción Poética-Tüpfel an Dutzende Orte entlang
der Metro von Mexiko-Stadt.
Zu den wilden, semi-organisierten, im rechtlichen Graubereich wabernden
Interventionsformen der Türkei und Lateinamerikas mit ihren meist anonymen
Aktivisten bilden die institu-tionalisierten Vorkommen von Lyrik im öffentlichen
Raum der niederländisch-flämischen Sprachgebiete einen vergleichsweise cleanen
Kontrast. Auf die Wände gelangt, oft gut durchdacht und auf spezielle
Gegebenheiten angepasst, Kanonisiertes und Kuratiertes. Das experimenteller
Architektur zugeneigte Klima dieser Regionen scheint ebenfalls ein Faktor, der
„Lyrik am Bau“ begünstigt. Öffentliche Budgets bewirken edlere Möglichkeiten
professioneller Anbringungen und zugleich eine erhöhte Gefahr oktroyierter
Sterilität. Die Muurgedichten von Leiden, ein Parcours mit weit über hundert
Stationen, welcher die Stadt als internationale Lyrik-Anthologie von Sappho
über Arthur Rimbaud bis zur jung verstorbenen bulgarischen Dichterin Danila
Stoyanova inszeniert, wirken oft so organisch angebracht, als seien sie bereits
beim Bau der Häuser berücksichtigt gewesen. In Arnheim, Brüssel, Nimwegen, Ostende,
Rotterdam, Venlo, wohin immer es mich in Belgien und den Niederlanden
verschlägt, stoße ich auf das Stadtbild auflockernde und bereichernde Gedichte,
die häufig mit der sie tragenden Architektur korrespondieren wie etwa „uiterst
klein rond deel“ von Lucebert auf einer kreisförmigen betonierten
Baumeinfassung in Venlo. Die erstaunlichste Bandbreite vorübergehend wie
langfristig gedachter Erscheinungen von Lyrik im öffentlichen Raum finde ich in
Antwerpen. Hochhäuser, Kaimauern, Museumsfenster, Theatervordach, Friedhof –
alle denkbaren Träger sind dort mit angenehm unaufdringlicher, doch
wirkungsvoller Präsenz bespielt. Das liegt insbe-sondere an der Einrichtung des
mit einem Budget für öffentliche Lyrikinterventionen bedachten, alle zwei Jahre
neu besetzten Stadtdichterpostens. Die Interventionen der Stadtdichter/innen
binden teilweise die Bürgerschaft ein und hinterlassen seit ihrer Einrichtung
vor 15 Jahren beeindruckende Spuren wie das kilometerlange Scheldeufergedicht „Welkom pierewaaiers“, das Peter
Holvoest-Hanssen nach einem Zeitungsaufruf aus hunderten Einsendungen
komponierte.
Die von der Universität Utrecht betriebene Website straatpoezie.nl
indessen erstellt eine fortschreitende, aktuell über 2000 Einträge zählende
virtuelle Landkarte, die sämtliche Vorkommen von Dichtung im öffentlichen Raum
der Niederlande und Belgiens mit Fotos, Text, Adresse und
Hintergrundinformationen dokumentiert, auch von wild angebrachten, die im
Vergleich zu den „offiziellen“ im Straßenbild eine klare Minderheit vorstellen.
Sich als Dichter durch die Städte der Niederlande und Flanderns zu bewegen,
erweckt ein gutes Gefühl. Die pragmatische Präsenz zeitgenössischer Dichtung im
öffentlichen Raum spricht von einer gehobenen und nachhaltigen Methode der
Literaturvermittlung: einer Kulturpolitik, die erkennt, dass Lyrik der
Gesellschaft zuzutrauen und auf vielfältige Weise das Straßenbild aufzuwerten
im Stande ist.
Öffentlich angebrachte Verse im deutschsprachigen Raum hingegen eignen oft
etwas offiziös-museal-denkmalhaftes, als seien Bronze- und Marmortafel ihr
natürliches Habitat. Oder sie transportieren Lokalkunde bzw. Didaktik, wie z.B.
die kreuzwegähnlichen Lyrikpfade in Breisach oder Bergisch-Gladbach, die auf
Touristik- bzw. Lehrberufe ihrer Betreiber rückschließen lassen. Wilde
Gegenbewegungen existieren, treten aber nur punktuell und lokal via
Einzelpersonen und Kleinstgruppen in Erscheinung. In Deutschland, Österreich
und der Schweiz fällt insbesondere die regionale und personelle Vereinzelung
solcher Aktionen auf. Wo sie gebrochen wird, dort gerne befristet, etwa beim
konzertierten Plakatieren eines Bündnisses der Literaturhäuser auf Werbeflächen
zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Oder sie mündet in „business as usual“, das
über die eigentliche Idee hinwegschreibt, wie die Bremer Lesefutter-Aktion mit
Lyrik auf Brötchentüten, die mehrere Städte über einen längeren Zeitraum
abdeckt.
In Köln bestückt vor 30 Jahren Tom Toys Ampeln und Laternenpfähle mit eigenen
Gedichten; zeitgleich sprüht Enno Stahl lautgedichtartige Texte und „moderne
Runen“ an Wände. Aktuell positioniert die ehrenamtliche Initiative „Lyrik in
Köln“ Aufkleber mit ausgewählten Gedichten an unauffälligen Orten der Stadt und
findet nach langer Sendepause da und dort eine verschämte bis originelle
Intervention, entstehen gar ganze Wände ausfüllende Gedichte in selten
betretenen Vierteln. Auffällig häufig sind Zeilen des persischen Mystikers Rūmī
(„Dankbarkeit ist Wein für die Seele, komm, betrinke dich!“), anscheinend Bob
Dylans „Don't follow leaders, watch the parkin' meters“ folgend, rund um den
Chlodwigplatz auf Parkuhren gepinselt. Sogar Zeilen des Düsseldorfers Heinrich
Heine lassen sich bei geschultem Blick, denn einen solchen braucht es für viele
der klandestinen Beschriftungen, entdecken.
In Wien ist seit Jahrzehnten Helmut Seethaler als „Zetteldichter“ bekannt, der
für seine materialschonenden Anbringungen jahrelang fortgesetzten Ärger mit der
Justiz bekommt, bis seinen Interventionen schließlich höchstinstanzlich
stattgegeben wird.
Am Vorderrhein stoße ich auf mit weißen Majuskeln bepinselte Holzhäuser: es
handelt sich um Gedichtzeilen in Sursilvan, dem in der Gegend beheimateten
rätoromanischen Dialekt. Sowohl die nahezu schwarzen Holzbalkenwände, als auch
die schneeweißen Lettern, als auch die Textinhalte korrespondieren mit ihrer
direkten Umgebung, der rauhen Natur dieses Hoch-alpentals, in dem zwar mehr
Deutsch als Rumantsch gesprochen wird, die romanischen Wörter jedoch klanglich
viel näher bei den alles beherrschenden Naturerscheinungen liegen.
Dann und wann stoße ich auf einzelne Interventionen oder erfahre von ihnen. Das
reicht von mit Mascha Kaléko-Zeilen beschrifteten Street-Art-Kacheln, mit
Stöcken in den immer selteneren urbanen Schnee gekerbten Ernst Jandl-Zitaten,
über private Lichtinstallationen, hin zu öffentlich geförderten Arbeiten. Ihnen
allen ist eines gemeinsam: eher geringe Aufmerksamkeit. Der passende Dreh in
Richtung einer positiven und verstärkten öffentlichen Wahrnehmung öffentlich
angebrachter Dichtung scheint im deutschsprachigen Raum noch nicht entdeckt.
Dabei sorgt ein einziger lyrischer Wandtext, das semi-öffentliche Mural Poético
„avenidas“ von Eugen Gomringer an der Fassade der Alice Solomon Hochschule in
Berlin, im Jahr 2017 ganz und gar unfreiwillig für eine Monate andauernde,
fruchtbare, nationale Debatte. Das Gedicht, ein Stück Konkrete Poesie, mit
Entstehungsjahr 1951, angebracht im Rahmen eines Poetikpreises, gelangt erst
durch Anwürfe seitens des AStA in den Fokus der Öffentlichkeit: dass es sich um
einen sexistischen Text handle, dessen Präsenz Studierenden Unwohlsein bereite,
weswegen er entfernt gehöre. Anstatt im folgenden medialen Aufruhr einen
Startschuss für Möglichkeiten des öffentlich angebrachten Gedichts in
Deutschland zu erkennen, wird der Text seitens der Hochschule entfernt, von
einem als „politisch korrekt“ jurierten abgelöst – und setzt sich stattdessen, aus
Protest von Privatpersonen an Mauern von Brooklyn über Barcelona bis Nairobi
vervielfältigt, sowie in unzähligen Pastiches und als eines von sehr wenigen
Nachkriegsgedichten in Deutschlands kollektivem Gedächtnis fort.