Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 239 + Lettre International, Nr. 134
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
Sprache
im technischen Zeitalter, Nr. 239 +
Lettre International, Nr. 134
Das
Gedicht im Handgemenge. Zwei Lebensbilanzen


Die wilde
Blütezeit der deutschen Literatur begann um 1970 mit einer Hypertrophierung des
Ichs. Die damals marxistisch überhitzte Begriffskultur der linken
Intellektuellen wurde abgelöst durch eine „neue Sensibilität“, die den Blick
öffnete auf eine turbulente Alltagswelt und einer ästhetischen Subjektivität endlich
Raum gab.
In seiner
sehr lesenswerten Literaturgeschichte der Siebzigerjahre (Die Jahre der
wahren Empfindung) hat der Literaturkritiker Helmut Böttiger gerade die
historischen Bruchstellen untersucht, an denen sich der Übergang vom
Politjargon der sogenannten 68er Generation zur Ära der „Neuen Subjektivität“
vollzog. Böttiger ist ein glänzender Chronist, der in seiner anschaulichen
Darstellung auch die Urszenen jenes politisch motivierten Subjektivismus
rekonstruiert, der sich damals in den Gedichten von Nicolas Born, Rolf Dieter
Brinkmann, Jürgen Theobaldy, Michael Buselmeier oder Jörg Fauser entfaltete.
Einer der ersten, der 1971 das Gedicht auf die „Unmittelbarkeit der
gesprochenen Sprache“ verpflichten wollte, war der 1944 in Straßburg geborene
und in Mannheim aufgewachsene Jürgen Theobaldy. Er studierte Ende der sechziger
Jahre in Heidelberg, schrieb Gedichte und entdeckte eines Tages das
subliterarische Blättchen „Der fröhliche Tarzan“, das Rolf Eckart John in Köln publiziert
hatte. Das wurde zur Initialzündung für Theobaldys eigenes Zeitschriftenprojekt
Benzin, das er Ende 1971 auf einer Matrize in hundert Exemplaren selbst
herstellte. Drei Jahre später galt Theobaldy schon als Wortführer der „Neuen
Subjektivität“, der in Rowohlts „Literaturmagazin“ das poetische Programm der
„neuen Sensibilität“ verkündete: „Die jüngeren Lyriker sind mit ihren Gedichten
ins Handgemenge gegangen, sie bleiben beweglich, sie lassen sich nicht darauf
ein, ihre Gedichte, leicht und glatt wie Luftballons in esoterische Höhen zu
schicken, wo nur mehr schlaffe Hüllen übrigbleiben, ha, die Form an sich!“ Diese
ästhetische Aktion, das Gedicht ins politische Handgemenge zu schicken, hatte
ungewöhnlichen Erfolg: Von Theobaldys Debüt Sperrsitz, das in der Kölner
Palmenpresse erschien, waren binnen weniger Tage 400 Exemplare verkauft, und
vom Nachfolgeband Blaue Flecken (Rowohlt, das neue buch) wurden dann ab
1974 über 8000 Exemplare unter die Leute gebracht.
Ein halbes
Jahrhundert nach diesen phänomenalen Erfolgen der frühen Jahre hat Jürgen
Theobaldy nun ein großes Lebensbilanz-Gedicht veröffentlicht, das in der
aktuellen Jubiläums-Ausgabe der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter
(Nr. 239) zu lesen ist. Wie das Vorgängerheft versammelt diese Ausgabe
„Zeitmitschriften“ von Autorinnen und Autoren, die nach 1989 mit dem
Literarischen Colloquium Berlin in Verbindung waren, wo 1961 Walter Höllerer Sprache
im technischen Zeitalter als Zentralorgan des internationalen
Literaturdialogs und der ästhetischen Avantgarde erfunden hatte. Lutz Seiler
erinnert sich in diesen „Zeitmitschriften“ an seine ersten Schritte in den
Literaturbetrieb, die 1998 im LCB stattfanden. Marcel Beyer präsentiert einige
seiner geschliffenen Frühwerke, Pop-Kritiken, die ursprünglich 1993 und 1994 im
Magazin Spex erschienen waren, dazu ein konzises Porträt des
Avantgardisten William Burroughs.
Den
intensivsten Text des Heftes hat aber Theobaldy beigesteuert, der in einer
weit-ausgreifenden Erinnerungs-Bewegung einige Szenen eines Dichterlebens in seinem
elegischen Poem zusammenführt - in freien jambischen und daktylischen Versen. Die
Verehrung des von der Pop Art beeinflussten Lyrikers Frank O`Hara, der mit
seinen „Lunch Poems“ die deutschen Vertreter der „Neuen Subjektivität“
begeisterte, blitzt gleich zu Beginn des langen Gedichts Die Jahre öffnen
mir die Hand auf. Danach startet Theobaldy eine Reise durch das poetische
Kraftfeld jener Jahre. Nicolas Born mit seinem phänomenalen Gedichtbuch Das
Auge des Entdeckers (1972) kommt ebenso darin vor wie jener tragische
Unfall im April 1975, als Rolf Dieter Brinkmann in London die Straßenseite
wechseln wollte und unter die Räder eines Autos geriet. Ein
Schreckensaugenblick, den Theobaldy damals miterlebt hat, da er gerade mit
Brinkmann in den Londoner Straßen unterwegs war. In einigen erschütternden
Partien dieses langen Gedichts vergegenwärtigt Theobaldy auch den Tod seiner im
Mai 2016 verstorbenen Frau Sanae Christen-Inoue: „Ich kenne jetzt das Zeichen
mit dem der Tod naht/ Der nichts weiß von Wörtern wie Gerechtigkeit und Leid/
Licht Klarheit Avocadosalat auf dem Balkon/ Keine Ahnung wo zu bleiben was zu
flüstern was zu sagen/ Wenn der Tod sein Mahlwerk rührt/Und auf einmal steht er
in der Tür und ist genug genug/ Bis eine Blutspur lautlos ihre Wange teilt/ Und
ihr Mund klafft auf zu einem unhörbaren Schrei/Der wer weiß im Jenseits doch zu
hören war/ Und ihr Gesicht vor mir zur Totenmaske formt“.
Ein vergleichbares
Lebens-Poem hat in diesen Tagen auch der in Heidelberg lebende Dichter Michael
Buselmeier (*1938) veröffentlicht, ein einstiger Weggefährte Theobaldys und wie
er in den Siebzigerjahren ein Repräsentant einer politisch motivierten
Alltagslyrik. In der aktuellen Ausgabe von Lettre International (Nr.
134) ruft er noch einmal die Schlüsselszenen seiner dissidentischen
Dichterexistenz auf, die 1968 mit der Publikation eines Prosatextes in Hans
Magnus Enzensbergers legendärem Kursbuch 15 begann und dann mit der
Veröffentlichung des Romans „Der Untergang von Heidelberg“ (1981) einen ersten
Höhepunkt erreichte. Buselmeier skizziert seinen Weg von der Zeit als stürmischer
Aktivist der Studentenrevolte („schön ist die Revolte der Gestörten/ der
Bastarde Hasenfüße Pappdeckelsoldaten/ derer die alles zerstören wollen“) bis
hin zur Entdeckung einer konservativen Utopie im Geiste Adalbert
Stifters und seines späten Enthusiasmus für Dantes Commedia. Im
Unterschied zur poetischen Verhaltenheit Theobaldys, dessen lyrisches Ich
zwischen elegischem Ton und nüchterner Retrospektive changiert, wählt
Buselmeier einen hohen Ton, der Allen Ginsbergs „Howl“ nachempfunden ist. Am Ende
seines Poems „Wie ich zur Welt kam“ gedenkt Buselmeier seiner toten Freunde und
verweist auf „eine duftende Kalmuswurzel Walt Whitmans“, die schon das
poetische Wahrzeichen seines 2018 verstorbenen Freundes und Epigrammatikers
Arnfrid Astel war. Die Lebenspoeme von Theobaldy und Buselmeier – sie lesen
sich wie Gesänge des Abschieds: „Ich habe keine Ahnung wer ich bin/ aus welcher
Dunkelheit ich kam/ weiß auch nicht wer ich sein werde/ wohin mich diese
Wanderung führt“.
Sprache
im technischen Zeitalter Nr. 239 (2021), Böhlau Verlag, Literarisches
Colloquium Berlin, Am Sandwerder 5, 14109 Berlin, 166 Seiten, 14 Euro.
Lettre
International, Nr. 134, Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin, 140 Seiten, 13,90
Euro.