Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 230
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
„Sprache im technischen
Zeitalter“, Nr. 230: Das wahre Abschreiben der Welt

Da steht
er nun im Schloss Bellevue, im weißen Hemd und mit schwarzer Krawatte, ganz im
Einklang mit dem Dresscode, einen Schritt nur hinter dem Bundespräsidenten. Das
Foto dokumentiert eine „Ordensverleihung am Tag der deutschen Einheit“ am 2.
Oktober 2018. „Heil Hitler da reihen wir uns ein, Kulturverteidigung voll geil
voll wichtig “, hatte der Ausgezeichnete im Juni 1983 den verblüfften Juroren
des Ingeborg Bachmann-Preises entgegengeschleudert und sich mit einer
Rasierklinge in die Stirn geschnitten. Fünfunddreißig Jahre danach, im Oktober
2018 im Schloss Bellevue, ist der 64jährige Rainald Goetz angekommen in einem
Milieu, das er einst verhöhnt hatte als „Peinsackparade“. Der Ketzer und
Provokateur Goetz, der in seinen Anfängen den Hass zur literarischen
Produktivkraft erhoben und sich in seinen Pamphleten am weitesten von jedem
literarischen Konsens entfernt hatte, hat tatsächlich das Bundes-verdienstkreuz 1.
Klasse für sein „einfaches wahres Abschreiben der Welt“ erhalten.
So
erfreulich es ist, dass ein radikaler Solitär wie Goetz nicht nur mit dem
Büchnerpreis bedacht, sondern auch für seine Verdienste um die Bundesrepublik
ausgezeichnet wird, so verblüfft es doch, dass ein Autor plötzlich von höchster
staatlicher Stelle aus eingemeindet wird, der für die folgenden, wenig
staatstragenden Sätze verantwortlich zeichnet: „Ich sehe das Gesicht von so
einem Präsidentenschwein, von so einer imperialistischen
Politikercharaktermaske, von so einem Staatstrottel, und es ist mir automatisch
das Gesicht des Volksfeindes schlechthin, in das ich hinein schießen muß, mit
einer möglichst großkalibrigen Waffe, mit einem möglichst breitenwirksam zerstörerischen
Dumdumgeschoß, daß es das Gesicht ordentlich und total zerfetzt, nicht ein Loch
in der Stirne, so wohltuend tödlich das sein mag, erscheint mir erstrebenswert,
einzig Zerfetzung…“ Das war damals – 1985 – auf Ronald Reagan gemünzt, eine
Vernichtungsphantasie, keineswegs die einzige in der auf Angriff und Hass
gestimmten Prosa „Der Attentäter“. Der Text erschien zuerst 1985 in der
Zeitschrift „Merkur“ und ein Jahr später in Goetz´ Prosasammlung „Hirn“. Das
war damals ein Versuch der Skandalisierung, empörte Reaktionen blieben jedoch
weitgehend aus – auch als Goetz in weiteren Pamphleten nachlegte und
Kolleginnen attackierte, mit Ausdrücken wie „die sensible verhungerte
Germanistenf***“ oder „das Teiggesicht“, die ihn heute zu einem Fall in der „Me
Too“-Debatte machen würden.
Den Ketzer
und Provokateur Goetz der frühen Jahre untersucht nun auch ein kluger Essay des
Literaturkritikers und LCB-Mitarbeiters Vincent Sauer in der aktuellen Ausgabe
von „Sprache im technischen Zeitalter“ (Nr. 230). Dieses Heft ist schon allein deshalb
zu beachten, weil hier erstmals vier der klügsten Köpfe der allerjüngsten
Germanisten-Generation mit bemerkenswerten Texten vertreten sind: Neben Sauer
(Jg. 1994) sind das Hanna Engelmeier, Samuel Hamen und Alexandru Bulucz.
Sauer
dechiffriert den Goetz-Text „Der macht seinen Weg“ aus dem Jahr 1978 nach allen
Regeln hermeneutischer Auslegungskunst. Er entziffert die Goetz-Strategie des
autobiografischen Essays als kunstvolles Maskenspiel: „Was dieser Text erfasst,
zappelt noch.“ In der Literatur von Goetz, die nur von der „Geistesgegenwart
der Schrift“ lebt, konstituiere sich ein „autologisches Textsubjekt“, wobei das
Leben des Subjekts überhaupt erst zu entstehen scheint, weil es sich in der
„Selberlebensbeschreibung“ konstituiert.
Im
Mittelpunkt von „Sprache im technischen Zeitalter“ stehen diesmal literarische
Strategien der „Autofiktion“, die sich von der klassischen Autobiographie
insofern unterscheiden, als darin ein schreibendes Ich am Werk ist, das sich
selbst nicht habhaft werden kann. Wie sich diese Differenz zwischen
„Autobiografie“ und „Autofiktion“ in der Praxis des Übersetzens darstellt,
erörtern in einem äußerst lehrreichen Gespräch die beiden Übersetzerinnen
Claudia Hamm und Sonja Finck.
Alexandru
Bulucz beleuchtet die sehr disparaten Selbstpositionierungen Wolfgang Hilbigs (1944-2007)
in den zahlreichen Interviews, die er seit seiner Übersiedlung in den Westen im
Jahr 1985 gegeben hatte. Unter Rückgriff auf die literatursoziologischen
Denkfiguren Pierre Bourdieus analysiert Bulucz die Vergeblichkeit von Hilbigs
Versuchen, den Festlegungen des westdeutschen Literaturbetriebs zu entkommen.
Hanna Engelmeier schildert in einem sehr persönlichen Bericht ihre
Lektüreerfahrungen mit der queeren Autorin und
„gender-nonconforming“-Intellektuellen Eileen Myles, wobei nicht immer deutlich
wird, worin genau die literarischen Stärken dieser neuen Kultautorin liegen,
die sich mit „they“ ansprechen lässt, dem Personalpronomen jener, die sich
nicht einem Geschlecht zuordnen lassen wollen. Samuel Hamen schließlich nimmt
einige notwendige Unterscheidungen vor - zwischen dem „naiven Realismus“ einer
sich als „authentisch“ aufspreizenden Literatur einerseits, die wie der
norwegische Erfolgsautor Karl Ove Knausgård „in einen Spiegel schaut, in dem
unser Bild bereits gemalt und festgelegt ist“ , und der „fiktionsarchivarischen“
Verfahren der Collage-Literatur von Hans-Ulrich Gumbrecht und Herbert Kapfer
andererseits, die sich zwar auf das Verknüpfen historisch-objektiver
Materialien berufen können und dabei dennoch ein planes „Realitätsprinzip“ zum
Einsturz bringen. „Dichtung“, so wird am Ende zurecht Walter Serner zitiert,
„ist und bleibt ein, wenn auch höherer Schwindel.“
Sprache
im technischen Zeitalter, Nr. 230 (2019), Am Sandwerder 5, 14109 Berlin. Böhlau
Verlag, Köln/Weimar/Wien, 120 Seiten, 14 Euro. Erhältlich auch unter:
www-vandenhoeck-ruprecht-verlage@com, vertrieb@v-r.de.