Sprache im technischen Zeitalter, Heft 238 (2021)
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Michael Braun
Zeitschrift des Monats
"Sprache im technischen
Zeitalter", Heft 238 (2021)
PUDDING-ATTENTAT UND KERBHOLZ -
FRÜHE LITERATURSZENEN

Zu den aufschlussreichsten Szenen
der ewigen Rivalität zwischen linker Literatur und linker Politik gehört ein
bizarrer Berliner Wohnungskampf im April des Jahres 1967.
Die Akteure waren: auf der einen
Seite die legendäre Kommune 1, die sich im Frühjahr 1967 in der Atelierwohnung
des Schriftstellers Uwe Johnson spontan konstituierte, auf der anderen Seite
die prominenten Schriftsteller Günter Grass und Uwe Johnson. Johnson hatte im
Februar 1966 seine Atelierwohnung in der Niedstraße in Berlin-Friedenau
vorübergehend Ulrich Enzensberger überlassen, dem jüngeren Bruder von Hans
Magnus Enzensberger. Johnson selbst lebte damals in New York. Er war ziemlich
entsetzt, als er aus der "New York Times" am 8. April 1967 erfuhr,
dass eine linke Chaos-Truppe seine Wohnung okkupiert habe, die dort ein
Attentat auf den amerikanischen Vizepräsidenten Humphrey vorbereitet habe.
Ulrich Enzensberger hatte die prominenten Rebellen Fritz Teufel und Dieter
Kunzelmann um sich geschart, als eine Rädelsführerin des bizarren
"Pudding-Attentats" auf Humphrey galt auch Dagrun Enzensberger, die
sich gerade von ihrem Mann Hans Magnus getrennt hatte.
Johnson war alarmiert und rief
sofort seinen Friedenauer Nachbarn Günter Grass an und bat ihn unter Erteilung
einer Vollmacht, die Kommunarden aus seiner Wohnung zu vertreiben. Grass kam
dieser Bitte umgehend nach und rühmte sich hinterher als "Rausschmeißer
der Pudding-Schmeißer".
An diese Konflikt-Szene zwischen
linksliberalen Autoren und linksradikalen Freibeutern erinnert Ursula Krechel
in dem aktuellen Jubiläumsheft von "Sprache im technischen Zeitalter"
(Nr. 238), das einige fesselnde Rückblicke auf die Zeit der Revolte und die
Grundkonstellationen des deutschen Literaturbetriebs enthält. Die neunzehn
"Zeitmitschriften" von den 1960er bis zu den 1990er Jahren, die hier
versammelt sind, fügen sich zu einem kleinen Panorama bundesdeutscher Literaturgeschichte.
Ursula Krechel skizziert in ihrem
großartigen Bericht die Entwicklung von Berlin-Friedenau zu einer
Künstlerkolonie, in der sich in den Jahren der Revolte auch Christoph Meckel,
Nicolas Born und Hans Christoph Buch tummelten. Und mittendrin eben der oft
unnahbare wie trinkfeste Johnson, "die unverkennbare Gestalt mit dem
blanken Schädel und der schwarzen Lederjacke".
Ähnlich aufwühlend wie Krechels
Johnson-Porträt ist die Anekdote von Friedrich Christian Delius, der als junger
Autor den ehrenvollen Auftrag bekam, ein Gedicht von Wystan Hugh Auden zu
übersetzen. Delius war damals, Anfang 1965, gerade 22 Jahre alt, die
Veröffentlichung seines Lyrik-Debüts "Kerbholz" im Wagenbach Verlag
stand kurz bevor. Von dem längst vergessenen Ernst Schnabel, Schriftsteller und
Redakteur beim NDR, erhielt er den Auftrag, für einen Fernsehfilm ein
Auden-Gedicht zu übersetzen. Für das damals fürstliche Honorar von 700 DM.
Im Rückblick auf seine lässig
gereimte Übersetzung darf sich Delius den "ersten deutschen Rapper" nennen.
Michael Krüger erinnert an seine
frühe biografische Verbundenheit mit dem Gebäude des Literarischen Colloquiums
am Wannsee. Noch bevor dort Walter Höllerer sein Institut "Sprache im
technischen Zeitalter" gründete, hatte Krüger mit einer jungen Französin
in der benachbarten Kellerwohnung Gedichte ausgetauscht.
Als literaturwissenschaftliches
Pendant seines Instituts hatte Höllerer, der auf dem Weg war, der große
Impresario einer innovationshungrigen modernen Literatur zu werden, 1961 seine
Zeitschrift wie sein Institut "Sprache im technischen Zeitalter"
benannt.
Unter den fesselnden
"Zeitmitschriften" des Heftes sind noch besonders die Beiträge von
Ulrich Peltzer und Ilma Rakusa hervorzuheben.
Rakusa setzt in ihrem Rückblick im
Sommer 1980 ein, als der kommunistische Ostblock durch das Auftauchen der
polnischen Solidarność-Bewegung ins Wanken geriet und die Autorin erstmals der
Literatur von Marguerite Duras begegnete, die sie durch die Mischung aus
autobiografischen und fiktiven Elementen und durch das z.T. polyphon
aufgesplitterte Erzähl-Ich in ihren Bann zog. Rakusa wurde zur kongenialen
Übersetzerin von Duras.
Ulrich Peltzer entwirft das
Selbstporträt des Künstlers als junger Mann im Jahr 1982. Es wird zum
Doppel-Porträt der beiden Jung-Genies, die Deutschland damals hatte und die
beide sehr früh starben: Rainer Werner Fassbinder und Rolf Dieter Brinkmann.
Und er resümiert: "Rolf Dieter Brinkmann ist wie ein Nachbar, wie ein
Mitbewohner für mich; während ich ,Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls
für einen Aufstand' lese, bin ich an seiner Seite in einer halbverfallenen
Mühle in der Eifel, in der er Ruhe zu finden versucht, vor der Zeit, seinem
Talent, einem frühen Ruhm, für den er sich nichts kaufen kann."
Sprache im technischen Zeitalter, H.
238, Böhlau Verlag, Köln 2021, 110 Seiten, 14 Euro