Sophie Reyer: Wer braucht denn so ein Herz
Montags=Text
Sophie Reyer
Wer braucht denn so ein Herz
(Romanauszug)
Manchmal, wenn es im Winter Flocken regnet, sind
die Tage durchsichtig, weiß Ella. Je kürzer sie dauern, desto klarer leuchten
sie. Sie haben eine komische Milde und hinterm Haus liegt dann immer ein
Geheimnis. Es ist, als würden die Tage sich selbst durchschauen. Sie sind
transparent, sind wie aus Pauspapier, Ella
kann die Bilder im Kopf kopieren. Hin und wieder legt sie diese vorm
Schlafengehen in ihrer Erinnerung übereinander, sodass ein Kaleidoskop
entsteht. Es gibt auch dunkle Tage, und die Dunkelheit macht sie klar. Diese
Tage gefallen Ella am Besten. Sie sind
grau, sie dehnen sich. Man hat immer Hunger und möchte an der Heizung hocken.
Diese Tage erwarten die Nacht, und Ella
wartet mit ihnen. Die Schwärze der Tage, die nur hin und wieder von ein
wenig Licht zerstochen wird oder von dem Geschmack nach Weißbrot im Mund
aufgeplustert, kommt Ella ehrlicher vor.
Dann ist es nicht verwunderlich, dass der Verrückte im Dorf, der mit nur einer
Hand aus dem Krieg zurück gekommen ist
damals, von den Kindern mit Steinen beworfen wird. Dann macht die Migräne der
Großmutter keine Angst. Ella ´s Großmutter hat oft Migräne, weiß Ella. Sie
sieht dann helle Flecken. Vielleicht hilft es ihr gegen die Dunkelheit, denkt
Ella. Aber sie mag die verhangenen Tage. Mag, wie sie die Nacht empfangen. Sie
trinkt dann den ganzen Tag Früchtetee und hockt vor dem Fenster.
Dimir fühlt sich, als wäre er zu Wind geworden.
Dieses Dorf besteht aus Schilf und Wind, der darin wühlt, denkt er. Erinnert
sich an die Reise im Autobus: Münder drängten sich gefährlich nahe an ihn
heran, Körper schoben ihn durch die Gegend. Die Frauen, dachte er, hatten es
leichter, sie konnten sich unter Tüchern verkriechen. Er hielt die Hand des
kleineren Bruders. Die Hand schwitzte in ihn hinein. Der kleine Bruder klebte
fest an ihm. Gesichter überall, Stille, schweigen, nur das regelmäßige
Rauschen, ein Auto in Bewegung. Irgendwann spürte Dimir seine Füße nicht mehr.
Aber das war egal. Er konnte nicht fallen. Nicht nach vorn, nicht nach hinten.
Die Körper waren zu dicht aneinander gepfercht. Später: aussteigen. Das Licht
stach in den Augen. Es dauerte, bis er sich umsehen konnte. Nichts war neu
hier. Nicht auf den ersten Blick. Die Frauen trugen Tücher um den Kopf, sie
schirmten ihr Haar ab, die Männer waren braungebrannt und hatten Falten um die
Augen. Dimir sah sich um. Überall Menschen, zusammengerollt in Decken oder auf
der Straße stehend, an Mistkübeln lehnend, sie schauten, lachten oder schwiegen
und waren hauptsächlich viele. Manche unter ihnen trugen Schilder mit
Aufschriften, sie liefen gestresst umher. Die Frauen trugen das Haar in Zöpfen
aus dem Gesicht gebunden oder hinter Tüchern versteckt. Sie alle schwitzen,
sprachen rasch. Die, die die Schilder trugen, schoben riesige Schubkarren
umher, mit Plastikflaschen bepackt. Als Dimir weiter ging, in ein großes,
kasernenartiges Gebäude hinein, stob ihm eine riesige Menschenmasse entgegen.
Hinein und hinaus gingen sie, drängten. Das kannte er nun schon, vom Bus. Auf
pastellfarbenen Tüchern hatte jemand Spielzeug ausgebreitet, das verschenkt
wurde. Isil quietschte entzückt und die Mutter, die sie im Arm hielt, bückte
sich kurz, damit Isil nach den fluffig blauen Bären greifen konnte. Dimir
senkte den Blick. Es war zuviel, dachte er. Wie Wasser, das über einen
schwappt, sodass man nicht mehr atmen kann. Aus den Augenwinkeln erkannte er,
dass die Mutter Blut auf dem Kleid hatte. Dimir dachte zuerst, sie wäre
verletzt. Dann erinnerte er sich: Die Mutter hatte ihre Periode. Es gab wenig
Wasser. Es gab keine Binden. Dimir ging weiter. Im Vorüberstreifen belauschte
er ein Gespräch zwischen zwei Männern, die am Eingang der Kaserne standen und
rauchten.
„Sie haben einen Bus abgestellt. 400 Leute in einem Bus.“
„Du machst Witze.“
„Nein.“
„Das geht sich nicht aus. Du weißt, wie groß ein Bus ist.“
„Sie waren alle tot. Die Flüssigkeit tropfte heraus“.
Er legte sich die Hand auf den Bauch. Auf seiner Stirne
glänzte Schweiß.
„Sie konnten nicht umfallen. Wie auch.“
Dimir nickte innerlich. Ja, wie.
„Wer macht sowas?“
„Ich weiß nicht.“
„Warum stellen sie den Bus einfach ab?“
„Vielleicht hat der Fahrer Angst bekommen?“
Dimir dachte, er sollte auch Angst haben. Jetzt.
Aber da war kein Gefühl.
Es gibt drei Birken in Ella ´s Kindheit. Und eine innere
Stimme. Keine Ahnung, woher die kommt. Und egal,
denkt Ella. Sie liebt den verrotteten Spielplatz mit den Birken. Sandkisten,
zwischen denen kleine hölzerne Türme stehen. Der Sand ist dreckig, hin und wieder ein Stück Hundescheiße
oder Pisse darin. Manchmal gräbt sie Insekten ein, die sie getötet hat. Oder
sie kramt im Sand nach Regenwürmern und teilt sie in der Mitte auseinander mit
ihren kleinen knubbeligen Händen. Auf dem Spielplatz gibt es auch ein Pferd.
Wenn Ella darauf schaukelt, gibt es
quietschende Geräusche von sich. Eines Tages kippt das Pferd nach Hinten und
lässt sich nicht mehr aufrichten. Ella
ist zu schwer geworden
Und jetzt dieses Nichts. Himmel und nichts. Man
hat sie in einen weiteren Bus gekarrt, nachdem sie eine Nacht lang neben
anderen in Decken gerollten Leibern zu schlafen versucht hatten. In ein kleines
Dorf gebracht, dessen Namen Dimir weder lesen noch aussprechen konnte. Egal.
Ein Mann mit Glatze empfing sie, trug eine Art Kutte, Christ, wusste Dimir
Bescheid. Der Priester, würde er später lernen. Er brachte sie in ein großes
gelbes Haus.
Das Zimmer, in dem sie zu jetzt siebent
schlafen, ist freundlich und hell, lässt den Blick auf einen Garten frei.
Mutter hat ihren Platz in der linken Ecke und das blutige Kleid hat eine
Nachbarin ausgewaschen. Dimir schläft schlecht. Jede Nacht wird er im
Traum mit Wasser angefüllt. Vom Kopf aus. Das Wasser dellt ihn aus. Dimir wird
prall wie ein Luftballon. Gleichzeitig träge und schwer. Er fällt. Oder steigt
er? Die Richtungen, die Verhältnisse heben sich auf. Dimir versucht, zu
paddeln, sich zu wehren, aber je mehr er sich bewegt, umso stärker beginnt er
zu rotieren. Auf einmal ist da ein Kreisel, der ihn verschluckt, ihn in allen
Richtungen herum wirbelt. Dimir kämpft gegen den Sog an, strampelt mit Händen
und Füßen. Nein, aufhören. Er muss aufhören, zu kämpfen, denkt er plötzlich
ist. Wird doch alles noch
Schlimmer, wenn man gar nicht weiß, ob man die Richtung kennt. Wo oben ist und
wo unten. Dimir lässt los. Ein Ruck durchfährt ihn. Und dann wacht er auf.
Manchmal geht sie auch abends zum Spielplatz, weil die
Eltern nicht da sind. Und dort lässt sich die innere Stimme leichter finden.
Fremde Sprachen werden gesprochen. In einem der Häuser mit Balkon, die eng
ineinander geschachtelt ist sind, wohnt eine Freundin. Immer will Ella wissen,
wie deren Wohnung aussieht. Nie darf sie mit gehen. Ella denkt über die Wohnung nach. Sie weiß, das
hat mit Sehnsucht zu tun, für sie ist
die Wohnung wie ein Leuchtturm. Gibt es vielleicht Ponys mit pinkem oder
violettem Haar oder singende Klaviere, deren Knöpfe blinken, wenn man sie
drückt? Der Park hingegen ist dreckig,
verrottet. Zigaretten Stummeln im Sand. Ella
gräbt tote Insekten ein, wieder und wieder. Sie beobachtet die Leute,
sie wird angemacht von älteren türkischen Typen, die ihre helle Haut mögen. Sie
versteht nicht. Sie ist fünf Jahre alt, fährt mit einem Roller. Manchmal wird
es nacht im Park.
Wieder dieser Traum: Nur Meer, Wellen, Stille. Kein Vogel am
Himmel. Da vergeht die Zeit anders. Ist alles eingefroren. Das einzige
Kontinuum: Ein auf und ab der Wellen. Wie: einatmen ausatmen. Licht glitzert.
Hitze sticht. Da ist nichts. Man verliert das Gefühl für alles, denkt Hasan.
Das ist wie im Bus, damals, denkt er. Manche kotzen. Hin und wieder heulen
Kinder. Es gibt nur die Hoffnung, die einem hilft, zu ertragen. Oder die
schwitzende Hand der Mutter. Hitze. Der Kopf fühlt sich an, als wäre er in
einer Kapsel. Das Meer und das Nichts. Sonst nichts.
Dimir schreckt hoch und spurt sein Herz wie
verrückt pulsieren. Er möchte es am Liebsten ausspucken, in die Ecke kotzen.
Wer braucht denn so ein Herz.
Langsam und vorsichtig steigt er auf, über die
in in ihre Decken hinein gerollten Körper der Brüder, und streift zur Türe,
schlüpft in Jacke und Tennisschuhe. Dimir weiß nicht, was er tun soll. Aber
gehen muss er. Gehen und gehen. Die Angst aus sich heraus gehen. Er legt den
Kopf in den Nacken und pustet Rauch aus. Dimir beginnt zu zittern. Er ist diese
Kälte nicht gewöhnt. Fledermäuse zacken in den Himmel hinein, der Kies des
einfachen Weges knirscht unter den Sohlen. Schlotternd blickt er sich um. Da!
Hat sich etwas bewegt? Im Park, auf der Schaukel sitzend, kann er eine kleine
Gestalt. Ein Mädchen? Dimir hält inne, atmet heftig und formt die Hände in den
Manteltaschen zu einem Ball gegen die Kälte. Die Kälte kriecht in den Mantel
hinein. Dimir schaut das Mädchen an. Schaut nur und schaut. Die Haut ist
seltsam hell, das Haar schimmert rötlich, steht in alle Richtungen. Ringe unter
den Augen. Wie alt sie ist? Ob sie schon blutet, wie die Mutter?
Als er zurück kommt, hat Isil zu weinen
begonnen. Die Mutter packt ihre Brust aus. Sie sitzen lange so im Zimmer, die
Brüder giggeln, der Vater schweigt nur, schweigt und schweigt und seine Hände sind
weit weg.
Die Nacht ist immer ein Abenteuer. Die Nacht ist Rauschen.
In dem hat alles Platz. Weil man nichts sieht. Da werden die Stimmen lauter und
überlagern sich. Auch Ella ´s Stimme. Sie nennt sie Hieronymus. Hieronymus ist
ein Vampir.
Ella sieht in den
Nachthimmel hinein, als würde sie fern sehen. Hin und wieder schießt ein Vogel
über das Himmel, es scheint, als würde er kurz den Himmel mit seinen Flügeln wärmen. Aber das war´s
auch schon wieder.
„Gleich werden die Fledermäuse wach“, sagt Ella zu ihrem Pa.
„Ach, lass mich.“
Seit die Mutter gestorben ist, ist von Pa nicht mehr viel
übrig. Und die Großmutter hat oft Kopfweh.
„Warum?“
Ella blickt ihn
traurig an.
„Zeichne doch lieber deine Vampire und sei still, ich muss
arbeiten.“
Ella schiebt sich
eine Haarsträhne hinters Ohr.
„Und geh mit mir ins Schilf, die Fledermäuse suchen. Wie
früher. Bestimmt finden wir auch einen Vampir“
Der Vater schüttelt den Kopf.
„Es gibt keine Vampire. Du glaubst nur dran, weil du die
Fledermäuse siehst.“
Ella zwickt ihm in
die rechte Backe. Der Vater sieht sie perplex an.
„Es gibt auch keine
Engel,“ entgegnet sie wütend. „Und Mama ist bloss tot. Tot, tot.“
Wenn die Nacht heran
kriecht, hat Dimir Angst. Er ist müde vor Angst. Kann nicht schlafen. Im Schlaf
schaukelt ihn immer das Meer hin und her. Salz im Haar. Ein Sog, der ihn nach
unten zieht. Ein Sog, dessen herrliches Blau trügerisch ist. Wie soll er sich
über Wasser halten, Hilfe, Hasan
klammert sich an
Trümmer, klettert in ein Boot. Nein, es ist kein Boot. Oder: das Boot ist ein
Bus. Dann Filmriss.
Die Eltern sagen,
dass alles besser wird, hier, keine Verfolgung, Essen, Arbeit, eine Idee von
Leben vielleicht. Dimir sieht kein Leben, nur Wind und Schilf. Und nachts
dieses Wasser Ist das das Leben? Ein Schlimmer Zustand wechselt den anderen ab?
Wasser ist gefährlich, findet Hasan. Wasser hat keine Balken. Keine Messer
können es schneiden. Woran also sich festhalten? Warum kann er sich nicht
auflösen, wie Salz? Denkt er manchmal. Dann streift er allein durch die
Landschaft. Das Zimmer ist eng, Isil hängt an der Brust der Mutter, Achmed und
Karim spielen Fussball, der Vater schweigt, raucht, seine Hand könnte ein
Himmel sein über Hasan´s Kopf, sich wölben um ihn, Zuversicht über ihn wölben,
aber der Vater schweigt und Dimir schämt sich, nach seiner Hand zu tasten. Er
ist schließlich der Älteste. Isil weint viel. Vielleicht die Kälte, denkt
Hasan. Ihre Haut ist die Kälte nicht gewohnt. Der Wind pfeift, der Kopf sirrt.
Schnee fühlt sich an wie Schaum, schmilzt weg unter den Händen und ist dann
Wasser und schon wieder vorbei. Dimir hasst Wasser. Er hasst Schnee.
Erst wenn es dunkel wird, wird Ella wach. Oft steht sie nachts am Fenster, fragt
sich, wie es wäre, zu fliegen, hinaus zu fliegen.
Dass der Schlaf der Bruder des Todes ist, hat Pa einmal
gesagt. Seitdem mag Ella den Schlaf
nicht mehr. Sie will ewig leben. Nicht irgendwann fort sein, so wie die Mutter.
Ein Vampir werden. Das ist ihr großes Ziel. Aber nicht so. Dass sie sich dafür
verwandeln muss, ist Ella irgendwie
klar. Sie schläft schlecht, knirscht mit den Zähnen, zerbeißt ihr Kopfkissen.
Man lässt ihr eine Zahnspange machen, die ihr das Kiefer gefangen hält.
Ich hätte lieber
Eckzähne, erklärt Ella dem Zahnarzt.
Denn sie hat auch einen Vampir, ganz geheim. Der spricht in ihrem Kopf. Einmal
ist er ihr auch im Park begegnet, nachts. Aber das sagt Ella keinem.
Dimir streift durch die Landschaft. Die Ohren
zugestöpselt. Popmusik, und er setzt die Schritte im Schilf fest und bemüht
bestimmt. Wie es wohl Anahita geht? Er schreckt zurück. Ein riesengroßes Tier
steigt vor ihm in den Himmel, Beine wie Stäbe. Der Verrückte zahnlose Mann
lacht.
„Storch“, sagt er.
Dimir nickt und legt den Kopf in den Nacken,
blickt dem Tier nach. Die Rhythmen wecken ihn auf, helfen, dass er nicht
zerrinnt.
„Hej, Bruder!“ schreit es da aus einer Richtung.
Es ist Arif, der im Zimmer nebenan schläft. Er
ist nur ein bisschen jünger als Hasan. Dimir grinst. Zieht einen Stöpsle aus
dem Ohr. Arif sitzt in einer zusammengenagelten Bretterbude in einem der Bäume
und grinst.
„Hab ich gefunden. Nicht schlecht, oder?“
Dimir nickt und streift durchs Schilf auf Arif
zu. Der streckt die Hand nach ihm aus, zieht ihn ein Stück weit in die Höhe. Es
knirscht.
„Schau!“
Arif hält Dimir sein i- Phone unter die Nase.
Das Bild zeigt Mann und Frau, ineinander verschlungen, aus dem i- Phone knarrt
Stöhnen. Dimir senkt den Blick. Arif grinst. Es scheint ihm zu gefallen. Dimir
weiß nicht, warum er nichts fühlt. Früher schon hat er diese Filme gesehen. Mit
einem schweren und guten Gefühl im Bauch, einem Ziehen, Kribbeln. Davon ist
nichts mehr übrig. Nur noch Wasser, Wasser, Wasser in seinem Kopf. Dimir zieht
ein wenig Rotz auf und schaut in die Weite des Himmels. Da entdeckt er eine
Gestalt am Horizont, die den Schilfweg entlang geht.
Dann zieht sie ihr Vampirkostüm an, malt sich die Lippen
dunkel und streift allein durch die Landschaft. Nein, stimmt nicht. Sie hat
ihren Plastikhund mit. Den mit den rosa Zotteln. Sie weiß, mit dreizehn sollte
man solche Hunde nicht bei sich haben. Aber er erinnert an die Mutter
irgendwie. Der Himmel sieht aus, als würd er verbluten. Das mag Ella. Die
Wolken liegen zerteilt in ihm drin, kommen ganz nah an den Boden heran. Wenn es
silbrig ist in der Luft, denkt Ella, dass einer der Vampire sein langes Haar
hinter sich her zieht. Als eine Art Schleppe oder so.
„Du träumst“, sagt Pa dann immer.
„Na und?“
„Du träumst mit offenen Augen, weil du zu wenig schläfst.“
Da hat er Recht, denkt Ella. Sie mag eben nichts versäumen. Dass
das Leben kostbar ist, hat sie begriffen, obwohl sie noch klein ist. Mama war
zu früh weg gewesen. Und sie würde nicht wieder kommen.
Ella seufzt und tritt
Schilf zu Boden. Es dämmert.
Hin und wieder, wenn sie in die Finsternis hinein starrt,
kommt es Ella so vor, als würde sie die
Spitzen eines Umhangs sehen, aber die Nacht ist dunkel, und es kann sein, dass
sie doch schläft und träumt. Ein Hund bellt, und der Depp aus dem Dorf, der
lange Hans, der immer alle küssen will, irrt über die Straße. Ein Betrunkener
schwankt hinter ihm her, schreit etwas, wirft nach ihm, dann ploppt ein Schwall
aus ihm heraus und auf die Straße.
Vamyrella weiß, dass der Depp aus dem Dorf die echten
Vampire kennt. Am nächsten Tag beschließt sie, ihn zu fragen.
„Onkel Depp, wo kommen die Vampire her?“ fragt Ella und zieht die Wollmütze tiefer ins Gesicht
hinein.
Seine Augen verdrehen sich nach Oben, er drückt einen seiner
Handstümpfe gegen Ella ´s Stirne. Sie blickt zu ihm als.
„Feder“, sagt der Depp.
„Ja, Fledermäuse. Genau“, nickt Ella.
Er scheint keine Angst zu haben. Vor ihr nicht und auch
nicht vor der Dunkelheit.
„Brut“, sagt er.
„Aha.“
Ella versteht nicht
ganz, aber sie nickt. Sieht seinem Finger nach, der in die Schilflandschaft
hinein deutet, zum See, an dem Ella im
Winter eigentlich nicht spielen darf, weil angeblich das Eis bricht. Da muss
sie also hin, denkt Ella. Ans Wasser.
Ella streift durch
das Schilf Manchmal it alles sinnlos, denkt sie. Besonders im Winter. Auch die
Flüge der Fledermäuse langweilen Ella , und das Heulen der Wölfe interessiert
sie nicht mehr. Seit die Mutter weg ist, scheint die Welt in Watte gepackt.
Alles ist weit weg. Auch Pa ist weit weg. Und die Großmutter
„Wo gehen?“ ruft Hasan, einer der Flüchtlinge,
ihr nach. Er hockt in einem seiner Baumhäuser und raucht. Aber Ella hört es gar nicht erst hin.
Sie streift weiter. Alle Zeichen werden gedeutet. Werden als
Hinweise auf den Vampir gelesen. Das Surren des Flugzeuges vielleicht ein
Flügelschlag, das Rascheln eines Fasans zwischen den Sträuchern vielleicht doch
die Schritte eines Vampirs? Ella dreht
die Welt um.
Dimir sieht der Gestalt nach. Er weiß sofort,
dass es das Mädchen aus dem Park ist, und kann nicht sagen, wieso. Dimir kennt
sie inzwischen vom sehen. Sie ist klein und hat Ringe unter den Augen.
Wahrscheinlich ist sie dreizehn Jahre alt. Sie lebt mit der Frau, die ihm
neulich einen Kuchen zugesteckt hat. Der alten, faltigen Frau, die immer die
Augen zusammen kneift, als würde ihr das Licht zu hell sein. Ob sie keine Mutter
hat? Dimir kennt die Richtung, er hat die Landschaft erobert. Das Mädchen geht
zum See.
„Die feiern bald“, sagt Arif.
Dimir blickt auf.
„Merry X- mas“, nickt er.
„Weißt du“, fragt Dimir plötzlich, „ob Anahita
in diesem Bus war?“
„Du meinst in dem mit den Toten?“
Er nickt.
„Ja.“
„Keine Ahnung.“
Stille.
„Die haben gesagt, da ist alles raus getropft,
wie sie die Türe geöffnet haben“, sagt Arif mit einer Mischung aus Bewunderung
Ekel.
Wasser, Wasser. In Hasan´s Kopf werden die
Gedanken fortgespült.
Als sie beim See angekommen ist, scheint alles
seltsam klar zu sein. Das Eis knirscht unter ihren Füßen, ein prickeliges
Gefühl breitet sich im Bauchraum aus, während Ella die gefrorene Oberfläche des Sees betritt. Sie
rutscht ein wenig, strauchelt, wäre fast zur Seite gekippt. Ella legt den Kopf in die Schräge, blickt in den
Nachthimmel. Ist da etwas Dunkles, Fliegendes? Die Luft riecht nach Leben und
Kindheit. Die eigene Kindheit scheint weit fort. Da knackst es. Dann:
Bodenloses, und eine Hitze, die eine Kälte ist. Ella sinkt, und dabei ist es, als würde sie
fliegen.
Dimir weiß nicht warum. Aber er springt. Springt
vom Baum und läuft dem Mädchen nach. Da ist auf einmal wieder die Angst und ein
Bild von Anahita, das sich über das des Mädchens schiebt. Was Anahita´s Haar
wohl für eine Farbe hat? Das Mädchen hat rötliches, struppiges Haar.
Da wandert es vor ihm her, eine zarte kleine
Gestalt, geht, hüpft durch das raschelnde, semmelblonde Schilf. Ihre Schritte
setzt sie schnell und fest. Fast sieht es vergnügt aus, findet Hasan.
Vorsichtig geht er ihr nach. Sein Kopf ist ganz leer dabei. Schließlich
erreichen sie den See. Dimir stockt. Sein Traum fällt ihm wieder ein, Wasser,
und er möchte eingreifen, als das Mädchen die beschneite Oberfläche des Sees betritt.
Aber er ist schockgefroren. Die Kälte kriecht in seinen Kapuzenkragen hinein,
kriecht durch die lächerliche Wollmütze, die der Priester ihm geschenkt hat.
Wasser, überall, in Hasans Kopf.
Dann ein Knirschen, ein Riss, der über die
Oberfläche läuft und Dimir zieht es die Brust zu. Er macht einen Schritt in
Richtung See, automatisch, es ist wie atmen. Endlich, die Starre in ihm hat
sich gelöst. Dimir hält inne. Das Handy. Er muss. Dimir tippt die Nummer ein.
Kein Empfang. Vierhundert Tote, dröhnt es in seinem Kopf, und er beginnt, zu
laufen. Der eigene Atem als Rauch vor seinen Augen, die Nacht presst sich gegen
die Schultern, egal. Dimir hört, wie der Morast unter seinen Beinen quatscht,
er stolpert, strauchelt, Bauchstechen, nein, er wird nicht aufhören zu laufen.
Aus den Fenstern des Dorfes dringen vereinzelt Lichter in seine Richtung,
kommen näher, schwellen an zu Quadraten, Fenstern in Häusern. Dimir kennt den
Weg, obwohl er ihn noch nicht oft gelaufen ist, die Schritte sprudeln, es geht
sich von selbst, auch wenn das Stechen, wenn-
Dimir klopft an die Haustüre.
Der Priester öffnet. Riecht nach verfaulten
Trauben in seine Richtung und atmet schwer.
Dimir kratzt in seinem Kopf die letzten Reste
englisch, an die er sich erinnert, zusammen, formt sie zu einem Satz: „Girl. In
the sea.“
Der Dorfpriester sieht ihn unverwandt an.
„Was?“
Dimir hält ihm das Mobiltelephon hin.
„Girl. Sea. Ambulance.“ sagt er.
Der Mann schüttelt den Kopf.
„I asleep!“ erklärt er, während er auf sein
Festnetz zu streift, eine Nummer eintippt.
Dimir nickt, holt tief Luft, und macht am Absatz
kehrt-
Viel später sieht Ella ein Gesicht.
„Hasan!“
Blaulicht, und ein Gefühl, das langsam in die
Zehen zurück kommt. Ella merkt, dass es
Kälte sein muss. Sie ist begleitet von einem irren Schmerz. Die Füße tauen auf.
So fühlt es sich an, am Leben zu sein.
„Gut?“ sagt Hasan.
Dann lange nichts. Dann noch einmal:
„Gut?“
Ella
schweigt und sieht ihm lange in die Augen.
„Du bist ein Vampir, oder?“ fragt Ella.
Dimir versteht nicht. Er kramt in seinem Kopf
nach einem Wort, aber er findet keines.
„Gut?“ wiederholt er noch einmal.
Ella
nickt.
„Danke“, sagt sie irgendwann.
Dimir sieht das Mädchen an. Für einen Moment hat
er die Träume vergessen. Wieder schiebt sich Anahitas Gesicht über ihre Züge.
Da ist nichts. Nur Stille und Wind. Hände, die nicht so weit weg sind wie sie
des Vaters. Dimir greift nach ihnen. Die Hände sind kalt. Sie lassen sich
leicht zu einer Faust zusammen drehen und zwischen seine Finger nehmen. Dimir
blickt in die großen, dunklen Augen des Mädchens, das schwer atmet. Es dauert,
bis er spürt, dass er weint.
Es ist also Winter geworden. Der Schnee ist eine
dunkle Soße und kriecht als Nässe durch die Schuhe hindurch, Ella tritt das Schilf zu Boden, dass es knirscht.
Sie liebt die Gegend hier, die kleinen Bäume vor allem. Krüppelbäume, denkt
Ella s, mit dornigen Ästen. Sie fühlt sich wie ein Marshmallow in ihrer
Bomberjacke. Es kommt ihr vor, als würde ihr Gesicht fast hinter der Kapuze
verschwinden.
Seit Ella
fast im See eingebrochen wäre, ist alles anders. Pa redet wieder. Die
Großmutter hat weniger Migräne. Und manchmal macht die Dunkelheit wieder Angst.
Mit der Angst kommen auch andere Gefühle wieder. Wie der Schmerz zum Beispiel,
und die Trauer, wenn das Gesicht der Mutter im Kopf auftaucht. Und die Freude.
Nacht macht keine Angst mehr. Es ist, als würde die Watte auftauen. Dabei ist
doch Winter.
Pa und Ella
streifen durch den Wald und suchten nach Moospölstern. Ella liebt diese grüne Watte. Sie hält das
Taschenmesser zwischen den Fingern. Die Fäustlinge hängen ihr am Handgelenk,
baumeln so herum. Sie und Pa suchen zwischen Gebüsch. Da: Weiches. Warmes. Es
hüpft in Ella ´s Bauch.
„Ich hab´s“, ruft
Ella.
Sie läßt das Messer raus schnalzen. Wandert mit
der Schärfe unter den Polster und ruckelte mit dem Messer rum. Leicht. Ein
Geruch nach Torf und Erde. Langsam löst Ella
etwas Grünes vom Boden, das kleine Fetzen Schnee beflecken. Ein
schmutzig weißer Kloß zerrinnt ihr zwischen ihren Händen. Dahinter bleibt das
Moos übrig.
Ella legt den Polster in die Plastiktasche und
steht auf. Die Bomberjacke raschelt. Ella
streift weiter neben Pa her. Stumm. Gleich würden sie das Haus der
Großmutter erreichen. Da piept ihr Handy.
„You vampire“, liest Ella
und sie grinst. Es ist Hasan. Das Kostüm, das sie ihm neulich gezeigt
hat, hat ihn offenbar beeindruckt. Wieder hüpft es in Ella ´s Bauch, diesmal
tiefer, stärker noch als beim ersten Mal. Grinsend stapft Ella neben Pa weiter, bis sie das Haus der
Großmutter erreichen. Ella klingelt
Sturm. Die Großmutter öffnet ihnen die Türe. Sie lächelt. Ihr Blick ist warm.
Sie sieht froh aus, so, als hätte sie kein Kopfweh. Ella fällt ihr in die Arme.
„Wir haben Moos mit gebracht, wie jedes Jahr“, sagt sie.
„Ich freue mich“, sagt die Großmutter.
Ella betrachtet die alte Frau. Ihre Haut ist ein
wenig faltig, die Augen aber blitzen hell und blau und sehen unendlich jung
aus. Gemeinsam streifen sie ins Wohnzimmer und Pa legt das Moos zur Krippe. Zwischen pastellfarbene Holzfiguren, denen eine
grellgelbe Scheibe hinterm Kopf leuchtet. Das soll der Heiligenschein sein, hat
man Ella erzählt, als sie ein Kind gewesen war. Die Holzfiguren sind scharf
geschnittene Konturen und dünn wie Papier. Flachmenschen, hat Ella als Kind gedacht. Und: Die kippen nach
hinten. Ella hat sie aufgerichtet, immer wieder. Das war ein Spiel damals.
Gelacht hat Ella. Und: Sie haben gesungen: Stille Nacht. So singen sie auch
heute. Und tatsächlich, es passt. Denn es ist stiller geworden in Ella. Später
reichten sie einander Päckchen in buntem Papier.
„Ich dachte, es ist bestimmt das Richtige“, meint die Großmutter
und lächelt. Ella öffnete
den
Pappkarton. Es raschelt. Zunächst traute sich Ella gar nicht, es zu
glauben.
Aber als sie mit der Hand zwischen das Papier fährt und diese auf Weiches
stößt, ist sie
überzeugt,
dass ihre Intuition stimmt. Sie schreit vor Begeisterung.
„Ein Vampirumhang!“
Den wird sie Dimir zeigen. Die Augen der
Großmutter blitzen blau, und Pa zwinkert ihr zu.
„Für die Untoten unter uns“, sagt er leise.