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Sophie Reyer: Danach

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Sophie Reyer
Danach


Lina als Stimme vom Band: Sie erinnert sich. Wie sie sich aus dem Gewand geschält hat, langsam, müde irgendwie. Sich dann auf den Boden gesetzt, die Beine aufgespreizt hat. Und wie da etwas ruckelte in ihrem Blick, sich Tränen ihr aus den Augen gepresst haben, sie spüren hat können, wie ein seltsamer Ausdruck der Verbissenheit ihre Lippen zusammen presste. Eine zerstörte Karriere ist schlimmer als eine Stricknadel in der Vagina, dachte sie dann und hob die Hand. Das Bild, jemand würde ihr einen Pflock zwischen die Beine rammen, schoß ihr ins Hirn. Dann: Roter Schmerz, aus ihren Beinen quellend. Abrupt hat sie die Nadel weg gelegt. An ihn gedacht. Und an das Kind. Und dass sie wollte, dass es lebte. Sie hat sich das Haar aus der Stirne gestrichen. Ihre Hand hat ein wenig geblutet. Sie hat gewartet. Dann hatte sie es noch einmal versucht.


Lina: Alles ist seltsam. Nachts aufwachen und wissen, dass da etwas ist. So beginnt es. Ich habe eine andere Realität im Unterleib. Als ich zum Arzt gehe, fühle ich mich wie in Watte gepackt. Mit gummibehandschuhten Händen werde ich abgetastet.
„Sie sind schwanger“, sagt er.
Mit einem Mal begreife ich: Morgenübelkeit ist es, keine Magenverstimmung. Ich schlucke.
„Sind sie in einer Beziehung?“ fragt er.
„Ja“, sage ich.
„Kinder der Liebe sind die Schönsten“, sagt der Arzt. Ein grauenhafter Satz, denke ich, doch ich schweige. Ich taste mit der Hand meinen Bauch ab. Mein Körper unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem eines Mannes, habe ich beim Sex immer gedacht. Die Wahrheit ist leider eine andere. Ich bin eine Frau, und in einer Frau wachsen Kinder heran.
„Anziehen“, sagt der Arzt.
Ich mache alles, mechanisch. Vergiftet das Ich. Die Zeit ist keine Abfolge von Ereignissen mehr. Die Geräusche sind laut und gleichzeitig geräuschlos. Die andern haben leere Bäuche, denke ich und schlucke schwer. Ich beneide sie.

Linas Stimme: Sie tastete sich vor bis zum Gebärmutterhals. Abtreiben. Vielleicht ist das abstoßend für andere. Aber es war ihre Wahrheit, dachte sie. Und: es gibt keine Wahrheit, die nichts bedeutet. Oder?

Lina: Daheim versuche ich es. Mit einer Stricknadel.
Es funktioniert nicht. Ich rufe den Arzt an,
„Ich will es wegmachen“, sage ich ihm.
„Sind sie sicher?“
Ich habe keine Angst davor, abzutreiben. Es ist vielleicht nicht einfach, aber machbar. Und dann:
„Ich hab schon versucht, abzutreiben!“
„Das hat es nur kräftiger gemacht“, sagt er vergnügt, als wär das Kind ein reißendes Tier.

Und dann: „Wir machen einen Termin aus!“

Linas Stimme: Sie wollte noch einmal die Stricknadel zur Hand nehmen. Doch etwas sehr Altes hielt sie zurück. Wenn, dann lieber doch professionell, dachte sie dann, als sie sich gefasst hatte.

Lina: Es geht schnell. Die Packung liegt auf dem Tisch auf, wie selbstverständlich.
„Zur Sicherheit“, sagt die Ärztin und malt kleine Kreise in den gelben Kalender. Hackt Tage ab, notiert Geschlechtsverkehrsdaten.
„Zur Sicherheit“, sagt sie noch einmal, „zur Sicherheit“.
Und dann: „Auf der Liste ist angekreuzt, dass sie keinen Kinderwunsch -“
Ich nicke.
„Nein, ja.“ stammle ich.
„Wie?“
„Also keinen!“
„Keinen!“
„Nein!“
Ich sehe zu Boden. Die Zunge im Hals ist mit einem Mal angeschwollen. Ja: sie fühlt sich dick an. Verschluck sie nicht, jetzt nicht! Denke ich.
Dann geht alles sehr schnell: ich muss nämlich etwas anderes runter schlucken, und zwar so rasch es geht: Die Pille ist eine weiße Mandel hinter einer Glasfolie. ich muss sie gleich hier- ich drücke sie aus der Packung. Kein Zögern jetzt! Ich werfe den Kopf in den Nacken. Dann: Wasser ins Glas. Es in den Schlund kippen und trinken und würgen.
„Das war doch ganz leicht!“ sagt die Ärztin und lächelt, als ich das Glas auf dem Tisch abgestellt habe.
Ich lächle zurück. In meinem Kopf aber schwirrt es. Die Gedanken rotieren, einen Moment lang. Ich sehe seinen Nacken. Ein inneres Bild - Ob das Kind seine Augen gehabt hätte? Ich weiß es nicht. Ich schlucke, schüttle innerlich die Bilder ab, fixiere den Boden.
Danach denke ich nichts mehr. Sehe aus dem Fenster. Draußen fahren Autos.
Verregnete Straßen. Das ist alles.

Lina als Stimme vom Band: Sie erinnert sich. Sie hat nicht die Kraft gehabt, den Körper in ihr zu töten. Sie brauchte wen anderen dafür. Eine Hilfe. Mit Geld geht alles.

Lina: Den Oberkörper aufs Bett legen. Den Kopf aufs Kissen. Die Beine angewinkelt. Ich bin in erhöhter Position. Ich habe keine Angst vor dem Eingriff. Ich sehe weg, als man mir die Sonde einschiebt. Doch auf einmal pocht es. Pocht rot in meinem Kopf.
Ein grauenhafter Schmerz.
„Alles gut?“
Ich weiß nicht, wie lange es dauert. Habe kein Zeitgefühl mehr. Ich weine. Irgendwann habe ich eine gewisse Schwere im Bauch.
„Es ist vorbei!“
„Okay!“
„Fassen sie nichts an!“
„Okay!“
Das alles hat Ähnlichkeit mit einer Geburt. Daran habe ich nicht gedacht.

Lina: „Alles okay?“
„Ja!“
„Und am 22. sehen wir uns zur Nachuntersuchung!“
Ich nicke.
„Schau!“, sage ich mir, „alles okay. Oder?
Und tatsächlich: Es ist gar nicht schlimm. Die Gefühle bleiben im Bauch stecken und schieben sich nicht rauf bis ins Gehirn. Während ich im Kalender blättere, den Termin notiere.
„Gibt es irgendwelche Nebenwirkungen?“ will ich dann fragen, doch aus irgend einem Grund kommt kein Ton aus mir.
Die Ärztin lächelt mit zusammengezogenen Augenbrauen. Ich wende mich ab. Hinter dem Fenster sehe ich den Regen fallen, ohne dass ich ihn höre. Ein paar verlorene Scheinwerferlichter von Autos schneiden mir in den Blick. Grelle Quadrate in verregnetem Grau. Das ist alles.

Lina als Stimme vom Band: Die Erinnerung ist rot. Eine rote Schuld. Wohin? Dachte sie.

Lina: Der Wind verweht mir den Saum des Mantels um den Füßen, weht ihn hin und her, als ich die Klinik verlasse. Das linke Auge tränt. Ich sehe die Pfützen am Boden und denke, dass ich daheim Kaffee aufstellen und mit dem Schwamm über die rote Anrichte der Küche wischen werde, dass ich die angebröselten Frühstücksteller in den Geschirrspüler räumen und den Klirrgeräuschen nachhören wie immer werde. So als wären sie das einzig echte und sichere in meinem Leben. Und ich weiß schon jetzt: Er wird auf dem Küchentisch sitzen. Wird dann langsam aufstehen und mich in eine Umarmung würgen. Dann werde ich wieder lächeln und die Pflichttermine des Tages abgehen wie selbstverständlich.
„Das macht also dann dreizehn Euro!“ sagt die Ärztin.

Lina als Stimme vom Band: Erst später begriff sie: Die rote Schuld: sie kam von den anderen. Eine Frau macht doch sowas nicht!

Meine Schritte sind dumpf, meine Augen fühlen sich schwer an. Es ist als hätte ich eine Art Lähmung in den Kniekehlen. Mit einem Mal schaffe ich es kaum, sie abzubiegen. Bei jedem Schritt halte ich mich am Geländer fest, zieh mich die Stufen hinauf. Licht wird brennen in den Fenstern zum Treppenhaus hin, und nach Mandarine wird es riechen, denke ich, nach dem Thunfischgericht vom letzten Abend. Versuche mich mit diesen Gedanken zu trösten.

Lina als Stimme vom Band:Geschämt hat sie sich damals. Abtreiben! Dabei weiß doch jeder genau, wie man verhütet! Hast du nicht aufgepasst im Schulunterricht?

Lina: Regen überzieht mir den Blick mit wässrigen Rillen, als ich aus durch die Straßen gehe. Da ist kein Schmerz, den ich fühle. Nur ein seltsames Nichts. Es steckt mir im Kopf, sickert nicht durch zu den Herzrändern oder in die Hirnwindungen.
„Kalt“, denke ich.
Ich will weinen. Es geht nicht. Mir gefriert jede Träne an der Wange.

Lina als Stimme vom Band: Sie erinnert sich. Sie hat sich schuldig gefühlt. Das kam aber erst viel später.

Lina: Endlich betrete ich die Straßenbahn, sehe nach Draußen zurück. Es drückt mich in den Sessel, als die Bahn sich in Bewegung setzt. Ein Tropfen rinnt an der beschlagenen Scheibe herunter hinter dem Fenster.
„Schau“, sage ich mir, „da ist gar kein Schmerz!“
„Es war richtig“, meinte er. „Auch wenn du es für mich gemacht hast.“ Ich schweige. Die Abtreibung als Liebesbeweis? Nein, ich berücksichtige dabei nur meine eignen Wünsche und Interessen. Eine Karriere mit Kind ist heute immer noch schwer möglich.
Ich blicke nach Draußen. Ein Kind läuft vor der Straßenbahn her und der Rucksack wippt ihm im Rücken. Die Haare sind fettig und dunkelbraun. Das Kind lacht. Der Wind bläst ihm die Haare aus dem geröteten Gesicht. Sein Mund ist verkniffen als würde es sich die Lippen einsaugen wollen. Draußen dämmert es. Ein Nichts dunkelt sich langsam an die Scheibe der Straßenbahn heran.

Stimme vom Band: Sie hat immer ihre Vergangenheit wegschieben wollen. Die aber ist ihr nachgekrochen, in einer roten labbrigen Haut, ließ sich nicht mehr aus ihrem Sein schieben.

Ein komisches Gefühl bläht mir den Bauch auf. Ich lehne den Kopf an die Fensterscheibe. Ich sehe dem Kind nach. Es freut sich und läuft vor der Straßenbahn her bis es das nächste Grau verschluckt hat. Dann sehe ich nur mehr den Tropfen, der an der beschlagenen Scheibe daneben mit herunterrinnt. Ich möchte etwas fühlen, aber der Schmerz dringt nicht vor bis ins Herz, ins Hirn die Gedanken eingefroren.

Daheim kann ich nur eines: Ins Bett sacken. Da betritt er das Zimmer.
„Wars schlimm?“ fragt er.
Ich weiß nicht, was antworten. Ich richte mich auf.
Die Augenringe hängen mir schwer im Gesicht. Ich sage nichts. Kann nichts sagen. Ich spüre keine Schuld, kein Entsetzen. Nichts.

Stimme vom Band: Das tote Kind wurde eine rote Erinnerung. Es folgte ihr überall hin.

Draußen auf dem Herd röchelt eine Espresso-Maschine. Die Decke erdrückt meine Schultern.
„Ich mach Abendessen“, sage ich.
Will aufstehen.
„Bleib liegen“, sagt er.
Ich sehe aus dem Fenster. Draußen verhängt der Regen die Stadt.
„Ich hole Tee“, sagt er.
„Ja!“
Mir ist so voll, dass ich leer bin, denke ich, als er das Zimmer verlässt. Aber ich sage nichts. Gleich darauf ist er wieder da.
Er drückt mir die Tasse Tee in die stumpfen Hände. Bricht von einer Karottenschokolade.
Gefühle stecken im Raum. Ausgekotzt. Er küsst mich.
„Du riechst wie eine Zimtschnecke“, sagt er. „Weihnachtsgebäck.“
Und als ich immer noch schweige, meint er:
„Trink einen Tee“.
Ich nicke, nippe an der Tasse.
Er schiebt mir Rippchen Karottenschokolade zwischen die Lippen. Dann nimmt er mich in den Arm. Seine Hand ruht sich aus auf meinem Hinterkopf.
„Danke!“
Ich sehe ihn an und stelle mir vor, dass wir Kinder sind, die vor Straßenbahnen herlaufen. Kinder mit federnden Schritten, den Luftzug im Haar. Keuchend, aber so, als wären uns Sprungfedern aus den Sohlen gewachsen.
„Mein Schlumpf“, sagt er da und lacht, dass sich Falten um die Nase bilden.
Dann streicht er mir mit den breiten Händen das Haar hinter die Ohren.
Schweigen.
„Bist du okay?“ fragt er schließlich.
„Mir schwillt alles zu“, sage ich.
Sonst nichts. Die Nippel sind zwei Nadeln, die mir in den Pullover stechen. Der Bauch spannt sich und wabert so um mich herum. Ich will über meine Situation reden, ich schwappe über ihn mit Halbsätzen. Dann halte ich lange den Mund, bin hilflos dabei.
Meine Kleider spannen an Brüsten und Po. Milch ist es, die mir einschießt. Dabei ist das Kind doch tot. Dabei ist der Körper betrogen. Aber er macht einfach weiter, so als wäre der Tod des Kindes nicht wahr. Wir alle machen weiter, immer weiter, denke ich. Das ist unsere Gesellschaft.
„Ich wollte nie eine Frau sein“, murmle ich später.
„Als ob das eine Lösung wäre“, sagt er und startet den Laptop.

Stimme vom Band: Später, als ein wenig Zeit verstrichen ist, kommt ihr alles surreal vor. Die rote Farbe verschwindet nach und nach aus den Räumen in ihrem Kopf. Das Gefühl, das abgetriebene Kind stünde hinter ihr, klingt ab. Die Erinnerung, aus der Wohnung verschwunden, ist eine Erinnerung geworden, eine Erfahrung.


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