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Sonja vom Brocke: Venice singt

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Dirk Uwe Hansen

Oder vermisch ich da was?



„Jetzt beschützt dich die Schlange oder greift sie dich an” – dieser Satz aus dem Einleitungsgedicht des Debütbandes von Sonja vom Brocke geht mir, seit ich ihm im März auf der Leipziger Messe zum ersten Mal begegnet bin, nicht aus dem Kopf. Nach der Lektüre des Bandes sind noch einige dazugekommen: „Nach Hieroglyphenkriegen der Kuss eines geschmuggelten Grizzlys”, „Von Stern zu Stirn massiert uns die Raufaser anders”, „Schämen sie sich / am meisten für Scham?”...

Und doch: Wer die Gedichte vom Brockes nur auf der Suche nach besonders gelungenen und hartnäckig hirnresidenten Formulierungen (von denen es so manche gibt) liest, lässt sich einiges entgehen.

In zehn Kapiteln präsentiert der Band uns Texte, die auf Grenzen tanzen, Texte, die zwischen Lyrik und Prosa switchen, und Gedichte, die als zusammengehörige Strophen oder getrennte Gedichte gelesen werden könnten.

die Insekten kommen, wenn du das Netz verlässt
geht dir auf, Breiweib
schlamperst in Ockerfarbe herum
bis sich dein Rumpf (dank seiner Trichterräder) versehrt
ins Erdreich dreht
wo die Leiern warten, elysische Alm
wo der Jammer duftet
und die Laufschuhe tragen, was du verschleppst

kriech durch den Reif
Halme glasieren die Schenkel
Haarmousse schäumt aus dem Wasser, Hof
deiner Armut, entroste die Winde
dünne Katabase
öle deine Füße gut!
Und spuck auf die Fäuste, drück deine Galle
zum Netz hinaus




umrundet
all-round (alle zusammen, Bestiarium)

Wir finden einen Briefroman auf drei und einen Entwicklungsroman auf zwei Seiten,
daneben einen Reisebericht in Aphorismen.

„Hinterm Hantelklang. Hartgeld. Kurve, Bass vom Technoschiff.
Unterm Fenster Geschrei, Prügelei, Hantierungen schrottiger Putten.”


Zu meinen Favoriten gehören die mikrobenartigen Kurztexte, „Kameen”, die – wie in einen großen Passepartout mittig auf die Seite gesetzt – auf die Ränder übergreifen zu wollen scheinen:

die gegenwärtigen Hunde
im O – der Fibel, der Duft-
kladee, o.
Rufen sie lauthals
nach Freihälsen


Vom Brocke operiert im Niemandsland zwischen verschiedenen Sprachen und Arten des Sprechens ebenso, wie in dem zwischen Text und Bild. Immer wieder evozieren ihre Gedichte starke, präzise Bilder, um dann wieder in rein sprachliche Konstrukte umzuschlagen, die man liest, wie man ein Gemälde betrachtet. Im Zyklus „Gemäldegalerie” etwa führt sie uns Cranachs „Amor als Honigdieb”, Lippis „Erato”, Tizians „Venus mit dem Orgelspieler” und noch mehr Alte Meister vor Augen, dass man sogleich nach Berlin fahren möchte, um die Gemäldegalerie aufzusuchen; und doch drängen die Texte immer wieder aus dem Rahmen hinaus, oder aber ziehen andere Bilder in den Rahmen hinein, wie die Museumswärterin als Ausstellungsstück:

Eine Frau im hintersten Raum beugt sich zu ihrem Schuh hinab. Richtet sich
auf, der Rücken verlässt die Beugung. Rückt die Uniform zurecht und läuft
geräuschlos zum Fenster, die Hand vor dem Mund. Die Frau ist langsam.
Sie ist verlangsamt. Sie ist bildgeworden. Bild geboren. Ein Bild zu Fleisch
gespannt, animiert, aber faltig und müde. Ich schaue auf die Uhr, doch ich
weiß, noch bevor ich den Arm anhebe, dass es Zeit ist zu gehen.


Um die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Ja, vom Brocke vermischt da was. Und es ist diese Mischung – man möchte sie surrealistisch nennen – zu einem immer beglückenden Neuen, die den so verschiedenartigen und vielfältigen Texten des Bandes gemeinsam ist und sie zu einem Ganzen macht; eine Mischung, die schwer zu beschreiben ist. Statt unbeholfener Definitionen also lieber noch ein Beispiel aus „o in Sprechblasen”, ein Text, den man als Filmstill, Prosagedicht, Storyboard oder gleich als Drehbuch lesen kann:

Schwein

„Der Tag war ansonsten ergiebig”

Nur ein Schwein auf dem Hof beglückte das Kind, das sich selbst mit
Treckern durchquerte. Hackte es herum mit Geräten, es verfehlte sein Ziel.
Hockte es aber im Stroh, und hockte das Schwein in den Händen, war’s
wie ein Puzzle komplett. Wie ein Knobelwürfel gefügt.

Macht es das Rotlicht warm, Jahre später, erhält es die Sau darunter,
die Zitzen. Erhält es das schlaffe Ferkel im Mist (nicht Hauch. Rübendunst.
Vollgekübelte Tüten, vom Kind).

Das Schweinekind. Weint. Isst sein Schnitzel (Wiener Art).



Sonja vom Brocke: Venice singt. Gedichte. Berlin (kookbooks) 2015. 96 Seiten. 19,90 Euro.

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